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35

Am nächsten Morgen herrschte perfektes normannisches Herbstwetter. Die Luft war frisch und klar, und auf dem Schlossplatz hatte sich eine Gesellschaft von knapp zwanzig Personen eingefunden, um nach Rouen zu fahren. Wagen, beladen mit Erfrischungen, sollten sie begleiten, doch die meisten entschieden sich, den kurzen Weg nach Rouen zu Fuß zurückzulegen.

In der Nacht hatte Seth sich vom Schock des Wiedersehens mit Beatrice erholt, und er wusste, was er seiner Gastgeberin und Lily schuldig war. Der Aufenthalt würde reibungslos verlaufen, redete er sich ein. Er war hier, und demnächst würde er Lily heiraten. Beatrice und der unablässig lächelnde D’Aubigny waren offensichtlich ein Paar. Und warum auch nicht? Sie alle hatten weitergelebt, wie zivilisierte Menschen das eben so machten. Und es war ja nur eine Woche, dann würden Lily und er wieder abreisen. Seth sah sich auf dem lauten Platz um, auf dem es von vergnügten Menschen und picknickkorbgefüllten Wagen wimmelte.

Er hielt nicht nach Beatrice Ausschau. Nicht im Geringsten.

Lily trug ein hyazinthblaues Kleid und einen kleinen Sonnenschirm in verschiedenen Blautönen und unterhielt sich angeregt mit Alexandre, der die Exkursion anscheinend leiten sollte. Der Prinz gestikulierte lebhaft, und Seths zukünftige Frau sah ihn fasziniert an. Weitere Gäste schlossen sich der Gesellschaft an, und Lancelot und Daniel, die bereits die besten Freunde waren, tollten zusammen herum, doch von Beatrice war weit und breit nichts zu sehen. Würde sie nicht mitkommen? Er sollte nicht enttäuscht sein. Aber er war es.

«Wartet auf mich.»

Als er die fröhliche Stimme hörte, begann Seths Herz wie verrückt zu klopfen. Beatrice ging an ihm vorbei und lächelte freundlich, bevor sie zu Alexandre trat, der ihre ausgestreckten Hände mit einem breiten Lächeln ergriff.


Alexandre ging an der Spitze, und Lily lief neben ihm. Die meisten Damen hatten ihre pastellfarbenen Sonnenschirme aufgespannt, und Beatrice unterhielt sich mit einigen von ihnen, während Alexandre immer wieder auf Sehenswürdigkeiten hinwies. Ein paar bellende Hunde tobten zwischen den zwei lärmenden Jungen herum.


Unterwegs fielen Beatrice und Seth immer weiter zurück. Am Ende spazierten sie als Letzte schweigend nebeneinanderher.

Im Schutz ihres Strohhuts wagte Beatrice einen verstohlenen Blick auf Seth. Sie hatte ihn noch nie mit so kurzen Haaren gesehen, dachte sie. Und seit ihrem Wiedersehen hatte er noch kein einziges Mal gelächelt. Nachdenklich drehte sie ihren Sonnenschirm.

«Ich wusste nicht, dass du hier sein würdest», sagte er plötzlich.

«Das hab ich mir schon gedacht», antwortete sie mit einem leichten Lächeln. «Du sahst sehr überrascht aus.»

«Hmm.»

Sie betrachtete sein ernstes Profil. Warum waren seine Augen nur so hart und müde? War er verärgert, weil sie hier war? Doch er hatte kein Recht, böse auf sie zu sein. Sie holte tief Luft, nahm allen Mut zusammen und sagte dann die Worte, die sie den ganzen Morgen über eingeübt hatte. «Ich hätte euch schon früher gratulieren sollen. Ich hoffe, Lady Tremaine und du, ihr werdet glücklich.» Sie versuchte zu klingen, als würde sie es ehrlich meinen. «Habt ihr schon ein Datum festgesetzt?»

Sie konnte sich noch daran erinnern, wie Seth ihr zu ihrer Verlobung gratuliert hatte, an dem grässlichen Tag bei Wilhelm in der Drottninggatan. Das lag inzwischen anderthalb Jahre zurück, aber es fühlte sich an, als wären es zehn. Sie entsann sich seines leeren Blickes. Hatte er sich damals genauso gefühlt wie sie jetzt? Als wollte ihm jemand das Herz aus der Brust reißen? Als würde er am liebsten herausschreien, dass das alles ein schrecklicher Fehler war? Sie rang nach Luft. Für diese Art von Konversation bin ich nicht der Typ, dachte sie. Schnell drehte sie wieder an ihrem Sonnenschirm und blickte über die Lavendelfelder.

«Lilys Eltern sind letzten Herbst gestorben, sie will das Trauerjahr noch abwarten. Wir werden vor Weihnachten heiraten», antwortete er kurz.

Beatrice blickte zu Lancelot und Daniel. Die beiden Jungen rannten herum wie übermütige Fohlen, sprangen und schrien und ließen sich von den Hunden jagen. Sie lächelte bemüht und nickte ihnen zu. «Da haben sich ja zwei gefunden. Wie schön für Lancelot, dass er jetzt einen gleichaltrigen Spielkameraden hat.»

«Es scheint dir in Frankreich zu gefallen, nicht wahr?», sagte Seth abrupt.

Beatrice zuckte mit den Schultern. Sie wusste, dass sie besser aussah denn je, und plötzlich war sie unwahrscheinlich froh darüber, dass Alexandre ihr gezeigt hatte, dass es neben Seth Hammerstaal noch andere Männer auf der Welt gab. Als Seth in ihr Leben gestürmt kam, war sie so unerfahren gewesen. Jetzt war sie klüger. Und Seth gehörte ihrer Vergangenheit an.

«Ich brauchte eine Luftveränderung», antwortete sie. «Ich nehme an, du weißt, was in Göteborg passiert ist?», fuhr sie fort. «Ich habe gesehen, dass du Johan geschrieben hast.» Sie hörte selbst, wie vorwurfsvoll das klang, doch es war ihr egal. Sie hatte freundlich und ungerührt wirken wollen, aber es tat gut, ein wenig von der Wut herauszulassen, die unter der Oberfläche schwelte. Kein einziges Mal hatte er sich nach ihr erkundigt. Er hatte sie einfach im Stich gelassen, hatte sie in Göteborg zurückgelassen, ohne daran zu denken, was er da hinter sich ließ, und war zu Lily geeilt.

«Ich habe nicht nur Johan geschrieben», erwiderte Seth kalt.

Beatrice schnaubte. «Ach ja, danke, ich habe dein kleines Briefchen von Henriksson bekommen. Dass du es überhaupt wagst, das zu erwähnen! Kannst du dir vorstellen, wie ich einen ganzen Tag komplett angezogen darauf gewartet habe, dass du mir den Wagen schickst, den du versprochen hattest?»

Seth merkte auf. Der Ton war plötzlich alles andere als höflich. Sein Blick bohrte sich in ihren, und der graue Stahl war eiskalt. «Ich hoffe, du willst damit nicht andeuten, dass ich dich in Göteborg angelogen hätte», antwortete er mit zusammengebissenen Zähnen.

Beatrice starrte zurück. Wenn er glaubte, sie mit diesem Ton und diesem Blick einschüchtern zu können, hatte er sich gründlich getäuscht. Seit ihrer letzten Begegnung hatte sie bedeutend Schlimmeres überlebt als den Zorn eines Seth Hammerstaal.

«Entschuldige, ich hatte nicht vor, etwas anzudeuten», gab sie frostig zurück. «Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mich undeutlich ausgedrückt habe. Ich wollte vielmehr sagen, dass du mich hinters Licht geführt hast.» Sie warf den Kopf in den Nacken. «Man kann nur hoffen, dass du Lady Tremaine besser behandelst. Weiß die zukünftige Frau Hammerstaal eigentlich, dass sie gestern einer deiner ehemaligen Liebhaberinnen vorgestellt wurde? Oder ist sie mit diesem Teil deiner Vergangenheit nicht vertraut?»

Ah, wie gut es doch tat, das einfach aussprechen zu können, dachte Beatrice und trat gegen einen Stein.

Sie hatte überhaupt nicht vorgehabt, eine Szene zu machen und ihm zu zeigen, dass er sie verletzt hatte, doch es fühlte sich so gut an, einmal die Meinung zu sagen, statt immer nur in würdevollem Schweigen zu leiden. Sie hatte sich zwar vorgenommen, die Woche über ganz ruhig und distanziert zu bleiben und Abstand zu Seth zu halten – aber Ruhe und Distanziertheit waren noch nie ihre starke Seite gewesen.

Seth starrte geradeaus. Er sagte nichts, sah aber überhaupt nicht amüsiert aus.

Dann wandte er sich zu ihr, und es schien, als wollte er etwas sagen, doch in diesem Moment wurden sie von verzweifelten Rufen von der Spitze des Zuges unterbrochen. Lily schrie irgendetwas, und Seth bedachte Beatrice noch mit einem kurzen Blick, bevor er zu seiner Verlobten eilte.

Beatrice folgte ihm. Irgendetwas war mit Lilys Sohn passiert.

«Das wollte ich nicht», hörte sie Lancelot sagen. Der französische Zehnjährige stand bleich und gefasst neben Daniel, der still weinend auf dem Boden saß. Lily ging neben ihnen in die Hocke. Lancelot war kreideweiß im Gesicht und kämpfte offenbar mit den Tränen.

«Er ist gestolpert, ich hab nichts gemacht», fuhr der Zehnjährige mit zitternder Stimme fort.

«Es war ein Unfall, das weiß ich doch», tröstete ihn Lily, während sie versuchte, ihren eigenen Sohn zu beruhigen.

Seth bahnte sich einen Weg durch die aufgeregte Menge. «Was ist passiert?»

«Daniel ist gestolpert und in diese Büsche da gefallen.»

Rasch untersuchte Seth Beine, Arme und Gesicht des Jungen. «Stechpalme», stellte er fest. «Das kann ziemlich übel werden. Er muss zurück zum Schloss.»

Alexandre hatte bereits einen der Wagen geholt, und Seth hob Daniel hinein. Danach half er Lily auf die Kutsche. «Ich bringe sie zurück. Können Sie nach einem Arzt schicken?»

«Schon passiert», sagte Alexandre. «Soll ich nicht mitkommen?»

Seth schüttelte den Kopf und nickte dem Kutscher zu. «Ich komme schon allein zurecht», antwortete er kurz, stieg auf und setzte sich neben Lily. Das Letzte, was Seth sah, war, wie Alexandre den Arm beschützend um Beatrice legte und sie sich an ihren stattlichen jungen Prinzen lehnte.

Seth schloss die Augen. Er saß in einem Wagen mit seiner zukünftigen Frau und seinem zukünftigen Stiefsohn. Er hatte kein Recht, eifersüchtig zu sein. Aber er war es. Und es tat schrecklich weh.


Als Prinz Alexandres Gesellschaft von ihrem Ausflug zurückkehrte, war es schon früher Abend. Seth stand vor dem Haus und rauchte eine Zigarre, als die Gäste aus den Wagen stiegen. Beatrice sah ihm in die Augen, während man ihr heraushalf, und Seth spürte, wie sein Herz zu flattern begann. Er versuchte, nicht darauf zu achten, wie rosig sie aussah, wie die Abendsonne die kurzen Locken glänzen ließ und wie sein Körper automatisch auf ihre Gegenwart reagierte.

Beatrice hielt seinen Blick fest und ging direkt auf ihn zu. Seth schluckte, und einen schwindelerregenden Augenblick lang bildete er sich ein, dass sie ihn umarmen und küssen wollte. Er hielt die Luft an, doch Beatrice lächelte nur höflich. Er runzelte die Stirn und dachte an ihren Streit. Was hatte sie eigentlich gemeint, als sie sagte, sie habe auf ihn gewartet? Das konnte ja wohl kaum wahr sein.

«Wie geht es Daniel?», erkundigte sie sich. «Der arme Lancelot war ganz untröstlich. Glaubst du, er kann hinaufgehen und ihn besuchen?»

«Er hat ziemlich viele Stacheln abbekommen», antwortete Seth. «Aber er wird keine bleibenden Schäden zurückbehalten.» Er wandte sich Lancelot zu, der ihn mit ernsten Augen ansah. «Daniel hat schon nach dir gefragt», sagte er freundlich zu dem Jungen. «Soll ich dich zu seinem Zimmer bringen?»

«Merci, monsieur», bedankte sich Lancelot leise.

Seth nickte Beatrice zum Abschied kurz zu, bevor er dem Jungen einen Arm um die schmalen Schultern legte und mit ihm ins Haus ging.


Beatrice setzte sich auf ihr Bett und atmete tief aus. Es wurde immer schwerer, die Gleichgültige zu spielen. Frustriert zog sie an ihrem Hutband, als ihre Zofe eintrat. «Ein Bad, Madame?»

«Ja danke, Chloë, sehr gern.»

Beatrice hörte, wie die Dienstmädchen eine Wanne hereintrugen und mit Wasser füllten, lauschte dem Plätschern und dem Schwatzen der Mädchen. Es war albern von ihr, aber heute beim Abendessen wollte sie schön sein. Sie sollte sich nicht weiter um Seth kümmern, er hatte sie so grausam verraten, und jetzt gehörte er obendrein einer anderen Frau, wiederholte sie sich immer wieder. Doch sie musste ihn nur ansehen, um sofort wieder daran zu denken, wie sich sein nackter Körper einmal gegen den ihren gepresst hatte.

Müde rieb sie sich die Augen. Vielleicht war es jetzt ja genauso zwischen Seth und Lily? Vielleicht spielte es für Männer ja keine so große Rolle, welche Frau sie gerade im Arm hielten? Aber für mich ist es ein gewaltiger Unterschied, dachte sie düster. Alexandre hatte sie schon mehrmals geküsst, und obwohl seine Küsse sehr angenehm waren, kamen sie nicht einmal in die Nähe der beinahe animalischen Leidenschaft, die sie mit Seth erlebt hatte.

Jenem Seth, der sich jetzt eine andere Frau ausgesucht hatte, um mit ihr sein Leben zu teilen, rief sie sich ins Gedächtnis. Es brannte in der Brust. Manchmal tat es so weh, an ihn und Lily zu denken, dass sie nicht wusste, wie sie den Schmerz nur noch einen einzigen Tag aushalten sollte. Sie holte tief Luft und ließ sich von Chloë die staubigen Kleider ausziehen. Nun hatte sie schon so viel überstanden, dann würde sie das hier ja wohl auch noch bewältigen, oder? Sie stieg aus den Unterkleidern und ließ sich von Chloë in ein Handtuch hüllen. Wenn diese Woche vorüber wäre, würde sie erst einmal eine Weile verreisen, beschloss sie. Sich vielleicht ein wenig umsehen und die Welt entdecken.

«Madame, Ihr Bad?»

«Danke.»

Das Mädchen half ihr, als sie in das duftende Wasser stieg. «Ich werde heute Abend das hellgelbe Kleid anziehen. Das mit den weiten Ärmeln», sagte sie und lehnte sich in dem dampfenden Wasser zurück.

«Oui, madame.»


«Ich habe von Daniels Unfall gehört», sagte Jacques. Bekümmert betrachtete er Seth, während sie von der Terrasse zurück ins Haus gingen. Der Norweger hatte sich umgezogen. Er war frisch rasiert, und sein feuchtes Haar verriet, dass er gebadet hatte. Doch er sah genauso ernst und erschöpft aus wie am Vortag.

«Dem Jungen geht es schon besser, aber Lily bleibt heute Abend bei ihm», erklärte Seth. «Ich habe versprochen, auch bald hochzugehen. Er langweilt sich, ich schätze, das ist ein gutes Zeichen.»

Jacques wand sich. «Vivienne war der Meinung, ich hätte dir sagen sollen, dass Beatrice hier ist», brachte er schließlich missmutig hervor.

Seth zuckte bloß mit den Schultern, doch Jacques sah ihn ernst an. «Alexandre hat ihr sehr gutgetan. Vivienne sagt, dass es Beatrice äußerst schlecht ging, als sie hier ankam.»

«Inwiefern?», wollte Seth wissen.

«Vivienne hat nicht so viel erzählt, aber ich habe Beatrice auch sehr liebgewonnen. Ich würde es nicht gern sehen, wenn sie noch einmal so schlecht behandelt werden würde.»

Seth hörte den warnenden Unterton in der Stimme seines Freundes und spürte, wie der Zorn in ihm aufstieg. Genau in diesem Augenblick schloss sich Alexandre ihnen an, und Seth musterte den jungen Mann gereizt, der in diesem Leben anscheinend alles haben durfte. Sogar Jacques – ein Mann, dem Seth unzählige Male das Leben gerettet hatte und der ihm eigentlich unverbrüchliche Treue schuldete – stand auf der Seite dieses Welpen.

«Monsieur?», begrüßte ihn Alexandre. «Ich wollte mich nur erkundigen, wie es Daniel geht? Und Lady Tremaine?» Er sah Seth an. «Komme ich gerade ungelegen?», fragte er dann irritiert.

Seth gab sich keine Mühe, seine Gereiztheit zu verbergen, denn plötzlich wusste er ohne jeden Zweifel, dass dieser lebensfrohe künstlerische Prinz Alexandre Beatrice geküsst hatte. Und Jacques hatte erzählt, Vivienne sei sicher, dass die beiden eine Affäre hätten. Die Eifersucht zerrte unbarmherzig an ihm.

«Sie ist eine großartige Frau», fuhr Alexandre mit einem Lächeln fort, und Seth hätte den großspurigen Prinzen am liebsten geschüttelt, bis er sein Genick brechen hörte. Wie konnte Alexandre es wagen, sich einfach zu ihm zu gesellen und über Beatrice zu reden?

«Ich bin sicher, Seth weiß deine freundlichen Worte über Lady Tremaine zu schätzen. Nicht wahr, Seth?», mischte sich Jacques ein und schoss einen warnenden Blick auf Seth ab. Der konnte sich gerade noch zusammenreißen, als ihm klar wurde, dass Alexandre von Lily gesprochen hatte und nicht von Beatrice. Steif nickte er dem Mann zu, dem das enervierende Lächeln offenbar nie verging.

«Vivienne hat mir erzählt, dass Sie mit Jacques im Krieg waren. Ich war erst zehn, als der Krieg ausbrach, aber ich habe mehrere ältere Verwandte, die daran teilgenommen haben. Sie waren Cuirassier, nicht wahr?»

Alexandre kann nichts dafür, dass ich mir wie ein Fossil vorkomme, dachte Seth und massierte sich den Nacken. Da machte sich das nächste strahlende Lächeln auf Alexandres Gesicht breit, und Seth wusste genau, was passiert war. Sie war gekommen. Er spürte Beatrices Anwesenheit im Raum mit jeder Faser seines Körpers, und er wagte es nicht, sich umzudrehen. Stattdessen blieb er stehen, ließ die Hand im Nacken liegen und fürchtete sich vor seiner eigenen Reaktion. Und als er sich schließlich doch umwandte, war die Wirkung geradezu elektrisch. Sie hatte irgendetwas mit ihren Haaren gemacht, sie schwangen frei und fingen dabei jeden letzten Strahl der Abendsonne auf. Ihr Kleid saß ihr – sofern überhaupt möglich – noch enger am Leib als das vom Vorabend, es grenzte an ein Wunder, dass sie sich überhaupt darin bewegen konnte. Der dünne zitronengelbe Stoff von Rock und Ärmeln flatterte bei jedem ihrer Schritte. Sie lächelte wieder ihr breites, strahlendes Lächeln, ein Lächeln, das ausschließlich dazu gut zu sein schien, ihn durch die Hölle zu schicken. Er stellte das Denken ein.

Alexandre trat zu ihr, und Beatrice ergriff seine ausgestreckten Hände und ließ sich von ihm auf die Wange küssen. Seth versuchte, den Blick von dem Paar loszureißen, doch es wollte ihm nicht gelingen.

«Ach, sie sind so wundervoll zusammen», seufzte Vivienne neben Seth.

Er hatte die Französin gar nicht kommen sehen. Andererseits – in diesem Moment hätte er auch keinen beleuchteten Zug kommen sehen, verdammt. Sie blinzelte ihn unschuldig an.

«Geht es Ihnen besser?», fragte Seth höflich. «Jacques hat mir erzählt, Sie hätten sich erkältet», fuhr er fort, während er gleichzeitig gegen den Impuls ankämpfte, zu Alexandre hinüberzugehen und ihn mit einem kräftigen Schlag zu Boden zu strecken.

«Ja, danke», antwortete Vivienne. «Es braucht schon mehr als eine kleine Erkältung, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber natürlich sind nicht alle so robust wie ich.» Ruhig sah sie ihn über ihren flatternden Fächer hinweg an.

«Was soll das heißen?», fragte er. Vivienne hatte schon immer ein untrügliches Gespür dafür gehabt, wie sie sich am besten in Dinge einmischte, die sie nichts angingen.

«Alexandre tut Beatrice sehr gut», stellte Vivienne fest und deutete mit einem Nicken auf die beiden. «Und sie hat genug mitgemacht.»

«Ist es wirklich so anstrengend für eine junge Frau, Witwe eines Grafen zu sein und sich jetzt von einem Prinzen hofieren zu lassen?», fragte er gereizt, obwohl er wusste, dass er besser den Mund halten sollte.

Vivienne schenkte ihm einen verächtlichen Blick. «Ersparen Sie mir bitte Ihre Kommentare. Sie haben keine Ahnung, was diese Frau mitgemacht hat. Hören Sie auf meinen Rat und passen Sie auf, dass Sie nichts anfangen, was Sie nicht auch zu Ende bringen wollen.»

Seth sah zu Beatrice hinüber. Sie wirkte nicht so, als hätte sie seit ihrer letzten Begegnung nennenswert gelitten, im Gegenteil, sie sprühte vor Leben und Energie. Trotzdem war an Viviennes warnenden Worten etwas, was ihn unangenehm berührte. Auch Jacques hatte davon gesprochen, dass es Beatrice übel ergangen war, fiel ihm ein. Außerdem hatte Vivienne recht, hier konnte er nichts zu Ende bringen. Mit einem Blick auf die Uhr beschloss er, so bald wie möglich zu Lily und Daniel hinaufzugehen. Er sah Beatrice lachen. Für ihn war hier nichts mehr zu holen.

Ein ungezähmtes Mädchen
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