37
Beatrice betastete die Diamanten, die sie sich von Vivienne ausgeliehen hatte. Die Kette blitzte und blinkte an ihrem Hals, während sie im Ballsaal stand und mit den anderen Gästen plauderte. Vivienne unterhielt sich mit einem französischen Politiker, und Beatrice hatte gerade einem von Viviennes Nachbarn zugewinkt, als Alexandre auftauchte und auf sie zusteuerte. Er sah geradezu unverschämt gut aus, dachte sie, obwohl sich an seinem Hemd ein Knopf gelockert hatte und er seine Krawatte nachlässig gebunden hatte. Seine Hände hatte er zwar eifrig geschrubbt, doch man sah immer noch die Farbflecken. Sogar in seinen Haaren saßen Farbspritzer. Er sah glücklich aus.
«Wo warst du denn die letzten Tage?», wollte Beatrice wissen, als er ihr die Hand küsste. «Ich habe dich kaum gesehen.»
Alexandres schwarze Augen funkelten frech, und sie wünschte sich von ganzem Herzen, sie könnte sich in diesen lebensfrohen Prinzen verlieben.
«Ich habe gemalt», antwortete er und ließ den Blick über sie schweifen. «Noch so ein phantastisches Kleid, chérie?», fragte er lachend.
Seine Stimme klang mehr als anerkennend, und sein Lächeln wirkte echt, doch Beatrice entging nicht, dass sein Blick ein wenig flackerte. Er war höflich und aufmerksam wie immer, doch schien er irgendwie zerstreut – als wäre er mit den Gedanken woanders –, und Beatrice runzelte die Stirn. Sie merkte, dass sie sich sehr an Alexandres schmeichelhafte Aufmerksamkeit gewöhnt hatte.
«Da kommt Lady Tremaine», rief er plötzlich aus und starrte Lily an, die an Seths Arm den Raum betreten hatte. «Entschuldige mich», sagte er und ging dem Paar rasch entgegen. Verblüfft beobachtete Beatrice, wie er sich tief vor Lily verbeugte, die ihm wiederum ein strahlendes Lächeln schenkte. Dann deutete Alexandre mit einem Kopfnicken zu Beatrice, und Seth und Lily drehten sich zu ihr. Ohne von Seths schroffer Miene Notiz zu nehmen, ergriff der Prinz Lilys Hand.
Die Amerikanerin ließ sich zur Tanzfläche führen, und Beatrice musste widerwillig feststellen, dass Lady Tremaine mit ihren blonden Rauschgoldlocken heute Abend außergewöhnlich süß aussah, wie sie sich an Alexandres Arm festklammerte.
Seth blieb allein zurück und musterte Beatrice mit unergründlicher Miene. Vivienne, die das Schauspiel verfolgt hatte, beugte sich zu Beatrice.
«Ob er dich jetzt wohl auffordert, nachdem ihm Alexandre Lady Tremaine vor der Nase wegstibitzt hat?», flüsterte sie.
«Ich glaube, Seth würde sich lieber die Hand abhacken, als mich um einen Tanz zu bitten», antwortete Beatrice aufrichtig. Sie sah Seth an und wusste selbst nicht recht, was sie empfand. Wollte sie überhaupt mit ihm tanzen? Nach dem gestrigen Streit in seinem Zimmer war er ihr aus dem Weg gegangen. Zerstreut strich sie sich über die Hüfte. Mademoiselle Colette legte Wert darauf, die weiblichen Formen deutlich zu betonen, und überdies war das bronzefarbene Kleid so tief ausgeschnitten, dass Beatrice bei der ersten Anprobe rot geworden war. Es war aus dem zartesten Seidenstoff und nur mit hauchdünnen Chiffonärmeln versehen, die die Schultern gerade eben streiften. Ihr Haar hatte sich Beatrice von ihrer Zofe hoch aufstecken lassen, um Viviennes Diamantkette besser zur Geltung zu bringen. Während sie sich frische Luft zufächelte, spürte sie, wie sich ihr im Nacken und auf den Armen die Härchen aufstellten. Obwohl das Gewitter noch weit weg war, war die Luft fast elektrisch. Alles war aufgeladen.
Beatrice sah Seth an, der immer noch dort stand, wo man ihn stehen gelassen hatte. Sie legte den Kopf schräg und blickte ihn herausfordernd an.
Du lieber Gott, ihr Kleid wird aber auch nur von ein bisschen gutem Willen gehalten, dachte Seth. Und beim Anblick ihrer Hochsteckfrisur überkam ihn die Lust, die Haarnadeln eine nach der anderen herauszuziehen, um ihr dann mit den Fingern durch die weichen Locken zu fahren und sie so zu küssen, dass sie den Verstand verlor. Wie damals in Göteborg. Sie sieht so selbstsicher aus, wie sie da steht und mich herausfordernd anschaut, dachte er. Wahrscheinlich glaubte sie, dass er sie auf keinen Fall auffordern würde, und genau das hatte er sich auch vorgenommen, bis sein Blick an ihren mitternachtsblauen Augen hängen blieb. Er hatte doch keine Angst vor Beatrice und ihrer Ausstrahlung, redete er sich ein. Er war Herr seiner selbst und ging Herausforderungen nicht aus dem Weg. Im Gegenteil, er nahm sie an. Es wäre natürlich klüger, darauf zu verzichten, dachte er, sich auf dem Absatz umzudrehen und sie stehen zu lassen, doch er wollte sie noch einmal im Arm halten, und ein Tanz bot ihm den besten Vorwand dafür. Mit wenigen Schritten durchquerte er den Raum und sah, wie sich ihre Augen weiteten. Damit hatte sie tatsächlich nicht gerechnet.
«Madame, darf ich bitten?» Er streckte die Hand aus. Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie, und zum ersten Mal seit seiner Ankunft auf Château Morgaine lächelte Seth.
Beatrice warf den Kopf in den Nacken, und die Diamanten an ihrem Hals glitzerten. Dann legte sie ihre Hand in seine, und seine Finger schlossen sich um die ihren. Sie hielt seinen Blick unverwandt fest, und Seth sah, dass auch sie diese Spannung zwischen ihnen spürte. Er zog sie an sich, und widerstandslos sank sie in seine Arme. Ihr Kleid raschelte leise. Langsam legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. Seth schmiegte seinen Arm um ihre Taille, und plötzlich sah er die Sorge in ihren großen Augen. Er zog sie noch fester an sich.
«Sie haben doch wohl keine Angst vor mir, Madame?», flüsterte er herausfordernd.
Er spürte, wie sie sich versteifte, und die Erinnerungen brachen über ihn herein wie eine Flutwelle. Auch sie konnte niemals einer Herausforderung widerstehen, seine Beatrice. Abgesehen davon, dass sie nicht die Seine war und es auch niemals sein würde. Außer für eine kurze Zeit in Göteborg. Sein Griff wurde fester.
Als die Musik begann, schien sie sich wieder gefangen zu haben. Ruhig und gesammelt glitt sie mit ihm über die Tanzfläche. Es war ein Walzer – genauso wie ihr erster Tanz in Stockholm. Aus dem Augenwinkel sah er Alexandre und Lily, doch er konnte nicht das geringste Interesse für die beiden aufbringen. Nicht, während er Beatrice im Arm hielt. Er wusste, dass sie beobachtet wurden, von Vivienne und Jacques, von Lily und Alexandre, doch es war ihm gleichgültig. In diesem Moment gab es nur ihn und Beatrice. Sie hatte zugenommen und war nicht mehr so dünn wie in Göteborg, als sie sich in seinem Zimmer geliebt hatten. Die neuen Kurven stehen ihr, dachte er. Diese neue Beatrice war großartig. Er betrachtete die goldenen Sommersprossen, die ihn immer noch jede Nacht heimsuchten. Lily hatte eine makellose Haut und vollendete Gesichtszüge, doch Beatrice war lebhaft, rothaarig, sommersprossig und unberechenbar.
Sie war perfekt.
Und sie hatte sich gegen ihn entschieden.
Die Musik verstummte, und Beatrice fragte sich, was nun wohl geschehen würde. Doch Seth eskortierte sie bloß wortlos zurück an ihren Platz. Sie hatten keine Silbe miteinander gesprochen. Trotz allem, was zwischen ihnen in der Luft lag, hatten sie schweigend getanzt und mit keinem Wort die Vergangenheit erwähnt. Seth verließ sie mit einem kurzen Nicken, und den Rest des Abends hielt er sich von ihr fern.
Es quälte Beatrice, wie offensichtlich er ihre Blicke und ihre Gesellschaft mied. Sie war völlig überwältigt. Vorhin war er gewesen wie früher, war er so sehr Seth gewesen, dass es wehtat, und sie glaubte auch, etwas in seinen Augen gesehen zu haben. Doch jetzt war er nur noch ein kühler, distanzierter Fremder, Lily an seinem Arm. Wie machte er das? Sie hätte am liebsten geweint und geschrien und mit dem Fuß aufgestampft, so ungerecht fand sie das. Trotzig hob sie das Kinn und reckte sich zu ihrer vollen Größe. Sie war keine naive Unschuld mehr. Sie war zivilisiert, und zivilisierte Menschen brachen nicht zusammen. Sie lächelten und betrieben Konversation, auch wenn ihnen immer und immer wieder das Herz brach.
Am Abend stand Seth an seinem offenen Fenster und rauchte, während er in der Ferne die Blitze über der Küste aufleuchten sah. Obwohl das Gewitter bis jetzt hartnäckig über dem Meer hing, wurde die Luft um Château Morgaine immer schwerer. Insekten und Vögel flogen unruhig durch die aufgeladene Atmosphäre, und die Tiere auf dem Schloss waren nervös.
Sein Diener hatte sich schon lange zur Nachtruhe zurückgezogen, und Seth wusste, dass er ebenfalls zu Bett gehen sollte. Doch er bezweifelte, dass er bei dieser Schwüle überhaupt würde einschlafen können. Schließlich löschte er seine Zigarre trotzdem und legte sich aufs Bett. Er konnte seine Gedanken nicht mehr im Zaum halten, er war zu müde, und es war zu warm. Irgendwo im Schloss lag auch Beatrice in einem Bett. Ein Glück, dass er nicht wusste, wo ihr Zimmer war, sonst würde er vielleicht etwas richtig Dummes anstellen. Zum Beispiel zu ihr gehen und sie anflehen, dass sie … Dass sie was? Dass sie sich seiner erbarmen und ihm erlauben sollte, ihren wunderbaren Körper ein klein wenig zu lieben? Dass sie ihm gestattete, ihr die bronzefarbene Seide Schicht für Schicht auszuziehen, bis ihre cremeweiße Haut ganz entblößt wäre und er jeden Zentimeter an ihr verehren könnte? Aber vielleicht gestattete sie genau das ja gerade Alexandre? Gequält schloss er die Augen. Es war nicht unmöglich, dass die beiden irgendwo in diesem Schloss schwitzend und keuchend in einem Bett beisammen waren.
Beatrice lag auf dem Bett in ihrem schwülen Schlafzimmer. Das Fenster stand offen, doch es war viel zu warm, und irgendwann gab sie ihre Einschlafversuche einfach auf. Sie zog ihren Morgenmantel an, band den Gürtel fest und verließ ihr Zimmer. Sie wollte in die Bibliothek hinuntergehen und sich ein Buch holen.
Sie begegnete keiner Menschenseele, während sie durch die dunklen Flure zur Bibliothek schlich. Die Tür war nur angelehnt, und sie schlüpfte hinein. Aufs Geratewohl griff sie sich im Dunkeln ein Buch. Es ist schwer und bestimmt recht trist, dachte sie zufrieden und wandte sich zum Gehen. Auf dem Rückweg zu ihrem Zimmer zögerte sie. Natürlich hätte sie denselben Weg zurückgehen müssen, den schnellsten Weg, den vernünftigsten Weg, aber dann verlangsamte sie ihre Schritte und blieb schließlich ganz stehen.
Sie wusste, welche die Tür von Seth war. Langsam ging sie daran vorbei, und plötzlich hörte sie ein Geräusch aus seinem Zimmer. Unschlüssig sah sie sich um. Als sie sich gerade eingeredet hatte, dass es nur eine Einbildung gewesen sei, hörte sie es wieder: ein langgezogenes Stöhnen, ein gequälter Laut. Unschlüssig blieb sie stehen. Wenn ihm nun etwas passiert war? Sie sah sich im dunklen Korridor um und überlegte, ob sie jemand rufen sollte. Der nächste gequälte Schrei aus seinem Zimmer ging ihr durch Mark und Bein, und sie hob die Hand, um vorsichtig anzuklopfen. Stille. Doch als sie erneut ein Stöhnen vernahm, drückte sie vorsichtig die Klinke herunter, und tatsächlich war die Tür unverschlossen. Ohne lange nachzudenken, schlüpfte sie in sein Zimmer. Sie hielt den Atem an und blinzelte ins Dunkel, wobei ihr völlig klar war, dass es einfach nur dumm war, was sie hier tat. Die Tür zu seinem Schlafzimmer stand offen – noch konnte sie sich umdrehen und gehen. Sie blieb stehen.
«Nein», hörte sie seine heisere Stimme aus dem Schlafzimmer. Sie machte noch einen Schritt, trat vorsichtig über die Schwelle und spähte hinein.
Seth lag ganz still in seinem Bett, und Beatrice stellte verlegen fest, dass er schlief. O Gott, wie dumm sie sich vorkam. Er hatte nur im Schlaf geredet. Langsam wich sie wieder zurück.
«Nein, geh nicht», flüsterte Seth mit derselben gequälten Stimme, die sie vorhin gehört hatte.
Beatrice schauderte. Doch dann war es wieder still, und schließlich spähte sie doch noch einmal zu seinem Bett. Er schlief immer noch. Sehnsüchtig warf sie einen letzten Blick auf ihn. Seth schlief mit nacktem Oberkörper, und seine dunkle Haut hob sich von der weißen Bettwäsche ab. Ein Laken hatte sich um sein Bein gewickelt. Gerade schlug sie die Augen nieder und wandte sich zum Gehen, als er plötzlich einen lauten Schrei ausstieß. Erschrocken fuhr sie zusammen. Sie drehte sich um und entdeckte, dass er sich im Bett aufgesetzt hatte. Er atmete schwer und starrte ins Leere, und sie überlegte, ob er wohl immer noch schlief. Sie hatte ihn stets als unverletzlich betrachtet, doch jetzt sah er völlig verschreckt aus.
«Seth?», flüsterte sie.
Er ließ sich auf sein Kissen zurückfallen. «Nein, hör auf», rief er heiser.
Inzwischen hatte sie selbst schreckliche Angst, doch sie konnte ihn doch nicht einfach so allein lassen. Mit stockendem Atem ging sie zu ihm und setzte sich auf die Bettkante. «Wach auf, es ist nur ein Traum», sagte sie sanft. Er schlug die Augen auf und starrte sie an. «Seth?»
«Bitte, tu das nicht», wimmerte er.
«Keine Sorge», flüsterte sie, «du träumst nur, es ist alles in Ordnung.»
Sie nahm seine große warme Hand, und Seth drückte die ihre so fest, dass es fast schon wehtat. Mit schmerzendem Herzen blieb sie bei ihm sitzen und genoss das Gefühl, von Seth gebraucht zu werden. Auch wenn es nur im Schlaf war.
Nach einer Weile erwachte Seth. Er schlug die Augen auf und sah jemand an seinem Bett sitzen. «Beatrice?», fragte er verwirrt.
Sie lächelte, und er bemerkte, dass sie seine Hand hielt. «Du hattest einen Albtraum. Ich konnte dich nicht allein lassen», sagte sie sanft.
«Wie bist du hier reingekommen?», fragte er heiser. «Du solltest nicht hier sein.» Wie oft hatte er nicht schon geträumt, sie wäre bei ihm?
«Nein, das sollte ich wohl wirklich nicht.» Sie zog ihre Hand zurück.
«Ich habe geträumt», sagte er. «Meine üblichen Träume.»
«Wovon handeln deine Träume?»
«Vom Krieg», antwortete er müde. «Immer vom Krieg. Und von denen, die starben. Von allen, denen ich nicht helfen konnte.» Er rieb sich die Augen. «Ich habe so schreckliche Sachen gesehen, Beatrice, Sachen, die niemals hätten passieren dürfen. Aber ich habe schon lange keinen so schlimmen Traum mehr gehabt. Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe.»
Er sah in ihr blasses, ernstes Gesicht, und da dämmerte es ihm. «Du hast auch solche Träume», sagte er. «Deswegen hast du es gleich verstanden.»
«Ja.»
«Wovon handeln deine Träume?», fragte er. Doch er wusste es im nächsten Moment selbst. «Von ihm?»
«Mittlerweile sind sie fast verschwunden», erwiderte sie leise. «Es hat geholfen, mit Vivienne darüber zu sprechen. Jetzt träume ich nur noch selten davon.»
Beim Klang ihrer tonlosen Stimme schauderte Seth. «Beatrice, was ist eigentlich passiert, als ich fort war?», fragte er vorsichtig.
Sie schwieg so lange, dass er schon dachte, sie wollte ihm gar nicht antworten. «Sie haben mich gezwungen», sagte sie schließlich. Sie wich seinem Blick immer noch aus, doch Seth sah, wie sich ihre Brust unter dem dünnen Stoff immer schneller hob und senkte. Er widerstand dem Impuls, ihre kleine Hand zu ergreifen und sie zu trösten, denn er hatte Angst, sie könnte die Geste missverstehen.
Schließlich fuhr Beatrice leise fort: «Onkel Wilhelm hätte Sofia mit Rosenschöld verheiratet, wenn ich nicht gehorcht hätte. Rosenschöld hatte im Gegenzug versprochen, Edvard den Weg in die feine Gesellschaft zu ebnen. Ich sei es ihnen schuldig, meinte Onkel Wilhelm, weil sie sich nach Papas Tod meiner angenommen hatten. Ich hatte keine andere Wahl.»
Seth starrte sie an. Er wusste nicht recht, ob er sich verhört hatte. Gezwungen?
«Warum hast du mir denn nichts gesagt? Ich hätte etwas unternehmen können.» Langsam ging ihm die Tragweite dessen auf, was sie ihm da erzählte. «O Gott», flüsterte er.
«Ich wollte es dir in Göteborg erzählen, nachdem wir zusammen gewesen waren.» Sie errötete leicht. «Aber dann bist du weggefahren.»
Zum ersten Mal brach ihre Stimme, und er spürte, wie sich ein schrecklicher Schmerz in seinem Körper ausbreitete.
«Du wolltest einen Wagen schicken», fuhr sie leise fort. «Ich wollte dir so gern alles erzählen. Aber es kam kein Wagen. Und auch kein Brief. Dann erfuhr ich zufällig, dass du Lily nach England begleiten wolltest.» Sie lächelte schuldbewusst. «Ich habe heimlich einen deiner Briefe an Johan gelesen, und ich glaube, in dem Moment habe ich einfach aufgegeben. Wilhelm setzte mir zu und drohte mir, und ich erklärte mich mit der Hochzeit einverstanden, sobald Sofia genesen wäre. Ich war so feige. Er drohte mir, mich auf die Straße zu setzen und mich vor allen Leuten bloßzustellen. Ich weiß nicht, ob er es getan hätte. Doch die Situation wäre so oder so unerträglich geworden. Außerdem musste ich es für Sofia tun. Sie war so krank. Und als ich dann erfuhr, dass Lily und du …» Beatrice verstummte.
«Was ist dann passiert?», fragte er leise.
Sie blickte auf ihren Schoß und zupfte an einem losen Faden an ihrem Morgenmantel. «Er hat mich geschlagen, als er entdeckte, dass ich nicht mehr unschuldig war», sagte sie.
«Hat er dich vergewaltigt?»
«Viv behauptet, es war eine Vergewaltigung, auch wenn wir verheiratet waren. Ja, er hat mich vergewaltigt, und dann hat er mich wieder geschlagen. Und mir die Haare abgeschnitten.» Traurig zog sie an einer ihrer widerspenstigen Locken. «Ich glaube, er wollte mich totschlagen, aber es ist ihm nicht gelungen.» Sie zuckte mit den Schultern. «Das ist lange her. Passenderweise ist er dann in einem Bordell gestorben.» Ruhig sah sie ihn an und begegnete seinem schockierten Blick. Dann nickte sie langsam.
«Deswegen wusste ich, dass du Albträume hast. Ich hatte monatelang auch immer so schreckliche Träume. Aber inzwischen ist es besser geworden. Viel besser sogar.»
Rosenschöld hatte Beatrice also geschlagen, dachte Seth. Er hatte sie misshandelt und geschändet. Weil sie nicht mehr unschuldig gewesen war. Weil sie ihre Unschuld einem anderen Mann geschenkt hatte – nämlich ihm. Er war der Grund dafür, dass Beatrice so brutal behandelt worden war. In einer Ehe, zu der sie von dem Mann gezwungen worden war, der sie eigentlich hätte beschützen müssen. Und Seth selbst hatte sie verlassen, war nach Amerika gefahren und hatte sein gekränktes Ego gehätschelt.
Was hatte er angerichtet? Welche Gräuel hatte sie wegen ihm durchlitten! Sie wirkte völlig ruhig, doch ihre Hände bewegten sich nervös, und Seth nahm sich zusammen, um seine Selbstverachtung beiseitezuschieben. Er wollte sie jetzt nicht auch noch mit seinen eigenen Gefühlen belasten. Aber da waren doch gewisse Dinge, die er wissen musste.
«Du sagst, dass du meine Briefe nicht bekommen hast. Und dass der Wagen nicht gekommen ist. Aber ich habe dir geschrieben. Und ich habe einen Wagen geschickt, ich schwöre es. Das musst du mir glauben», sagte er.
«Ich will dir ja gerne glauben, aber ich würde in diesen Dingen niemals lügen», erwiderte sie.
Er überlegte und fügte die verschiedenen Puzzleteilchen zusammen, bis sie ein unschönes, aber sehr einleuchtendes Muster ergaben. «Edvard war die ganze Zeit in Göteborg, nicht wahr?», fragte er.
«Ja», bestätigte Beatrice.
«Er hasst mich», sagte Seth langsam. «Und er ist ein richtig schlimmer Mensch.»
«Edvard?» Beatrice runzelte die Stirn, doch Seth sah ihr an, dass sie im Grunde nicht überrascht war.
«Er muss meine Briefe unterschlagen haben», fuhr er fort. «Ich habe dir geschrieben, und es verging kein Tag, an dem ich nicht an dich gedacht hätte.»
«Edvard hat sich in Göteborg wirklich immer merkwürdiger verhalten», meinte Beatrice nachdenklich. «Und aus Stockholm drangen ganz seltsame Gerüchte zu uns.» Sie betrachtete Seth ernst. «Er hat schlecht über dich geredet, weißt du? Er sagte, du wärst dafür bekannt, Frauen zu zerstören.» Sie zuckte mit den Schultern. «Und da ich nichts mehr von dir hörte, dachte ich, dass Edvard recht hätte und es dumm von mir wäre, etwas anderes zu glauben. Er fuhr mit uns nach Stockholm, als die Hochzeit stattfinden sollte. Doch dann verschwand er, wohin, weiß ich auch nicht. Man munkelte etwas von einem Prozess, er soll einem jungen Mädchen etwas angetan haben, aber ich brachte es nie fertig, mir diesen ganzen Klatsch anzuhören, ich hatte genug mit mir selbst zu tun.» Sie sah ihn wieder an. «Und Doktor Eberhardt?», fragte sie nun. «Edvard behauptete, er hätte ihn nach Göteborg geholt, aber das war dein Werk, nicht wahr?»
Seth nickte. «Ja, ich habe ihn holen lassen.»
«Das hätte ich mir gleich denken können. So etwas sieht dir so ähnlich.»
«Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen», sagte Seth. «Ich wäre auch beinahe geblieben. Aber ich nahm an, du hättest unseren gemeinsamen Nachmittag bereut, was wir gemacht hatten, und ich wollte dir einfach Zeit geben. Wie dumm ich war! Ich habe mit dem Kutscher noch eine Nachricht an dich geschickt, dass ich bald wieder heimkommen würde. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass du diesen Brief gar nicht bekommst.»
«Aber jetzt bist du mit Lily verlobt.»
«Ja.»
Sie verfielen in Schweigen. Seth nahm ihre Hand und hielt sie zärtlich. Spürte ihre weiche Haut an seinen rauen Händen. «Ich sehe ein, dass ich viele völlig unverzeihliche Fehler begangen habe. Und die Schuld muss ich ganz allein mir zuschreiben. Aber lass es mich trotzdem erklären», sagte er und streichelte ihre Handfläche. «Lilys Vater war sehr krank, und ich habe ihm versprochen, mich um Lily und Daniel zu kümmern. Da er sich solche Sorgen machte, wollte ich ihn beruhigen. Da starben Lilys Eltern plötzlich beide innerhalb weniger Wochen, und die Situation war völlig chaotisch. Ich habe Lily nach England begleitet, um ihr zu helfen. Sie war am Boden zerstört, und ich dachte, nun kann ich genauso gut den Wunsch eines sterbenden Mannes erfüllen. Weißt du, dass Lily meine Jugendliebe war?»
«Johan hat es erwähnt.»
«Ich habe die ganze Zeit über geglaubt, die Hochzeit mit dem Grafen sei deine freie Entscheidung gewesen. Und dass du mich für eine nicht so gute Partie gehalten hättest. Ich habe dich verraten. Dabei hätte ich dich doch verstehen müssen, vor allem, nachdem ich gesehen hatte, wie Wilhelm dich in Göteborg behandelt hat. An dem Tag dachte ich, ich müsste ihn umbringen. Wenn ich geahnt hätte, was er dir antat, hätte ich es getan. Ich hätte so ziemlich alles für dich getan.» Er sah auf ihre ineinander verschränkten Hände. Beatrices Hand lag ganz ruhig in seiner. Er schluckte. «Wissen Sofia und Johan eigentlich Bescheid?»
«Nur Vivienne weiß Bescheid. Und Herr und Frau Hielm, sie haben mir geholfen. Hinterher.» Sie lächelte schwach. «Trotzdem, ich hatte Glück. Ich meine, dass ich es überlebt habe. Er war vorher schon zweimal verheiratet. Beide Frauen sind gestorben. Ich glaube, die eine hat er erschlagen. Die andere ist ins Wasser gegangen.» Beatrices Augen füllten sich mit Tränen. «Die armen Frauen.»
Seth versuchte zu verbergen, welch vernichtende Wirkung ihre Worte auf ihn hatten. Wenn Rosenschöld in diesem Moment vor ihm gestanden hätte, er hätte ihm nur zu gern jeden Knochen in seinem widerlichen Leib gebrochen. Und der Tod war noch eine viel zu harmlose Strafe für diesen Mann. Gott sei gedankt für Vivienne.
Er wagte sich kaum auszumalen, wie es Beatrice ohne die Unterstützung der Französin ergangen wäre, verlassen von allen, die sie hätten beschützen sollen. Ihr eigener Onkel hatte sie verkauft. Edvard hatte sie verraten. Und er selbst hatte ihr ihre Unschuld genommen, war abgereist und hatte Rosenschöld ein Opferlamm hinterlassen, während er sich in New York im Selbstmitleid suhlte. Wo er überhaupt keine Not zu leiden hatte, war sie um Haaresbreite dem Tod entronnen.
«Wenn du mich hasst, habe ich volles Verständnis dafür», sagte er. «Ich werde dich nicht mit meinen Schuldgefühlen und meiner Reue belasten, aber erlaube mir wenigstens, dich um Verzeihung zu bitten.»
«Es tut mir nicht leid, dass wir zusammen waren», entgegnete Beatrice. «Wenn ich jenen Nachmittag nicht gehabt hätte, hätte ich nie gewusst, wie wundervoll es sein kann, und dann wäre alles nur noch schlimmer gewesen. Und ich habe es schließlich selbst gewollt, nimm mir das nicht weg, indem du jetzt ein schlechtes Gewissen deswegen hast.»
Beatrice müsste ihn eigentlich hassen, dachte er, und doch saß sie hier an seinem Bett, sie hielten einander die Hand und redeten. Sie war hereingekommen, weil sie sich Sorgen um ihn gemacht hatte. Vielleicht hasste sie ihn ja doch nicht? Seth drückte ihre Hand. Sie zwinkerte und unterdrückte ein Gähnen. Das Gespräch schien ihr jede Energie geraubt zu haben, und sie sah jetzt schrecklich müde aus. Draußen war Wind aufgekommen, und endlich strömte kühle Luft herein. Das Wetter würde demnächst umschlagen.
«Wie spät ist es eigentlich?», fragte er.
«Ich friere. Und ich sollte jetzt wirklich gehen», sagte sie müde.
Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass sie nur ihren Morgenmantel umhatte. Er war ein wenig verrutscht, und Seth sah, dass sie darunter nur ein dünnes Nachtkleid trug. Als sie ins Zimmer geschlüpft war, war es warm und stickig gewesen, doch nun fiel die Temperatur schlagartig. Gereizt versuchte Seth, seine unmittelbare Reaktion auf ihren leichtbekleideten Körper zu unterdrücken. Das war nicht der richtige Moment, und er hatte ohnehin schon genug Schaden angerichtet. «Ich ziehe mir etwas über, dann begleite ich dich zurück», bot er an.
«Aber wenn uns jemand sieht», protestierte sie.
«Lass mich zumindest dafür sorgen, dass du sicher in dein Zimmer kommst.»
Er brauchte ein Weilchen, bis er im dunklen Ankleidezimmer seine Sachen zusammengesucht hatte. Dann zog er sich Hemd und Hose über, schlüpfte in seine Schuhe und eilte zurück ins Schlafzimmer, verärgert darüber, dass er dennoch so lange gebraucht hatte.
Beatrice hatte es sich inzwischen bequem gemacht. Sie hatte den Kopf auf das Kissen gelegt, die Füße unter die Bettdecke geschoben und war eingeschlafen.
Er blieb stehen. Eigentlich sollte er dafür sorgen, dass sie in ihr Zimmer zurückkam. Doch er brachte es nicht über sich, sie zu wecken. Er wollte sie nicht aus den Augen lassen, nicht heute Nacht, nicht nach dem, was sie ihm alles erzählt hatte. Nun konnte er zumindest dafür sorgen, dass sie eine Nacht lang sicher und geborgen war. Behutsam deckte er sie zu und hörte sie zufrieden murmeln, während sie ihre Wange ans Kissen schmiegte. Seth trat ans Fenster. Der Wind nahm stetig zu, und die Gardinen begannen zu flattern. Tief atmete er die frische Luft ein.
Er fragte sich, was er unternehmen sollte. Aber eigentlich kannte er die Antwort bereits. Er musste mit Lily sprechen. Das bedeutete, dass er das Versprechen brechen musste, das er ihr und ihrem Vater gegeben hatte, einem Mann, vor dem er großen Respekt gehabt hatte. Doch er konnte diese Beziehung nicht fortsetzen. Lily verdiente einen Mann, der sie liebte, und Seth wusste schon seit Langem, dass er es nicht tat. Sie war eine liebe Freundin, und er hatte ihren Sohn ins Herz geschlossen, doch sie konnten nicht heiraten. Gleich morgen würde er sie um die Auflösung der Verlobung bitten. Auf dieses Gespräch freute er sich wahrlich nicht, aber er wusste, dass es unumgänglich war.
Seth seufzte tief. Damit war aber erst die Hälfte des Problems gelöst. Denn Beatrice hatte ja immer noch Alexandre, den Mann, der für sie in den letzten Monaten da gewesen war und sie in der schweren Zeit gestützt hatte. Und vielleicht war das ja auch gut so? Wie sollte sie noch etwas mit ihm zu tun haben wollen nach all dem ganzen Kummer, den er ihr bereitet hatte?