[zur Inhaltsübersicht]

32

Gut Rosenholm

Februar 1882

«Beatrice, mein liebes Kind», rief Karin Hielm. «Wie geht es dir?» Sie eilte in Beatrices Schlafzimmer, zog sich einen Stuhl ans Bett und versuchte, ihr Entsetzen zu verbergen.

Beatrices Mund war wund, die Lippen gesprungen und ausgetrocknet. Ihr Gesicht war völlig zerschlagen, schwarze Blutergüsse und Schwellungen verzerrten ihre Züge. Sie hatte schreckliche Male am Hals und konnte nur mit gequälten Atemzügen Luft holen. Ihre Arme lagen auf der Decke. Sie waren übersät mit blauen Flecken, und an den Handgelenken sah man feuerrote Wundmale. Die körperlichen Verletzungen waren schon schrecklich, doch am schlimmsten waren Beatrices Augen. Der sonst so lebendige, intelligente Blick war nur noch leer.

Vor nicht einmal drei Tagen hatten sie sich noch auf der Hochzeit gesehen, dachte Karin verzweifelt, doch heute war Beatrice bis zur Unkenntlichkeit verändert. Der Körper würde sicher heilen – aber der Rest … Sie kämpfte mit ihren Schuldgefühlen. Im Sommer hatte sich Beatrice hilfesuchend an Hjalmar und sie gewandt, doch sie hatten sie im Stich gelassen. Sie, die sich als ihre Freunde bezeichneten, hatten sie allein gelassen, als sie sie am meisten brauchte. Und jetzt musste Beatrice den Preis dafür bezahlen. Karin hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Schluchzen zu unterdrücken. Warum hatte man sie nicht früher geholt?

Behutsam strich sie Beatrice eine kurze Strähne aus der Stirn. Das hier war wirklich viel, viel schlimmer, als sie gedacht hatte. Schlimmer, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Und ihr Mann und sie hätten es verhindern können.

«Wie bist du hergekommen?», fragte Beatrice tonlos.

Karin schob Selbstmitleid und Schuldgefühle beiseite. «Dein Stalljunge Samuel ist gekommen und hat mich abgeholt», sagte sie. «Ich glaube, deine Dienstboten machen sich Sorgen um dich. Kerstin hat mir erzählt, dass du weder richtig isst noch trinkst.» Ihre Stimme versagte ihr den Dienst. «Was hat er mit dir gemacht?», flüsterte sie.

Karin hatte oft den Eindruck gehabt, dass es Beatrice bei Harriet und Wilhelm nicht gut erging. Oft hatte ihr wegen dieses elternlosen Mädchens das Herz wehgetan, doch niemals war die Lage so schlimm gewesen wie jetzt. Beatrice sah einfach schrecklich aus, zerschlagen und gebrochen. Und ihr Haar … Karin schüttelte den Kopf und betrachtete die junge Frau. Der Blick, dem sie begegnete, war wie verdorrt – keine erlösenden Tränen, keine Gefühle, die sie teilen wollte, nur eine bodenlose Leere.

Karin war sich noch nie so hilflos vorgekommen. «Willst du lieber allein sein?», fragte sie unsicher.

Fast unmerkliches Schulterzucken von Beatrice.

Als es leise an der Tür klopfte, drehte Karin sich um. Das Dienstmädchen sah herein. «Brauchen Sie etwas?», erkundigte es sich.

«Können Sie wohl jemand nach Stockholm schicken?», fragte Karin. «Ich muss Kontakt mit meinem Mann aufnehmen.»

«Ich werde Samuel bitten, dass er herkommt», versprach Kerstin. «Er kann einen Brief überbringen.» Mit einem letzten besorgten Blick auf ihre Herrin zog sie die Tür leise wieder hinter sich ins Schloss.

Karin wandte sich wieder Beatrice zu.

«Mein liebes Kind. In ein paar Stunden werden wir mit meinem Mann reden. Hjalmar weiß sicher, was zu tun ist.» Dann verstummte sie. Warum sollte Beatrice ihnen jetzt vertrauen? Sie hatten sie ja schon einmal so schrecklich verraten.

«Ich wollte dich nicht erschrecken», sagte Beatrice mit brüchiger Stimme.

«Ich wünschte nur, ich könnte dir irgendwie helfen», antwortete Karin. Ungelenk tätschelte sie Beatrices Hand, doch die erstarrte bei der Berührung und zog die Hand zurück.

Bestürzt sah Karin sie an, doch Beatrice drehte den Kopf weg und blickte auf die Wand. «Du bist nett», sagte sie schwach. «Aber ich kann es im Moment nicht ertragen, dass mich jemand anfasst.»

«Ach, mein liebes Kind, das ist alles so schrecklich», flüsterte Karin. «Versuch, nicht dran zu denken.»

«Ich bin so müde, aber ich kann nicht schlafen», flüsterte Beatrice. «Sobald ich einschlafe, ist er wieder da.»

«Ich bleibe hier neben dir sitzen», versprach Karin. «Ich werde Mary und Sofia schreiben, aber ich werde die ganze Zeit hier sitzen bleiben. Vielleicht hilft dir das ja ein bisschen.»

Beatrice schloss die Augen. Karin betrachtete sie, bis die ruhigen Atemzüge ihr verrieten, dass sie schließlich doch eingeschlafen war.

*

Rosenschöld lag neben zwei erschöpften Huren und schnarchte lautstark. Edvard saß auf einem Sessel daneben und rauchte mit glasigem Blick. Die zwei Mädchen im Bett gehörten zu den routiniertesten Huren des Bordells, doch der Graf war so grob mit ihnen umgesprungen, dass Ulla Leander am Schluss dazwischengegangen war.

Ihre Orgie dauerte jetzt schon zwei Tage. Ständig kam wieder Nachschub an Mädchen, Alkohol und Opium. Rosenschöld hatte außerdem eine braune Flasche dabei, aus der er sich in regelmäßigen Abständen großzügig bediente. Entweder musste man jedes Mal aufs Neue eine Dosis des Potenzmittels nehmen, oder der gute Graf näherte sich langsam einer Überdosis, dachte Edvard und grinste breit.

Er war eigentlich zur Trauung nach Stockholm gekommen, hatte jedoch einsehen müssen, dass in dieser Stadt niemand mehr etwas von ihm wissen wollte, und so war er auch nicht zur Zeremonie erschienen. Die Geschichte mit Emelie von Wöhler war nicht vergessen. Ihre große Schwester Leonite war eilig verheiratet worden, und dann waren die Eltern wieder nach Deutschland gezogen. Doch man grenzte ihn noch stärker aus als vorher. Ich muss wirklich mal gründlich über meine Zukunft nachdenken, überlegte Edvard. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarre und betrachtete nachdenklich den nackten schnarchenden Mann. Der Graf war höchst erzürnt gewesen über den Verlauf seiner Hochzeitsnacht, und Edvard ahnte, dass er sich vom Ehemann seiner Cousine Beatrice nicht mehr viel zu erhoffen hatte.

Er beugte sich vor und nahm das braune Fläschchen vom Nachttisch. Nachdenklich wog er es in der Hand. Dann goss er einen ordentlichen Schuss in den Becher mit Branntwein, den Ulla schon vorhin mit einer großzügigen Dosis Schlafmittel versetzt hatte. Sie behauptete, es gebe Grenzen für die Prügel, die ihre Mädchen aushalten konnten, und als der Graf sich geweigert hatte, die Dinge ruhiger angehen zu lassen, hatte sie ihm Laudanum verabreicht. Edvard zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich auch egal. Ulla kassierte extra, wenn eine der Huren einen dauerhaften Schaden erlitt, und er war blank. Er goss noch einen Schluck nach.

Da begann sich der Graf wieder zu rühren. Eines der Mädchen stöhnte, und Edvard betrachtete sie. Nein, die sah nicht aus, als wäre sie verletzt. Das Mädchen schluchzte leise, und Edvard lächelte. Wahrscheinlich hätte der eine oder andere seine Meinung nicht geteilt.

Der Graf erwachte und sah ihn aus benebelten Augen an.

Der verdammte Hurenbock. Rosenschöld hatte ihn nach allen Regeln der Kunst ausgescholten, als er kam. Edvard runzelte die Stirn, er konnte sich nicht mehr genau erinnern, wann das eigentlich gewesen war. Auf jeden Fall hatte der Graf herumgeschrien, Beatrice sei gar nicht mehr unschuldig gewesen, und das sei alles die Schuld der Löwenströms. Da musste sie wohl doch dieser Norweger als Erster gefickt haben. Schade, dass er es nicht vorher gewusst hatte, dann wäre er in Göteborg nicht so verdammt feinfühlig aufgetreten, dachte er und lachte.

«Was zum Teufel ist hier passiert?», fragte der Graf mit rasselnder Stimme.

Edvard musterte ihn. Sein Gesicht war rot und verschwitzt, und sein Husten klang immer schlimmer.

Lächelnd beugte Edvard sich vor, griff nach dem Becher mit dem Gemisch aus Branntwein, Laudanum und der Tinktur aus dem braunen Fläschchen und reichte ihn dem Grafen. «Hier, trink noch ein wenig», schmeichelte er.

Der Graf schüttelte benommen den Kopf. «Es geht mir schlecht. Ich will Wasser.»

«Trink erst das hier ganz aus, dann klingle ich nach Wasser.» Er drückte dem älteren Mann den Becher in die Hand. Der Graf sah ihn an, und Edvard nickte ihm beruhigend zu. Er rang sich sogar ein warmes Lächeln ab. Daraufhin nahm der Graf den Becher und trank ihn aus. Er musste husten.

«Leg dich hin, Rosenschöld, du siehst wirklich mitgenommen aus.»

Edvards Blick fiel auf eines der Mädchen im Bett, das ihn aufmerksam beobachtete. Er lächelte grausam. «Komm her», befahl er.


Madame Ulla Leander war schon länger in diesem Geschäft tätig als die meisten anderen, daher wusste sie, dass es sich wohl kaum um einen Höflichkeitsbesuch handelte, als am nächsten Tag der grimmige, gutgekleidete Herr vor ihrer Tür stand.

«Sie wissen, wer ich bin, nicht wahr?», fragte er.

Ulla begrüßte den einflussreichen Landeshauptmann. Hjalmar Hielm war ein Mann, der ihr durchaus Probleme bei ihrer Tätigkeit machen konnte, wenn ihm der Sinn danach stand.

«Es geht um Rosenschöld, nicht wahr?», fragte sie. «Er ist im Obergeschoss.» Sie ließ ihn eintreten. «Ich führe Sie hoch.»

Sie gingen an mehreren geschlossenen Türen vorbei, wobei sie die Geräusche ignorierten, die aus den Zimmern drangen. Schließlich blieb Ulla vor der richtigen Tür stehen. Drinnen war es still, und der Landeshauptmann gab ihr mit einem Nicken zu verstehen, dass sie die Tür öffnen sollte. Mit dem Vorgefühl einer Katastrophe drückte Ulla die Klinke nieder. Ein stickiger Gestank nach Alkohol, Opium und Körperflüssigkeiten schlug ihnen entgegen, als sie die Tür öffnete.

«Oh mein Gott», hörte sie den Landeshauptmann murmeln. Edvard saß in einem Sessel, zu seinen Füßen lag ein weinendes Mädchen. Er sah Ulla und den Landeshauptmann benebelt an. Im ungemachten Bett lag der Graf, nackt, mit geschlossenen Augen und offenem Mund. Sein Atem ging rasselnd und unregelmäßig. Ein Mädchen musterte sie stumm. Sie lag neben dem Grafen, war ans Bett gefesselt und übersät mit roten Peitschenstriemen. Der Graf hustete, und aus seinen Lungen drang ein unschöner Laut.

«Großer Gott», sagte der Landeshauptmann.

«Ich habe nichts getan, ich schwöre», schluchzte das Mädchen neben ihm. «Der Graf hat einfach plötzlich angefangen, so zu husten.»

Ulla sah den leeren, umgestürzten Becher auf dem Nachttisch. Den muss ich so schnell wie möglich da wegräumen, beschloss sie. Niemand durfte von dem Laudanum erfahren.

Der Landeshauptmann sah sich in dem stinkenden Raum um. «Räumen Sie das Zimmer auf und entfernen Sie die Flaschen», ordnete er an. «Und dann holen Sie einen Arzt», fügte er mit einem Blick auf die zwei weinenden Mädchen hinzu. «Für den Grafen, aber auch für sie.»

Ulla rief einen Befehl auf den Korridor, dann ging sie zum Bett und knotete die Riemen auf, mit denen das zweite Mädchen gefesselt war. Es stöhnte vor Schmerzen. Da ertönte ein Lachen von Edvard.

«Sei still, Edvard!», rief der Landeshauptmann. Mit angewidertem Gesichtsausdruck betrachtete er den jungen Mann, den er zu kennen geglaubt hatte. Edvard verstummte, aber immer noch kräuselte ein leichtes Lächeln seine Lippen.

«Der Graf war völlig außer sich, als er kam», erzählte Ulla, während sie die Flaschen und Gerätschaften aufsammelte, die über den ganzen Boden verteilt waren. Die geprügelten Mädchen verließen das Zimmer, nachdem man ihnen beim Ankleiden geholfen hatte. «Aber ich fand nicht, dass er irgendwie krank aussah», fuhr sie fort. «Wer hätte so etwas ahnen können?»

Der Graf holte rasselnd Luft, und Edvard begann wieder zu lachen. Der Landeshauptmann wandte sich zu ihm um. «Edvard», sagte er schockiert. «Was ist eigentlich mit dir los?»

«Reg dich nicht auf, ist doch nichts passiert», nuschelte Edvard und winkte ab.

Hjalmar umfasste den Raum mit einer Geste. «Verstehst du denn nicht, wie falsch das hier ist?», sagte er. «Ich hatte ja keine Ahnung, dass du solche Dinge treibst. Und weißt du, was man von dir und Emelie von Wöhler erzählt? Ich habe mich ja geweigert, es zu glauben. Aber es ist wahr, oder? Dass du ihr ein Kind gemacht hast und sie dann hast sterben lassen?» Hjalmar schüttelte den Kopf. «Ich habe nie geglaubt, dass du wirklich in diese Sache verwickelt warst, damals in der Schule, aber jetzt … Edvard, du bist krank.»

«Der Arzt ist unterwegs», erklärte Ulla. Der Landeshauptmann verstummte, doch er bedachte Edvard mit einem Blick, der dem jungen Löwenström sagte, dass er noch nicht mit ihm fertig war.


Als der Arzt kam, war das Zimmer im Großen und Ganzen wieder aufgeräumt. Er trat ans Bett, fühlte den Puls des Grafen und schüttelte den Kopf. «Er ist bewusstlos, und ich sehe Schwellungen. Ich muss ihn zur Ader lassen.» Mit diesen Worten nahm er seine Instrumente aus der Tasche.

«Wird er durchkommen?», fragte Ulla.

Der Arzt zuckte mit den Schultern. «Ich tue, was ich kann», erwiderte er kurz. «Dann müssen wir abwarten.»

Doch das Herz des Grafen schaffte es nur noch ein paar Stunden, dann starb Rosenschöld mit einem letzten rasselnden Atemzug, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Eine hellrote Flüssigkeit rann ihm aus dem Mund, und Gestank machte sich im Zimmer breit.

«Es ist vorbei», stellte der Arzt fest, während er ihm ein Laken über das fast violette Gesicht zog. «Schicken Sie nach einem Leichenträger», befahl er und verließ das Zimmer, um nun die verletzten Mädchen zu untersuchen. Ulla und der Landeshauptmann gingen nach unten.

Hjalmar fand Edvard an einem Tisch mit einer Flasche Branntwein. Er zog sich einen Stuhl heraus und nahm ihm gegenüber Platz.

«Der Graf ist tot. Du kannst nicht mehr in Stockholm bleiben», begann er. «Nicht jetzt.»

«Glaubst du etwa, ich bin schuld an seinem Tod?»

Hjalmar schüttelte über Edvards Ton den Kopf. Er hatte den jungen Mann immer als netten, lustigen Jungen betrachtet und schämte sich, als er nun einsehen musste, wie sehr er sich getäuscht hatte. «Weißt du überhaupt, was er mit Beatrice gemacht hat?», fragte er ernst.

Edvard streckte die Hand nach der Branntweinflasche aus. «Das hat sie sich alles selbst zuzuschreiben», meinte er gleichgültig. «Und da der Alte jetzt tot ist, ist meine Cousine auch nicht mehr nützlich.» Er leerte das Glas in einem Zug und wischte sich den Mund ab. «Tja, der Plan ist wirklich gründlich in die Binsen gegangen, das muss man schon sagen.»

Hjalmar starrte ihn an. «Wusstest du, dass er sie schlagen würde?»

«Um solche Dinge haben Papa und ich uns nie gekümmert. Und du scheinheiliger Dreckskerl brauchst jetzt auch nicht so zu tun, als hättest du dich darum gekümmert, weder um den Grafen noch um meine Cousine. Das war schon in Ordnung, dass der diesen Becher geleert hat.»

Hjalmar betrachtete ihn angeekelt. «Du hast dich für so einiges zu verantworten», stellte er fest. «Egal, ob du zum Tod des Grafen beigetragen hast oder nicht. Aber in diesem Fall werde ich Stillschweigen bewahren. Keiner hat etwas davon, wenn dieser Vorfall öffentlich gemacht wird.» Hjalmar stand auf. Er wollte nur noch fort von diesem menschenverachtenden Ort. «Sieh zu, dass du Stockholm verlässt», warnte er. «Geh ins Ausland und bleib dort. Ich will gar nicht wissen, wohin du fährst. Wenn du deinen Fuß jemals wieder auf Stockholmer Boden setzt, werde ich nicht umhinkommen, Ermittlungen über den Tod des Grafen einzuleiten.» Das war eine leere Drohung, das wusste er sehr gut. Diese ganze widerliche Affäre würde er nicht mal mit der Kneifzange anfassen. Seiner Meinung nach hatte der Graf sich selbst zu Fall gebracht und war Opfer seines unsittlichen Benehmens geworden. Eine Ermittlung würde nur Beatrice schaden. Er hatte sie einmal verraten, jetzt wollte er sie zumindest vor einem Skandal schützen.

«Dann musst du mir Geld geben», verlangte Edvard.

Hjalmar senkte müde den Kopf. «Das ist das Letzte, was ich jemals für dich tun werde», antwortete er. «Das Letzte.»

*

«Sie weigert sich, mit zu uns zu kommen, aber sie kann doch nicht allein hierbleiben. Hjalmar ist am Boden zerstört, weil er ihr damals nicht geglaubt hat. Und ich mache mir solche Sorgen», flüsterte Karin Miss Mary zu. «Können Sie ihr nicht gut zureden? Sie hat Ihnen doch immer vertraut, nicht wahr?»

Mary Highman betrachtete die stille Gestalt im Bett und schüttelte bekümmert den Kopf. «Auf mich hört Beatrice genauso wenig, ich habe auch schon versucht, ihr …»

«Hört auf zu flüstern. Ich bin doch kein Kind», fauchte Beatrice. Sie stemmte sich von ihrem Kissen hoch. «Ihr braucht meine Zukunft nicht zu planen, ich brauche eure Hilfe nicht. Ich komme ganz wunderbar ohne euch zurecht.»

Besorgt wechselten Mary und Karin einen Blick. Das leere Starren und die Stummheit der ersten Woche waren einem unberechenbaren Zorn gewichen. Sie hatten keine Ahnung, wie sie mit ihr umgehen sollten.

«Sofia kommt heute, das wird bestimmt schön», bemerkte Karin in gespielt munterem Ton.

Beatrice wandte sich ab. «Ich bin müde, lasst mich in Frieden.»

Karin hob die Hand, um ihr über die Wange zu streichen, hielt jedoch inne, als Beatrice sichtlich erstarrte. Noch immer durfte sie niemand anfassen.

«Wie lange soll das noch so weitergehen?», fragte Karin leise, als sie mit Mary das Zimmer verließ. «Der Alte ist tot und begraben …» Sie bekreuzigte sich kurz. «… Die finanziellen Fragen sind geregelt, und die blauen Flecken sind verschwunden. Sollte sie sich mittlerweile nicht erholt haben?» Sie schüttelte den Kopf. «Manchmal habe ich fast Lust, sie zu packen und zu schütteln, um ihr irgendeine Reaktion zu entlocken. Und ihr Haar … Es ist einfach ein Jammer. Das arme Kind.»

«Es wäre besser, wenn sie weinen könnte», meinte Mary. «Wenn sie nicht im Bett liegt und in die Luft starrt, läuft sie im Haus herum wie ein Gespenst. Wussten Sie, dass sie all ihre Kleider verschenkt hat? Alles, was er und Wilhelm ihr jemals geschenkt haben.» Mary rang die Hände. «Aber sie kauft sich auch nichts Neues, sie läuft einfach nur in diesen alten Lumpen herum.»

Karin nickte bekümmert, während sie den Flur überquerten. «Gestern hat sie mit Hjalmar gesprochen. Sie hat ihn gebeten, die Verhältnisse in den Fabriken des Grafen unter die Lupe zu nehmen, um sich zu vergewissern, dass es den Arbeitern gutgeht.»

Karin zuckte mit den Schultern. «Dagegen ist an sich ja nichts zu sagen, aber sie kümmert sich mehr um die Mädchen in den Fabriken als um sich selbst, das ist doch nicht gesund.»

Sie öffnete die Tür zum Salon und klingelte. Kerstin erschien, und Karin bat sie freundlich um ein wenig Tee, bevor sie sich wieder dem Gespräch mit Mary zuwandte. «Hast du von den früheren Frauen des Grafen gehört?», fragte sie.

«Ja», sagte Mary. «Wie es aussieht, hat Beatrice ja sogar noch Glück gehabt.»

«Wir können nur hoffen, dass Sofias Besuch sie etwas aufheitert.»


Nachdem Mary und Karin gegangen waren, sah sich Beatrice teilnahmslos in dem Zimmer um, das sie jetzt als Schlafzimmer nutzte. Das große Schlafzimmer hatte sie verriegeln lassen, das grüne Eisenbett war abgebaut worden. Trotzdem war ihr, als könnte sie immer noch die ekelhafte Gegenwart des Grafen in den Wänden spüren.

Sie war angezogen und dachte, dass sie wohl aufstehen und irgendetwas tun sollte – aber was? Ihr kam alles so sinnlos vor. Die hässlichen Wunden und Blutergüsse im Gesicht waren verblasst, ihre Kehle schmerzte nicht mehr beim Schlucken, und es hatte auch aufgehört, da unten wehzutun – doch es schien, als könnte sie innerlich einfach nicht heilen.

Müde rieb sie sich die Augen. Sie brannten, weil sie schon so lange nicht mehr richtig geschlafen hatte. Eigentlich sollte sie dankbar sein, dachte sie. Sie hatte die Misshandlungen überlebt, sie war nicht schwanger, und er war weg – für immer weg. Sie wusste, dass die anderen, Mary und Karin, vielleicht auch Kerstin, der Ansicht waren, dass sie aufstehen und sich um das Anwesen kümmern sollte, doch sie konnte sich zu nichts aufraffen.

«Bea?», kam es leise von der Tür.

«Guten Tag, Sofia», antwortete sie gedämpft.

Sofia ergriff ihre Hand, und Beatrice zwang sich, sie ihr zu lassen. «Liebe Bea, komm doch zu Johan und mir und wohne bei uns. Ich kann es einfach nicht mit ansehen, wie du so vor die Hunde gehst», bat Sofia.

«Rosenholm ist jetzt mein Zuhause», erwiderte Beatrice und zog die Hand nun doch zurück. «Warum versteht das denn keiner? Immer wollt ihr euch alle einmischen.»

Als ob sie bei Sofia und ihrer sorgenfreien Familie wohnen wollte. Warum sollte sie sich in eine Ecke setzen und zusehen, wie Johan und Sofia durch ihr perfektes Leben schwebten? Wenn sie nur diesen lähmenden Schrecken überwinden konnte, würde es ihr gelingen, auf dem Gut zu bleiben. «Wenn das das Einzige war, worüber du mit mir reden wolltest, dann geh jetzt lieber», fügte sie boshaft hinzu.

Sofia biss sich auf die Lippe. «Entschuldige, Bea, ich wollte dich nicht aufregen. Ich werde von etwas anderem reden, wenn ich bleiben darf. Ich habe Fredrik mitgebracht, er ist unten bei Mary. Soll ich ihn holen?»

Beatrice wollte nicht noch mehr Beweise für Sofias glückliches Leben sehen, doch sie verbiss sich die Antwort. Was geschehen war, war schließlich nicht Sofias Schuld. Es war niemandes Schuld. Nur ihre eigene.


Am nächsten Morgen erwachte Beatrice wie immer früh. Seit jener Nacht wurde sie im Traum regelmäßig von Erinnerungen und bösen Gedanken heimgesucht. Oft wachte sie schreiend auf, weil sein Keuchen und Grunzen gar so wirklich war. Diese Eindrücke wollten einfach nicht verblassen, sie kamen Nacht für Nacht wieder. Wenn sie wach war, gelang es ihr, sich diese Erinnerungen vom Leib zu halten. Dann quälten sie stattdessen andere Erinnerungen – die bittersüßen Erinnerungen an Seth, an einen Nachmittag voller Leidenschaft und seinen Verrat.

Sie hätte ihn hassen müssen, das wusste sie, und ein Teil von ihr tat das auch. Doch sie fragte sich trotzdem, wie es mit Lily und ihm wohl stand. Ob sie schon verheiratet waren und demnächst Kinder bekommen würden. Wenn sie so weitermachte, würde sie bald den Verstand verlieren.

Sie blieb noch eine Weile im Bett liegen und horchte auf die Geräusche des Hauses, während sie aus dem Fenster blickte. Die Gardinen flatterten, und sie hörte das Tropfen des tauenden Schnees. Wo war nur die Zeit geblieben? Wie war es möglich, dass schon wieder Frühjahr war?

Unten auf dem Hof kicherten zwei Mägde, und plötzlich sehnte sie sich danach, nach draußen zu gehen. Sie zog sich ohne Hilfe an und ging entschlossen ins Frühstückszimmer.

«Guten Morgen, Mary», sagte sie und goss sich Kaffee aus der silbernen Kanne ein.

«Guten Morgen», antwortete ihre Gesellschafterin, ohne dass ihre Miene verriet, ob sie überrascht war, dass Beatrice ihr Bett verlassen hatte.

Beatrice kostete den Kaffee. Heiß und stark. Dann griff sie nach der Post. Wie lange war die eigentlich schon liegen geblieben? Zerstreut überflog sie einen Brief. Und dann runzelte sie die Stirn. «Was ist das denn?», fragte sie verblüfft. Sie sah das Kuvert an und las die Adresse.

«Sieht aus wie ein Brief für mich», erwiderte Mary ruhig und streckte die Hand nach dem Schreiben aus. «Das muss versehentlich in deine Post geraten sein.»

Beatrice sah ihr in die Augen, ohne ihr den Brief zu geben. In ihr begann es zu pochen. «Stimmt es, dass Olav Erlingsen dir angeboten hat, nach Norwegen zu ziehen, um ihm beim Aufbau einer Mädchenschule zu helfen?», fragte sie. «Eine Schule, die du ganz allein gestalten dürftest? In der Mädchen unterrichtet werden sollen, die vorher nie zur Schule gehen konnten?»

Mary schwieg.

Beatrice blickte auf den Briefbogen. «Das sieht mir nämlich ganz so aus. Aber seltsamerweise scheint es, als hättest du abgelehnt. Warum, wenn man fragen darf?»

«Das ist meine private Korrespondenz», wich Mary aus. «Bitte gib mir den Brief.»

Ungläubig wedelte Beatrice ihrer Gesellschafterin mit dem Schreiben vor der Nase herum. «Ich kenne dich, Mary, normalerweise würdest du einen Mord für so eine Gelegenheit begehen. Warum hast du abgelehnt?»

Und da verstand sie plötzlich. «Es ist wegen mir, stimmt’s? Du glaubst, ich komme ohne dich nicht zurecht, nicht wahr?» Wütend warf sie den Brief auf den Tisch, stellte schnaubend die Kaffeetasse ab und verließ das Zimmer.

Bekümmert sah Mary ihr nach, dem zornigen Rücken und dem schmutzigen Haar, das immer noch niemand anrühren durfte. Mit zitternder Hand hob sie ihre Tasse. Die Dinge liefen nicht so, wie sie sollten.


In der Nacht lag Beatrice wach und grübelte. Das ist einer der Vorteile, wenn man nicht schlafen kann, dachte sie, man hat so viel Zeit zum Nachdenken. Als der Morgen graute, hatte sie einen Entschluss gefasst. Rasch zog sie sich an.

«Ich bitte um Entschuldigung, dass ich deinen Brief gelesen habe, und es tut mir leid, dass ich gestern so unfreundlich war», sagte sie zu Mary, als sie ins Frühstückszimmer kam.

«Wie geht es dir heute?», erkundigte sich Mary, die die Entschuldigung mit einem Nicken angenommen hatte. Beatrice setzte sich und ließ sich Kaffee servieren.

«Ich kann nicht zulassen, dass du dir so eine Gelegenheit entgehen lässt», kam Beatrice gleich zum Thema.

«Du bedeutest mir mehr als …», begann Mary zu protestieren, doch Beatrice schüttelte den Kopf und fiel ihr ins Wort.

«Ich habe mich entschieden», erklärte sie. «Du bekommst einen letzten Lohn von mir. Und ich würde Olav Erlingsen und dir gerne einen Beitrag zu eurer Schule geben. Ich will dich nicht mehr als Gesellschafterin.» Sie hob die Tasse an die Lippen. «Das bedeutet sozusagen, dass ich dich hinauswerfe», fügte sie hinzu. «Selbstverständlich werde ich dir ein hervorragendes Zeugnis ausstellen, und ich würde mich freuen, wenn wir Freundinnen blieben, aber im Moment solltest du wohl wirklich lieber nach Norwegen fahren.»

«Ich lasse dich nicht allein, ich bleibe hier. Du brauchst mich nicht zu bezahlen, aber ich lasse dich nicht allein», beharrte Mary.

Beatrice lächelte. Vorsichtig stellte sie ihre Tasse auf die Untertasse. «Ich werde nicht auf Rosenholm bleiben. Ich habe Samuel nach Stockholm geschickt, damit er den Landeshauptmann noch heute herholt. Hjalmar soll mir helfen, Rosenholm zu vermieten oder zu verkaufen.» Sie spielte mit den Fingern an ihrer Tasse und sah aus dem Fenster. Sie wusste, dass sie nie wieder hierher zurückkommen würde. «Ich werde nach Frankreich reisen», erklärte sie. Mary sah sie an, als wäre sie verrückt geworden. Vielleicht war sie das, aber sie konnte einfach nicht hierbleiben. «Vivienne de Beaumarchais hat mir mehrfach geschrieben und mich gebeten, sie in der Normandie zu besuchen», fuhr sie fort. «Sie hat mich eingeladen, den Sommer bei ihr zu verbringen.» Sie glättete ihr schlichtes Kleid und stellte fest, dass es schmutzig war. Es wurde wohl Zeit, etwas anderes anzuziehen, dachte sie. «Anfang April reise ich ab, ich brauche eine Luftveränderung. Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, aber wenn du etwas für mich tun willst, dann fahr nach Norwegen. Du kannst mir nicht die Schuld dafür geben, dass du auf deine Träume verzichtest, das musst du verstehen.»

Mary betrachtete sie lange, bis sie schließlich zu einer Entscheidung kam. «Gut. Ich fahre nach Norwegen, wenn du mir versprichst, dass du regelmäßig schreibst.»

Beatrice nickte. «Abgemacht.»

Ein ungezähmtes Mädchen
titlepage.xhtml
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_000.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_001.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_002.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_003.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_004.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_005.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_006.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_007.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_008.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_009.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_010.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_011.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_012.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_013.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_014.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_015.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_016.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_017.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_018.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_019.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_020.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_021.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_022.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_023.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_024.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_025.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_026.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_027.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_028.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_029.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_030.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_031.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_032.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_033.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_034.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_035.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_036.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_037.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_038.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_039.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_040.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_041.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_042.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_043.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_044.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_045.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_046.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_047.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_048.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_049.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_050.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_051.html
CR!ACF6K75MTX4GQ0GRHGEKGADM1NAP_split_052.html