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7

Nachdem es am Abend zuvor reichlich spät gewor den war, schliefen die meisten der Gäste auf Irislund bis weit in den Vormittag hinein. Nur Beatrice war früh wach. Sie beschloss hinauszugehen, bis das Haus zum Leben erwachte.

Auf dem Hof herrschte schon munteres Treiben: Tiere wurden gefüttert, die Dienstmädchen fegten, die Kinder spielten. Millas Kinder stiefelten im Schnee umher, und ein paar ältere Jungs zettelten eine Schneeballschlacht an. Beatrice beobachtete sie, während sie nachdenklich selbst einen Schneeball formte. Als kleines Mädchen hatte sie selten spielen dürfen, und sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie sich gewünscht hatte, mitmachen zu dürfen, wenn die anderen Kinder vor ihrem Fenster herumtollten. Ihre Eltern hatte es sicher gut gemeint, aber es war falsch gewesen, dachte sie wehmütig. Sie war unnötig einsam gewesen und hatte immer ein wenig im Abseits gestanden, und daran hatte sich erst etwas geändert, als sie Sofia kennenlernte.

Plötzlich hörte sie hinter sich das gedämpfte Geräusch von Pferdehufen auf Schnee, und sie drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um Seth mit dem temperamentvollen Jupiter auf den Hof galoppieren zu sehen.


Nach einer unruhigen Nacht hatte Seth beschlossen, sich abzureagieren, indem er einen Ausritt auf dem nervösen Pferd unternahm. Bei ihrer Rückkehr rollte der Hengst die Augen und schnaubte, als er den Tumult auf dem Hof erblickte. Beatrice stand mittendrin und beobachtete ihn interessiert, während Seth das Pferd zu beruhigen versuchte. Seth hingegen merkte, dass er lächerlich froh war, auf einem Pferd zu sitzen, auf dem er mit seiner Geschicklichkeit glänzen und ihr imponieren konnte. Sie blickte ihn mit einem frechen, unbekümmerten Lächeln an. Sie sah so jung und vergnügt aus, dass er selbst zu grinsen begann wie ein verliebter Jüngling.

Beatrice seufzte leise. Nein, sie hatte es sich nicht eingebildet, Seth sah auch zu Pferd großartig aus.

Da flog auf einmal ein Schneeball dicht an dem Hengst vorbei, und das Tier scheute gereizt und versuchte zu steigen. Mit einem Blick auf die Jungen hob Seth tadelnd die Augenbrauen, während er gleichzeitig geschickt das nervöse Pferd bändigte. «Passt lieber ein bisschen auf, wo ihr hinzielt», rief er. «Wenn ihr nicht besser treffen lernt, sind hier Frauen und Tiere in Gefahr.» Er saß ab und führte das Pferd eine Runde im Schnee herum.

Er war elegant, aber auch unerträglich arrogant. Man fragte sich wirklich, was es wohl brauchte, um eine so selbstgerechte Haltung ins Wanken zu bringen. Nachdenklich wog Beatrice ihren Schneeball in der Hand, bevor sie ihn warf und zufrieden seinen Weg durch die Luft verfolgte.


Die Jahre auf der Militärschule und dann im Krieg hatten Seths Reflexe perfektioniert. Er war von Natur aus schon wachsam, sah Gefahren schnell voraus und war ziemlich überzeugt, dass ihn nichts überrumpeln oder schockieren konnte. Als er sich jedoch umdrehte, konnte er nur noch sagen: «Was zum Teuf…», ehe er von einem großen nassen Schneeball im Gesicht getroffen wurde.

Beatrice strahlte ihn an, während er sich den Schnee abwischte. «Die anwesenden Frauen können sehr gut selbst auf sich aufpassen, danke schön», lachte sie.

Hie und da hörte man Gekicher von den Jungen, die die beiden beobachtet hatten. Seth sah sie überrascht an. Er konnte kaum glauben, dass sie ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. «Sie können nur zufällig so gut getroffen haben», behauptete er überlegen, während er sich die letzten Schneereste abbürstete.

«Zum einen gibt Ihr Ego eine große Zielscheibe ab, aber ich bin auch einen ganzen Winter lang in dieser edlen Kunst unterwiesen worden und zufällig eine sehr gute Schneeballwerferin», antwortete sie selbstsicher, während sie schon den nächsten Schneeball formte.

«Für eine Frau vielleicht», sagte er und machte einen Schritt auf sie zu.

Als ihn jedoch der nächste Schneeball direkt in den Magen traf, brachte er nur noch ein Stöhnen hervor. Der Schnee stob ihm bis ins Gesicht.

Beatrice hob die Augenbrauen fast bis zum Haaransatz. «Ha! Ich bin eben gut, ganz egal, welchem Geschlecht ich angehöre. Ich kann ganz ausgezeichnet zielen.»

Seths Augen verengten sich. Beatrice bekam fast keine Luft mehr vor Lachen, und die Jungs rundherum lachten ebenfalls.

Da bückte er sich, nahm eine Handvoll Schnee und begann einen Ball zu formen. «Haben Sie wirklich noch nicht begriffen, dass man mich nicht herausfordern sollte?», sagte er warnend.

Sie schnaubte und formte in Windeseile einen neuen Schneeball, doch diesmal war er bereit und konnte leicht ausweichen, als das Geschoss mit derselben Präzision auf ihn zuflog wie die beiden zuvor. Er tat ein paar Schritte auf sie zu.

«Sie wollen doch nicht etwa …?» Sie machte große Augen, als er drohend seinen eigenen Schneeball hob.

Er holte aus, und sie drehte sich um und rannte schreiend davon.


Beatrice hatte gerade eine große Fichte umrundet, als Seth sie einholte. Er fasste sie um die Taille und drehte sie herum. Ihre Brust hob sich und berührte ihn, und das sicher nicht nur, weil sie so tief Luft holte.

«Fräulein Beatrice, Ihnen muss doch wohl klar sein, dass ein so großes Ego wie das meine Sie nicht ungestraft davonkommen lassen kann, oder?» In seiner Stimme hörte man das unterdrückte Lachen.

«Ich habe den größten Respekt vor Ihrem Ego», beteuerte sie.

Er musterte sie misstrauisch. «Sie wirken nicht sonderlich respektvoll auf mich», meinte er schließlich, und Beatrice riss die Augen auf.

«Sie haben sich schon mehrfach auf meine Kosten amüsiert», fuhr er fort und ließ den Blick über ihr Gesicht und ihren Mund schweifen. «Jetzt ist die Reihe auch einmal an mir.»

Beatrice schnappte nach Luft, als sie eine Welle der Erregung überlief. «Wagen Sie es …», murmelte sie.

Doch er ignorierte ihre Proteste, nahm ein wenig Schnee und drückte ihn gegen ihre Lippen. Es war nicht viel, aber er war sehr kalt, und Beatrice zuckte zurück. Dann küsste Seth ihr die Kälte vom Mund. Langsam bewegten sich seine Lippen über die ihrigen, hin und her, bis sie warm und verlangend waren. Und so küssten sie sich weiter zärtlich, gut versteckt hinter dem Baumstamm.

Seth redete sich ein, dass er ihr nur den Kuss gab, nach dem sie sich beide gesehnt hatten, als sie gestern unterbrochen worden waren. Dann würde er natürlich gleich wieder aufhören. Doch während er Beatrice weiterküsste, ging er alle Argumente durch, die dafür sprachen, dass das eine ziemlich schlechte Idee war.

Sie war jung. Sie war unerfahren. Und sie war eine Freundin von Johan und seiner Familie.

Doch er hatte die Dinge ja immer noch unter Kontrolle, dachte er. Es handelte sich ja nur um ein unschuldiges Spiel, und er wusste genau, was er tat.

Als Beatrice ihm die Arme um den Nacken legte und seinen Kuss hitzig erwiderte, hörte er sich selbst aufstöhnen. Seine Kontrolle war dahin, und er drückte sie gegen den Baumstamm. Sie wimmerte, und er ließ die Hände über ihren Rücken wandern, bis er durch die dicken Kleider ihren Po fühlen konnte. Doch bei dieser Berührung erstarrte sie, und diese Reaktion einer unerfahrenen Frau war genau das Zeichen, das er brauchte, um im Handumdrehen wieder zur Vernunft zu kommen. «Es ist wohl besser, wir hören auf damit», murmelte er an ihrem Mund, während er sich bemühte, seine Atmung und seinen ganzen Körper wieder in den Griff zu bekommen. Er küsste ihr die kalte Nasenspitze. «Kommen Sie, ich bringe Sie zurück, bevor Sie sich noch erkälten», sagte er und zwang sich, sie loszulassen.

Das wurde ja langsam zur schlechten Gewohnheit.


Nach dem Mittagessen ging Beatrice in ihr Zimmer, um sich eine Weile auszuruhen. Sie hatte es sich gerade in der Sofaecke gemütlich gemacht, als es klopfte. Sie hoffte auf Seth, doch stattdessen kam Sofia hereingestolpert. Ihre Cousine schluchzte so sehr, dass Beatrice sie kaum verstehen konnte. Mit klopfendem Herzen stand sie auf. Vor ihrem inneren Auge zogen Hunderte schrecklicher Szenarien vorbei.

«Meine Liebe, ich verstehe ja gar nicht, was du sagst», versuchte sie die Cousine zu beruhigen.

Sofia schluchzte etwas, was sich anhörte wie: «Er hat um meine Hand angehalten.»

Beatrice betrachtete ihre verweinte Cousine und musste sich zusammennehmen, um sie nicht zu schütteln. «Du hast mir einen Todesschrecken eingejagt», schimpfte sie. «Freust du dich denn etwa nicht?»

«Doch, ich bin bloß so überwältigt», antwortete Sofia und schniefte. «Entschuldige. Er wird so bald wie möglich mit Papa sprechen und um meine Hand anhalten.»

Sogar mit verquollener Nase und rotgeweinten Augen ist Sofia schön, dachte Beatrice. Eigentlich war es nicht gerecht. Trotzdem freute sie sich für ihre Cousine.

Sehr sogar. Benommen setzte sie sich. Ein bisschen eifersüchtig war sie doch. Aber in erster Linie freute sie sich.


Gegen Abend wanderte Beatrice ganz in Gedanken versunken im Wintergarten hin und her. Sie strich hier mit den Fingern über ein dickes Orchideenblatt und schnupperte dort an einer Gardenie. Das Abendessen sollte später hier im exotischen Grün serviert werden, und die Dienstboten deckten bereits einen großen Tisch mit Leintüchern, Porzellan und Gläsern. Langsam wanderte sie umher und ließ die Blicke über die Eisenpfeiler schweifen, die das Glasdach trugen.

«Guten Abend», sagte hinter ihr jemand auf Norwegisch.

Wie immer fuhr sie zusammen, als sie seine tiefe Stimme hörte. Sie wandte sich um. Seth sah umwerfend elegant aus in seiner dunkelgrünen Abendjacke, der grauen Hose und dem dicken, dunklen, streng zurückgekämmten Haar.

«Wie ich sehe, bewundern Sie gerade Iris’ größten Stolz», bemerkte er.

«Der Wintergarten ist wirklich sehr beeindruckend. Papa hätte er auch gefallen», erwiderte sie zögernd.

Sie standen dicht beeinander in einer schattigen Ecke. Er blickte sie intensiv an.

«Sagen Sie meinen Namen», forderte er leise.

Sie sollte wirklich nicht … «Seth», sagte sie. Sie liebte den Klang seines Namens. Sanft legte sie ihm die Hand auf die Wange. Sie trug keine Handschuhe, und seine Wange war warm und ein bisschen rau. Er drehte den Kopf leicht und küsste ihre Handfläche. Beatrice atmete zitternd ein.

«Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir heute Abend für uns haben, ich wollte nur sagen, dass ich morgen früh sehr zeitig von hier losreiten muss», sagte er leise.

Sie stand ganz still, zog die Hand langsam zurück und versuchte zu begreifen, was er ihr sagen wollte. «Es tut mir sehr leid, aber ich habe dringende Geschäfte, die nicht bis nach dem Wochenende warten könnten.»

Beatrice bemühte sich, das Gefühl niederzukämpfen, das sich in ihrer Brust breitmachte. Er hatte ihr nichts versprochen, er hatte sie nur geküsst. Erbarmungslos sank ihre Stimmung. Morgen würde er also wieder verschwinden. Johan hatte Sofia einen Antrag gemacht. Seth hatte ihr nur ein paar Küsse geraubt. Und bald würde er fort sein.

Aber was hatte sie sich eigentlich erwartet? Im Unterschied zu Sofia war sie keine Schönheit, in die sich die Männer auf den ersten Blick verliebten. Zum Glück schien Seth ihre verdüsterte Stimmung nicht zu bemerken, und dafür war sie sehr dankbar.

Von der Tür her hörte sie Stimmen, die ihr verrieten, dass die anderen Gäste eintrafen. Er zwinkerte ihr zu, und aus den Tiefen ihres verletzten Herzens gelang es Beatrice, ihm zuzulächeln. Ein jämmerliches kleines Lächeln.

Ein ungezähmtes Mädchen
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