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Beatrice lief rasch durch einen schmalen Korridor. Sie blickte geradeaus, bog um eine Ecke, um eine weitere Ecke, und als sie eine Tür entdeckte, die nur angelehnt war, trat sie leise ein und sah sich um. Der Raum war leer bis auf wenige Bilder. Sie überlegte, ob sie …
«Sie sollten nicht alleine hier herumlaufen», sagte eine Stimme hinter ihr. Beatrice zuckte zusammen und drehte sich um. Unsicher sah sie rasch nach allen Seiten. Vom Flur her hörte man zwar Stimmen, doch hier war niemand. Bis auf sie und den Mann, mit dem sie vorhin zusammengestoßen war und der jetzt am Türrahmen lehnte. Beatrice öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, überlegte es sich dann aber anders. Es gab nichts zu sagen – er hatte recht, sie sollte hier nicht alleine sein. Schließlich war sie eine junge Frau, und ihr Ruf hing von ihrem Benehmen ab. Es war ihr schon immer wahnsinnig ungerecht vorgekommen, dass Edvard stundenlang fortbleiben konnte, manchmal nächtelang, ohne dass sich jemand um seinen Ruf sorgte, während Sofia und sie nirgends ohne Begleitung hingehen konnten, ohne eine Anstandsdame oder einen Verwandten.
«Es gibt einen Raum mit noch mehr Bildern», sagte er und sah sie mit glänzenden Augen an. «Würden Sie den gerne sehen?»
Beatrices Instinkt schlug sofort Alarm. Sie wusste, dass sie so ein Anerbieten ablehnen musste, dass sie zu ihrer Familie zurückkehren musste und nicht mit fremden Männern sprechen durfte. Dennoch konnte sie sich die Frage nicht verkneifen: «Wo denn?»
Er stieß sich vom Türrahmen ab. «Kommen Sie.»
Sie folgte ihm schweigend und mit gesenktem Kopf. Ihr Herz klopfte wie wild. Was sie hier tat, war etwas ganz anderes, als heimlich einen verbotenen Roman zu lesen oder sich bei Sonnenschein nach draußen zu schleichen, statt schön brav im Haus zu sitzen und zu sticken. Was sie hier tat, war einfach töricht.
Sie gelangten zu einem der Korridore, die zu den Künstlerlogen führten. Die ganze Zeit wagte sie nicht, ihn anzusehen. Er drückte die Klinke und öffnete eine Tür. Stimmengewirr und gedämpftes Gelächter schlug ihnen entgegen.
«Wo sind wir hier?», flüsterte sie. Das Blut rauschte ihr derart in den Ohren, dass sie die eigene Stimme kaum hörte.
«Im Künstlerfoyer. Seien Sie still, sonst werden wir gleich wieder rausgeworfen.»
Es handelte sich um einen verhältnismäßig schlichten Raum, groß, mit Fenstern, die auf den Strömmen hinausgingen, Holzboden und hellgrauen Wänden – und er war voller Menschen. Der Sänger, der die Hauptrolle in der Oper spielte, unterhielt sich gerade mit dem Dirigenten und trank ein Bier. Ein Schauspieler – einer der äthiopischen Sklaven – lümmelte rauchend auf einem roten Sofa. Und unter dem Kristalllüster kabbelten sich zwei Orchestermusiker. Um die beiden Eindringlinge kümmerte sich keiner.
«Haben Sie Angst?», flüsterte der Mann. Beatrice schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Angst, sie war vor Schreck wie gelähmt. «Folgen Sie mir», forderte er sie auf und trat ein. Beatrice zögerte kurz, doch dann sah sie die Bilder. Dort – in einem mächtigen Goldrahmen – hing Jenny Lind, die weltberühmte Sopranistin. Und dort, ein Kupferstich von Gustav III. Und dahinter, die Wand entlang, hingen noch mehr Porträts und waren Skulpturen aufgereiht.
Während Beatrice den Blick über die Gemälde wandern ließ, war sie sich der Gegenwart ihres Begleiters überaus bewusst. Sie studierte ein Porträt, blinzelte zum Deckengemälde empor, bis ihr Blick an einem weiteren Bild im Goldrahmen hängen blieb. Unterdessen spürte sie seine Augen im Rücken. Er stand hinter ihr und sah sie an. Sie drehte sich um. «Was ist?», fragte sie.
Doch er schüttelte nur den Kopf und verzog den Mund. «Nichts.» Dann zeigte er auf ein farbenfrohes Bild. «Gefällt Ihnen das?»
Beatrice rümpfte die Nase. «Finden Sie das nicht ein wenig zu prätentiös?», meinte sie.
Einer seiner Mundwinkel zuckte amüsiert. «Wie sollte ich das wissen?», gab er zurück. «Ich weiß ja nicht mal, was das bedeutet.»
Sie lachte auf. «Verzeihen Sie, aber …» Da signalisierte eine Glocke das Ende der Pause, und Beatrice schlug sich die Hand vor den Mund. Sie war viel zu lange weggeblieben.
«Wir müssen gehen», sagte er. «Kommen Sie, ich führe Sie zurück.»
Schweigend liefen sie durch den Korridor. Vor der Tür zum großen Foyer blieben sie stehen. Sie sah den Mann fragend an und überlegte, was sie jetzt sagen sollte. Sie war ein großes Risiko eingegangen, als sie ihm gefolgt war. Jetzt fühlte sie sich verletzlich, als ob er etwas über sie wüsste, was sie einem Fremden lieber nicht verraten hätte.
Doch der Mann lächelte nur wieder sein schwer zu deutendes Lächeln. «Adieu», sagte er.
Einen Moment schien es, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber schließlich verbeugte er sich einfach nur und verließ den Raum.
Seth überredete Charlotta, die Oper vor Beginn des letzten Aktes zu verlassen. Wie Aida ausging, wusste er bereits, und er hatte keine Lust auf Tragödien, zumindest nicht heute. Also verließen sie ihre Plätze und fuhren zu ihr.
Mit nichts anderem am Leib als ihrem schweren Parfum empfing Charlotta ihn in ihrem Bett. Und hinterher schlief sie so rasch ein wie immer, doch Seth lag noch wach. Nicht einmal ihr Schäferstündchen hatte seine Rastlosigkeit mildern können. Zerstreut streichelte er ihr das glänzende blonde Haar und ertappte sich bei dem Gedanken, wie es aussehen würde, wenn es feuerrot wäre.
Charlotta murmelte irgendetwas im Schlaf.
Schließlich stand er auf und ging durch die Wohnung. Charlotta hatte sie möbliert gemietet, und am anderen Ende des Hauses gab es eine kleine vernachlässigte Bibliothek. Mit einer Petroleumlampe in der Hand suchte er die Regale ab, bis er ein Wörterbuch fand und darin das Wort nachschlug.
Dann klappte er das Lexikon wieder zu, ging zurück ins Schlafzimmer und zog sich an. Pfeifend bummelte er das kurze Stück zum Blasieholmstorg und zu seinem eigenen Zuhause.