27
Nordsee
September 1881
Stöhnend beugte Seth sich über die Waschschüssel in der Kabine des Schiffes, das ihn und seinen Sekretär über die Nordsee nach England brachte. Er wünschte, er wäre tot. Als das Schiff leicht schaukelte, fluchte er. Es war so gut wie windstill, aber er fühlte sich, als würden sie durch den größten Sturm fahren. Jedes Mal, wenn das Schiff schlingerte, tat sein Magen sein Bestes, sich komplett umzustülpen. Beim nächsten Rollen verlor er den Kampf um sein letztes bisschen Würde und erbrach sich heftig, obwohl sein Magen schon völlig leer war.
Bis Seth und sein Sekretär ein paar Tage nach der Abreise aus Göteborg schließlich an ihrem ersten Ziel ankamen, der Hafenstadt Hull in England, hatte Seth jede Menge Zeit gehabt, sich in seine miese Laune hineinzusteigern. Er verabscheute England – seit jeher –, und von allen deprimierenden Städten, die er je besucht hatte, war diese graue Hafenstadt die schlimmste, dachte er, als er verzagt an Land ging und den Kragen aufstellte, um sich vor dem heftigen Regen zu schützen. Außerdem hasste er Schiffe von ganzem Herzen. Das Schlimmste, was ihm seiner Ansicht nach passieren konnte, war das Gefühl hilflosen Ausgeliefertseins, und genau das überkam ihn, wenn er auf ein Schiff stieg.
«Mit dem nächsten Schiff gibt es irgendwelche Probleme», teilte ihm sein Sekretär gerade bekümmert mit.
Natürlich gab es Probleme, dachte Seth düster. Sonst ging ja auch nichts glatt, warum sollte da ausgerechnet die Schiffspassage nach New York reibungslos vonstattengehen?
«Ein Schiff fährt schon heute Abend», fuhr Henriksson fort. «Aber das nächste geht erst in zehn Tagen. Und der Zug nach Liverpool fährt in Kürze ab. Soll ich Plätze für heute Abend auf dem Schiff buchen?»
Seth brauchte Zeit zum Nachdenken. Sie waren gerade an Land gegangen, und er hatte sich noch nicht von der Überfahrt erholt. Noch konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Und jetzt sah es ganz so aus, als müsste er schon heute Abend aufs nächste Schiff steigen. Er blinzelte, als ihm das Regenwasser in die Augen rann. Es war alles so schwierig. Warum war Beatrice nicht gekommen, obwohl sie es versprochen hatte? Warum? Jetzt musste er plötzlich entscheiden, ob er nach Amerika fahren sollte – wie er es verabredet und versprochen hatte – oder dem übermächtigen Drang nachgeben sollte, nach Göteborg zurückzufahren. Zu Beatrice, die nicht hatte kommen wollen. Doch er hatte Lily versprochen zu kommen – und er hielt seine Versprechen schließlich, dachte er erbittert. Und er wollte Jack treffen, bevor es zu spät war. «Wir fahren heute Abend», sagte er verdrossen. Er würde dafür sorgen, dass sie so bald wie möglich nach Schweden zurückkehrten.
*
Gereizt rutschte Seth auf seinem Sitz hin und her. Der Amerikabesuch zog sich hin, und das machte ihn langsam wahnsinnig. Aus den zwei Wochen, die er anfangs in New York hatte verbringen wollen, war schon ein knapper Monat geworden, und ein Ende seines Besuchs war immer noch nicht abzusehen. Er sah auf seine Uhr. Dann warf er dem Bankier einen grimmigen Blick zu, da dieser einfach kein Ende finden wollte mit seinem Monolog. In seinem ganzen Berufsleben hatte Seth lange Sitzungen grundsätzlich gemieden, doch sogar diese relativ kurze Besprechung jetzt machte ihn fast verrückt. Drei Minuten wollte er dem Mann noch geben, dachte Seth, dann würde er einfach aufstehen und gehen. Er warf einen Blick auf seinen Sekretär, der pflichtbewusst alles protokollierte. Er musste Henriksson nach Schweden schicken, es gab keine andere Lösung. Zum einen verging der Mann geradezu vor Sehnsucht nach seiner Frau – was Seth eher reizte als sein Mitgefühl weckte –, zum andern wollte Seth, dass jemand mit Beatrice sprach, und er selbst konnte New York momentan beim besten Willen nicht verlassen. Er fuhr sich durchs Haar und sah wieder auf die Uhr. Die Zeiger schienen sich überhaupt nicht weiterbewegt zu haben.
Sie fehlte ihm viel mehr, als er erwartet hätte. Er hatte ihr zahllose Briefe geschrieben, doch von ihr war keine einzige Antwort gekommen. Die Briefe und Telegramme von Johan trafen hingegen regelmäßig ein, also funktionierte die Göteborger Post wohl einwandfrei, dachte er. So musste Seth sich wider Willen in das schicken, was zu glauben er sich so lange geweigert hatte: Beatrice wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Natürlich konnte er Johan schreiben und nachfragen, dachte er, während seine Laune noch weiter absackte. Aber andererseits wollte er Beatrice nicht kompromittieren.
War vielleicht alles ein Irrtum? Konnte Beatrice etwas zugestoßen sein, ohne dass Johan es erwähnt hatte? Die Ungewissheit nagte an Seth.
Er überlegte auch, ob sie vielleicht gar schwanger geworden war. Aber sie hätte ihm doch sicher geschrieben, wenn dem so wäre? Egal, was sie für ihn fühlte, in so einem Fall hätte sie ihn doch gebeten zurückzukommen, oder? Und das einzig Richtige zu tun? Und wenn etwas anderes passiert wäre, hätte doch Johan etwas gesagt, oder? Aber wie er die Dinge auch drehte und wendete, eines stand fest: Irgendjemand musste zurück nach Göteborg und sich davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Selbst wenn Beatrice ihn nicht in ihrem Leben haben wollte, hatte er jetzt doch eine gewisse Verantwortung für ihr Wohlbefinden, redete er sich ein. Bekümmert rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. Er konnte einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken, was wohl gerade in Schweden passierte. Hätte er Johan alles erzählen sollen, was er über Edvard gehört hatte? Vielleicht. Aber er wusste ja nicht einmal, ob er selbst die unguten Gerüchte glauben sollte, die Henriksson bei seinen Nachforschungen zu Ohren gekommen waren. Außerdem hatte Johan im Moment genügend andere Sorgen, da war es wohl kaum angemessen, ihn mit dem Klatsch über seinen Schwager zu belästigen. Bestimmt zum hundertsten Mal überlegte Seth, ob er Beatrice schreiben und ihr sagen sollte, dass sie sich vor Edvard in Acht nehmen musste.
Er seufzte und betrachtete die Papierstapel, diese ganzen kummervollen Dokumente, die zu den zahllosen Gründen gehörten, warum er noch in Amerika bleiben musste, obwohl er lieber zu Beatrice heimreisen wollte. Doch da es so aussah, als würde er mindestens ein paar weitere Wochen in New York gebraucht, war er eben gezwungen, seinen Sekretär zu entbehren, beschloss er. Es war eine Notlösung, aber wenn er die ernsten Gesichter an diesem Tisch sah, wurde ihm bewusst, dass seine Anwesenheit hier sehr vonnöten war. Er wollte Beatrice beschützen, bei ihr sein, sich um sie kümmern, doch gleichzeitig brauchte Lily ihn hier. Seth gab den Versuch auf, auch nur den Anschein zu erwecken, dass er dem Vortrag des Bankiers folgte. Was sollte er mit Lily anfangen?
Es war schön gewesen, sie zu wiederzusehen, und er war unerwartet begeistert von ihrem Sohn, Daniel, einem ernsten Jungen, der sofort Zuneigung zu ihm gefasst hatte. Aber als er vor einem Monat angekommen war, erwartete ihn in Amerika ein einziges Chaos.
Lily und ihre Familie hatten sich gefreut, ihn zu sehen, doch ihre Freude war getrübt von der Sorge um den Vater, und tatsächlich war Jack Templeton nur wenige Tage nach Seths Ankunft in New York an einem Herzanfall gestorben. Lilys Mutter, Lily und ihre fünf Schwestern waren noch mitten in der tiefsten Trauer, als sie von der nächsten Katastrophe getroffen wurden. Jacks Geschäfte befanden sich in einem bedauerlichen Zustand, und der Familie drohte der Konkurs. Jack hatte die Familie zusammengehalten, und mit seinem Tod fiel sie auseinander. Als eines Abends dann auch noch Lilys Mutter tot neben einer leeren Flasche Laudanum aufgefunden wurde, war Seth klar, dass er bedeutend länger bleiben würde, als er vorgehabt hatte. Jetzt schlossen sich Lily und ihre fünf Schwestern ihm in allen Dingen an, und er arbeitete wie ein Tier, um sie vor dem Ruin zu retten. Seth seufzte. Lily brauchte ihn. Ihre Familie brauchte ihn. Alle brauchten ihn. Außer Beatrice.
*
Lady Lily Tremaine band das hellblaue Seidenband ihres Hutes unter dem Kinn zu einer Schleife und musterte kritisch ihr Spiegelbild. Sie war immer noch sehr schön, stellte sie sachlich fest und strich sich eine blonde Locke hinters Ohr. Obwohl sie sich der dreißig näherte, sah sie aus wie ein junges Mädchen. Ihre ganze Jugend über hatte Lily – wie viele ihrer Freundinnen in der amerikanischen Oberklasse – davon geträumt, einen europäischen Adligen zu heiraten und auf einem Schloss in England zu wohnen. Doch während die anderen Mädchen ihre Träume irgendwann hinter sich ließen und die Wirklichkeit mit reichen amerikanischen Ehemännern arrangierten, träumte Lily weiter. Und als Lord Tremaine die Bühne betrat, schlug sie zu. Es war ein Kinderspiel gewesen, den bedeutend älteren britischen Lord zu becircen, nicht zuletzt mit dem enormen Vermögen ihrer Familie im Rücken, dachte sie, und knöpfte sich die dünnen Wildlederhandschuhe zu. Und als Lord Tremaine um ihre Hand anhielt, sagte sie sofort Ja, ohne dem ernsthaften, armen Norweger, der ihr den Hof machte, weitere Beachtung zu schenken. Heute wusste sie, dass Seth aufrichtig verliebt gewesen war – in sie und nicht nur in das Geld ihrer Familie. Wahrscheinlich hatte sie ihn zutiefst verletzt, auch wenn das niemals ihre Absicht gewesen war, dachte sie traurig.
Das Leben in England war eine Hölle gewesen, die mit ihren Mädchenphantasien nichts gemein hatte. Lord Tremaine trank, und es dauerte nicht lange, bis er sie regelmäßig schlug. Nicht einmal als er nach ein paar Monaten entdeckte, dass sie schwanger war, hörte er auf, seine junge Frau zu misshandeln.
Lily begegnete ihrem Blick im Spiegel, ihrem makellosen Gesicht. Blaue Flecken verblassen, Erinnerungen weichen neuen Erinnerungen, und ihr Sohn war das alles wert gewesen, stellte sie fest. Daniel war ihr Ein und Alles und lange Jahre der einzige Grund, das Leben lebenswert zu empfinden – und es war ihr gelungen, ihn vor der willkürlichen Gewalt seines Vaters zu beschützen. Darauf zumindest war sie stolz.
An dem Tag, als Lord Tremaine auf der Treppe stürzte und sich das Genick brach, hatte sie geweint, weil sie so dankbar war, dass das Leben ihr und ihrem Sohn eine zweite Chance gab. Einen Tag nach der Beerdigung war sie abgereist, nach Hause zu ihren Eltern in Amerika, an den einen Ort auf Erden, an dem sie sich immer sicher und geborgen fühlte. Doch nach dem plötzlichen Tod beider Elternteile war die Geborgenheit verschwunden, aufgelöst wie Nebelschwaden in der Sonne.
Lily sah sich im Zimmer um. Lauter kahle Wände, die verrieten, dass ein Gegenstand nach dem anderen verkauft worden war, um ihre Schwestern und sie über Wasser zu halten. Jetzt saß sie also hier in New York in den Ruinen ihres Elternhauses. In ein paar Jahren wurde sie dreißig, und ihr Sohn und sie waren völlig hilflos.
Nein, ihr Leben war nicht so verlaufen, wie sie es sich gedacht hatte. Doch Seth hatte sie einmal geliebt, und jetzt kämpfte er für das Überleben ihrer Familie. Entschlossen richtete sie sich auf und verließ das Haus. Das Leben hatte ihr eine zweite Chance gegeben, und diesmal wollte sie sie bestimmt ergreifen.