21
Blasieholmstorg 1, Stockholm
August 1881
Seths Haus in Stockholm lag am Blasieholmstorg, in der bei der Gesellschaft beliebtesten Gegend der Hauptstadt. Das große, moderne Haus war neu errichtet und an seine Bedürfnisse angepasst worden, sowohl für seine Arbeit wie auch für seine repräsentativen Aufgaben.
Sogar eine der wenigen Telefonleitungen Stockholms führte zu diesem Haus.
Seth vergnügte sich oft damit, irgendwelche neuen Erfindungen, die er aufgestöbert hatte, zu Hause auszuprobieren, und gerade jetzt lief im Badezimmer ein Experiment mit fließend warmem Wasser, das bis jetzt jedoch keine vielversprechenden Ergebnisse erzielt hatte, wenn man seiner gereizten Haushälterin glauben durfte.
Seths Diener, Ruben, hielt ihm die Jacke hin.
«Das ist eine Herbstjacke, die kann ich doch im August nicht anziehen», protestierte Seth.
«Die sieht doch aus wie alle anderen Jacken auch», gab Ruben unbekümmert zurück. Diese Diskussion führten sie jeden Tag.
«Hol stattdessen die graue», sagte Seth.
Ruben seufzte, während er tat, was man ihm aufgetragen hatte.
Seth hatte ihn in Amerika kennengelernt. Trotz seiner Nörgeleien war der Mann ein verlässlicher Diener. Er war in den Straßen von New York aufgewachsen, er beugte sich keiner Gewalt, und Seth, der Ressourcen zu nutzen verstand, hatte ihn gern in seinen Diensten.
«Hör auf zu nörgeln. Du kannst jederzeit gehen, wenn du willst», stellte Seth fest, der wusste, dass er den Mann nicht mal loswerden würde, wenn er es versuchte.
«Ja, das sagen Sie immer.»
«Lass die Köchin in Frieden, während ich weg bin. Und lass den Butler seine Arbeit machen, ich möchte keine Klagen hören, wenn ich zurückkomme.»
«Soll ich den Wagen rufen lassen?», erkundigte sich Ruben mit zweideutiger Miene, die deutlich verriet, dass der Diener in Seths Abwesenheit machen würde, was er wollte.
Seth schüttelte den Kopf. «Ich habe viel Zeit, ich glaube, ich laufe, dann kann ich mir die Füße etwas vertreten.»
«Sie scheinen ja seit langem mal wieder gute Laune zu haben, das freut mich.»
«Freu dich nicht zu früh», entgegnete Seth. «Du wirst sehen, bald bin ich wieder mein altes, griesgrämiges Ich.»
«Jawohl, Herr. Gott steh uns bei, Herr.»
Seth verließ sein Haus und legte ein flottes Tempo vor. Es war schönes Wetter, in der Nacht hatte es geregnet, und die Luft war ungewöhnlich klar und frisch. Ruben hatte recht, er hatte gute Laune. Vielleicht wendete sich das Blatt ja endlich?
Er überquerte die Straße. Überall wurden neue Häuser gebaut, Leitungen verlegt und Straßenpflaster erneuert, und ihm fiel auf, wie schnell Stockholm – ebenso wie New York – den Schritt in die neue Zeit machte. Mit einem Zwinkern grüßte er zwei kichernde Schwesternschülerinnen, machte einer vorbeifahrenden Pferdebahn Platz und dachte über die Verabredung nach, zu der er unterwegs war, als er sie plötzlich erblickte.
Beatrice.
Sie stand vor einem großen Schaufenster, einem Antiquariat, wie er sah. Sie trug einen dunklen Hut, und ihre Kleidung war keusch und düster. Das störte ihn. War Rosenschöld wirklich so geizig seiner zukünftigen Frau gegenüber, dass er ihr nicht mal ein paar hübsche Kleider kaufen konnte? Auf der Soiree war es genauso gewesen, fiel ihm wieder ein: Die anderen Frauen trugen farbenfrohe Stoffe und lachten, während Beatrice in einem Kleid in stumpfer Farbe erschienen war und noch dünner aussah als bei ihrer letzten Begegnung in Värmland.
Als er sie kennengelernt hatte, war sie eine kurvige, lebenslustige Frau gewesen, ganz weiches Fleisch und vergnügte Grübchen. Seitdem war sie abgemagert und richtiggehend dürr geworden – als hätte ihr jemand alle Lebenslust und Energie ausgesaugt.
Sogar von hinten machte sie einen gedämpften Eindruck. Ich sollte doch froh sein, dass sie so unglücklich aussieht, dachte er, dass sie vielleicht auch einen Bruchteil von dem durchleidet, was ich durchlitten habe.
Daher wollte er auch seinen Impuls, zu ihr zu gehen und sie zu begrüßen, ignorieren. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen, und er musste nun weitergehen, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne. Beatrice Löwenström – demnächst Gräfin Rosenschöld, erinnerte er sich – war eine oberflächliche Frau, die jetzt hoffentlich selbst ein bisschen von dem Unglück ernten durfte, das sie gesät hatte. Eine Frau, die sehnsüchtig vor einem Antiquariat stand. In einem hässlichen Kleid. Ohne weiter nachzudenken, näherte er sich ihr.
Erst reagierte sie gar nicht. Wahrscheinlich war sie so versunken in die Betrachtung der Bücher, doch dann erblickte sie sein Spiegelbild im Schaufenster. Sie erstarrte, ohne sich umzudrehen, und er – der eigentlich hätte weitergehen müssen – trat neben sie.
Sie schwiegen.
«Das da hatten wir zu Hause», sagte Beatrice schließlich und deutete mit einem Nicken auf ein Buch in der Auslage. Es sah alt und staubig aus, bestimmt lag es schon lange dort. «Papa hat es ins Schwedische übersetzt und ein schwedisches Vorwort zu dieser Ausgabe verfasst. Wir hatten es in unserer Bibliothek, aber dann wurde es mit den ganzen anderen Sachen verkauft. Seltsamerweise vermisse ich von allen Büchern dieses am meisten.»
«Symposion», las Seth auf dem Umschlag. «Wovon handelt es?»
«Ich befürchte, es gilt als schrecklich schockierend. Eigentlich sollte ich es gar nicht lesen, aber ich habe es trotzdem getan.» Sie lächelte, und ganz kurz blitzte etwas von der alten Beatrice auf.
Ihm wurde eng in der Brust.
«Es ist eine griechische Erzählung, die vom wahren Wesen der Liebe handelt. Warum bestimmte Menschen sich zueinander hingezogen fühlen», fuhr sie fort, und Seth fragte sich, ob sie auch spürte, wie die Luft zwischen ihnen zu vibrieren begann. «Es ist in Dialogform geschrieben, weil Platon fand, dass man wahres Wissen nur durch Gespräche erlangen kann.»
Seth sagte nichts. Er hatte Angst, den Zauber zu brechen, den ihre melodische Stimme und der uralte Mythos um sie spannen.
«Diese Geschichte erzählt, wie zu Anbeginn aller Zeiten jeder Mensch ein Ganzes war und vier Arme und vier Beine hatte. Das machte die Menschen stark, doch eines Tages waren sie so dumm, die Götter herauszufordern. Und die bestraften uns für unseren Hochmut, indem sie uns in der Mitte durchtrennten und uns wie Scherben über die ganze Welt verteilten. So sind wir dazu verdammt, über die Erde zu wandern und verzweifelt nach unserer anderen Hälfte zu suchen», schloss sie leise.
Seth blickte auf seine Hand, die ihrer so nah war, dass sich ihre Finger beinahe berührten. Vier Arme und vier Beine.
«Beatrice!»
Tante Harriet Löwenström hatte sie gerufen und kam jetzt auf sie zu. Im Nu hatte sich die aufgeladene Atmosphäre zwischen ihnen in Luft aufgelöst.
«Entschuldige, die Erzählung hat mich so mitgerissen», sagte Beatrice leise. «Wie gesagt, das Ganze ist ein bisschen heidnisch.» Sie hielt ihm die Hand hin. «Adieu», sagte sie.
Sie musste gehen.
Seth ergriff ihre behandschuhte Hand. Er wollte sie in seine Arme nehmen, einen Kokon um sie spinnen, einen Kokon der Fürsorge, des Luxus und des Überflusses, doch sie zog die Hand hastig zurück und drehte sich zu ihrer Tante um.
«Entschuldige, Tante Harriet, ich war ganz in Gedanken versunken.»
Seth begrüßte die ältere Dame, die seinen Gruß jedoch nicht erwiderte, sondern sich nur umdrehte und Beatrice mit sich zog.
Er sah ihnen nach, während sie fortgingen. Fort von ihm. Offensichtlich würde es ihm nicht gelingen, jemals weiterzugehen.
«Was wollte er?», fragte Harriet, sobald sie um die nächste Ecke gebogen waren.
«Nichts. Wir haben über ein Buch gesprochen, das war alles. Er wollte nichts weiter», antwortete Beatrice müde. Die Begegnung hatte alle Kraft aus ihr gesaugt, sie fühlte sich leer und schutzlos. «Können wir nach Hause gehen? Bitte, ich kann nicht mehr laufen.»
Beatrice schaffte den Heimweg, ohne in Tränen auszubrechen, doch hinterher konnte sie sich nicht mehr entsinnen, welchen Weg Harriet und sie genommen und worüber sie sich unterhalten hatten.
Er war immer noch so elegant, und er war so zum Verzweifeln nett gewesen, überhaupt nicht wie auf Viviennes Soiree, und das war im Grunde das Allerschlimmste. Ein netter Seth war schwerer, viel, viel schwerer zu ertragen. Ein netter Seth weckte Hoffnungen, und das tat so weh.
Sie konnte immer noch nicht verstehen, dass aus ihnen niemals ein Paar werden würde. Es war unfassbar, dass sie sich demnächst nicht mehr sehen sollten, dass sie zu Rosenschöld gehören – beziehungsweise ihm gehören – würde. Dass Seth nur allzu bald eine andere Frau finden würde, mit der er lachen konnte und die er heiraten würde. Sie wollte sich einfach nur ins Bett legen und in ihr Kissen weinen, doch als sie das Haus betraten, wurden sie schon an der Tür von Miss Mary empfangen. Sie war vor ein paar Tagen aus England zurückgekehrt, und jetzt stand sie im Vorflur und war ganz grau im Gesicht.
«Was ist passiert?», fragte Harriet.
«Gerade ist ein Telegramm gekommen – Sofia ist krank.»
Beatrice unterdrückte einen erschrockenen Schrei.
Nicht Sofia, alles, nur nicht das. Nicht Sofia.
«Sie sind in Göteborg, können aber nicht weiterreisen. Sofia kann nicht transportiert werden, es geht ihr zu schlecht.» Mary sah sie verzweifelt an, und ihre Stimme brach, als sie sagte: «Johan scheint sich große Sorgen zu machen. Sie erwartet ein Kind.»
Gleich am nächsten Tag machten sie sich auf den Weg. Sie standen reisefertig im Flur, mit den Koffern zu ihren Füßen, und warteten auf die Droschke, die sie zum Hauptbahnhof bringen sollte. Beatrice, Mary und Harriet wollten den Vormittagszug nach Göteborg nehmen, Wilhelm ein paar Tage später nachkommen.
Es klopfte, und da die Dienstboten vollauf mit dem Gepäck beschäftigt waren, machte Beatrice selbst auf. Als sie die Tür öffnete, blickte sie direkt in Seths Gesicht.
«Komme ich ungelegen?», fragte er, als er ihren Gesichtsausdruck und das Chaos hinter ihr im Flur sah.
Wie oft hatte sie sich ausgemalt, ihn auf diese Weise wiederzusehen? Geträumt, dass er an die Tür klopfen und sie hier rausholen würde. Doch jetzt …
«Wir reisen nach Göteborg», erklärte sie. «Sofia ist krank.»
«Kann ich etwas tun?», fragte er ernst.
Beatrice lächelte traurig. «Es tut mir leid, aber es passt gerade wirklich schlecht.»
Sie sahen einander an.
«Seth?»
Seine grauen Augen ruhten intensiv auf ihr.
«Warum bist du hergekommen?», fragte sie.
Er zog ein kleines braunes Paket aus der Tasche und reichte es ihr. «Gute Reise, Beatrice», sagte er und ging davon.
Noch bevor sie den braunen Umschlag geöffnet hatte, wusste sie, was darin war. Und als Mary und Harriet später auf den Sitzen ihres Erste-Klasse-Abteils schliefen, strich sie mit den Fingerspitzen über das Päckchen auf ihrem Schoß.
Immer wieder las sie die wenigen Zeilen, die er geschrieben hatte, blickte mit glänzenden Augen auf den Zettel mit den kurzen, fast schroffen Worten, mit denen er sie bat, das Buch als Geschenk anzunehmen, als Ersatz für das verlorene. Sie versteckte die kleine Ausgabe vom Symposion zusammen mit dem Brief, den sie von Vivienne aus Uppsala bekommen hatte, in ihrer Handtasche. Doch den Zettel von Seth, das dünne Papier mit seiner kühnen Handschrift, behielt sie die ganze Fahrt über in der Hand, als wäre sie nicht in der Lage, die letzte brüchige Verbindung zu dem loszulassen, was sie verloren hatte.
*
Während ihr Gepäck in das Haus getragen wurde, das Johan in Göteborg gemietet hatte, eilte Beatrice nach oben zu Sofia. Man führte sie in einen dunklen Raum, der stark nach Kampfer roch. Es war so leise, dass sie zuerst glaubte, sich im Zimmer geirrt zu haben, doch dann hörte sie ein schwaches Rascheln vom Bett her.
«Ist Bea schon gekommen? Warum dauert das so lange?» Die Stimme war schwach wie ein Windhauch.
«Meine Liebe, verzeih, ich bin so schnell gekommen, wie ich nur konnte.» Beatrice trat ans Bett und versuchte zu verbergen, wie schockiert sie war. Als sie vor ein paar Wochen auseinandergegangen waren, hatte Sofia vor Glück und Gesundheit nur so gestrahlt, doch jetzt war ihr schönes Gesicht müde und abgemagert. Ihr blondes Haar lag in glanzlosen Strähnen auf dem Kissen, und jeder Atemzug schien sie große Mühe zu kosten.
«Ich bin froh, dass du gekommen bist», flüsterte Sofia, doch ihre Stimme klang mutlos. «Ich bin so müde, und ich wollte dich so gern sehen. Eigentlich hatte ich dir schon in Stockholm erzählen wollen, dass wir ein Kind erwarten, aber ich wollte erst ganz sicher sein.» Tränen liefen ihr über die Wangen. «Armer Johan, er wird furchtbar traurig sein.»
«Was redest du denn da für Dummheiten?»
Sofia schüttelte den Kopf. «Ich sehe doch, wie sie mich anschauen, wenn sie hereinkommen. Ich werde das nicht überstehen. Ich war schon immer so ein jämmerliches Ding.»
«So was darfst du nicht sagen. Das lasse ich nicht zu. Und warum ist es überhaupt so dunkel hier drinnen?»
Beatrice stand auf und ging ans Fenster. «Du kannst Dunkelheit nicht leiden.» Sie zog die Vorhänge zurück, wobei sie mit ihren Tränen kämpfte und dem hoffnungslosen Gefühl, das dieses Krankenzimmer ihr einflößte. «Du hast einen herrlichen Ausblick auf das Wasser und den Hafen», sagte sie und hasste sich selbst für den munteren Ton ihrer Stimme. «Segeln die Schiffe nach England von hier ab?»
«Ich weiß nicht, ich habe noch keines gesehen. Ich kann mich ja kaum im Bett aufsetzen, geschweige denn aus dem Fenster schauen.»
Beatrice setzte sich wieder auf die Bettkante. «Kann ich etwas für dich tun? Willst du ein bisschen Wasser haben?»
Sofia schüttelte nur matt den Kopf.
«Erzähl mir von dem Kind», bat Beatrice. «Was meint der Doktor, wann wird es kommen?»
«Im Januar. Aber er glaubt, dass ich es nicht überstehen werde.»
«Hat er das etwa gesagt?», fragte Beatrice scharf. Was dachten sie sich bloß dabei, Sofia mit solchem Gerede zu erschrecken?
«Keiner sagt direkt etwas zu mir. Sie lächeln und lächeln immer bloß, aber ich sehe es in ihren Augen. Und ich höre, was sie sagen, wenn sie glauben, dass ich schlafe. Aber ich rede immer nur von mir – dabei freue ich mich so sehr, dass du gekommen bist.» Sie lächelte schwach. «Ich habe gehört, dass deine Hochzeit wieder verschoben worden ist?»
«Ja», bestätigte Beatrice. Onkel Wilhelm hatte Rosenschöld eine Nachricht zukommen lassen und die Heirat bis auf Weiteres verschoben. Unter den momentanen Umständen wollte anscheinend nicht einmal er die Hochzeit forcieren.
Beatrice hätte sofort geheiratet, noch heute, wenn sie Sofia damit wieder hätte gesund machen können.
Sofia lächelte. «Ich fühle mich schon etwas besser, seitdem du da bist.»
«Wie schön, dann bleibe ich erst mal hier. Und dann, im Januar, wenn du ein gesundes Baby im Arm hast, werden wir über das alles lachen.»
«Ich glaube auch. Du hast ja immer recht.» Sofia lehnte sich in die Kissen und schloss die Augen.
Als Beatrice die Treppen herunterkam, sah Mary ihr besorgt entgegen.
«Sie sieht sehr schlecht aus», beantwortete Beatrice die unausgesprochene Frage.
«Johan und die anderen warten unten», teilte Mary ihr mit.
Gemeinsam gingen sie ins Erdgeschoss und begegneten den resignierten Blicken der anderen.
«Seit wir zurück in Schweden sind, hat sie ständig nach dir gefragt», sagte Johan. «Sie wollte unbedingt nach Stockholm, aber es war unmöglich, sie war schon viel zu schwach. Es wäre lebensgefährlich gewesen, sowohl für sie als auch für das Kind.»
Harriet ließ sich auf einen Stuhl sinken und hielt sich die Hand vor den Mund. Mary trat ans Fenster und blickte hinaus. Keine der beiden Frauen sagte etwas, doch ihre Sorge stand geradezu greifbar im Raum.
«Ich wünschte, ich wäre früher gekommen», sagte Beatrice.
Johan schüttelte den Kopf. «Jetzt können wir nur noch das Beste hoffen.»
«Was sagt der Arzt?»
«Man kann nichts tun, nur abwarten. Sie muss sich ausruhen. Zu etwas anderem ist sie sowieso nicht mehr in der Lage.»
«Du siehst auch müde aus», bemerkte Beatrice sanft.
Johans normalerweise so frohes Gesicht war von Schlafmangel und Angst gezeichnet. Er sah sie mit glänzenden Augen an. «Ich kann nicht schlafen, ich denke mir immer nur, dass wir zu Hause hätten bleiben sollen. Sofia ist so zerbrechlich. Wenn wir nicht auf Hochzeitsreise gegangen wären, dann wäre sie vielleicht …»
«Ach, Johan, ich verstehe, dass du dir Vorwürfe machst. Aber wenn Sofia wüsste, dass du dir die Schuld gibst, würde es ihr das Herz brechen. Hinterher weiß man eben immer alles besser, aber so darf man nicht denken. Sei froh, dass ihr verreist seid und dass ihr das zusammen erleben konntet. Ich bin sicher, ihr hattet viel Spaß.»
Er verzog den Mund. «Du hast recht, wir fanden die Reise beide wundervoll.»
«Und bald habt ihr ein kleines Kind. Das wird ganz großartig», meinte Beatrice.
Er sah sie an, und Beatrice hörte selbst, wie aufgesetzt ihre Worte klangen. «Ja», sagte er und ließ sich auf ihre Scharade ein, denn die Alternative war unerträglich.
*
Beatrice wich rasch aus, um im Gedränge nicht ins Wasser geschubst zu werden. Dann setzte sie ihren Spaziergang durch das Gewühl am Göteborger Hafen fort, wo Akrobaten die herbstlichen Spaziergänger am Kai unterhielten. Sie ging zurück in die Innenstadt, vorbei an den Kontoren der zahlreichen Reedereien, und atmete die typische salzige Göteborger Luft tief ein. Es war faszinierend, wie verschieden Städte sein konnten. Diese hier war von ihrem lebhaften Hafen und dem Gefühl vom großen Amerika-Abenteuer geprägt – überall hörte man verschiedene Dialekte und Sprachen, die Straßen rund um den Hafen summten erwartungsvoll, und dazu blies ständig ein leichter Wind.
Sie überquerte eine Straße, blieb vor einer Konditorei stehen und sah sehnsüchtig durchs Fenster, doch ohne Begleitung wagte sie sich nicht hinein. Stattdessen eilte sie zurück zum Haus in der Sillgatan, weil sie sich Sorgen machte, ob sie nicht schon wieder zu lange fortgeblieben war. Die Angst, dass sich Sofias Zustand weiter verschlechtern könnte, sobald sie aus dem Haus ging, ließ sie nie los.
Nachdem sie ihren Hut und ihre Handschuhe einem Hausmädchen übergeben hatte, lief sie schnell hinauf in Sofias Zimmer.
«Ich war unten am Hafen und habe dir Bonbons mitgebracht.» Sie legte die braune Tüte auf den Nachttisch und öffnete ein Fenster. Sie wusste, dass Sofia wahrscheinlich nichts essen konnte, aber aus dem Bedürfnis heraus, etwas zu unternehmen und nicht einfach zuzusehen, wie es Sofia mit jedem Tag und jeder Woche schlechter ging, kaufte sie ihr kleine Mitbringsel, kochte eine Kanne Tee nach der anderen und las laut aus Büchern vor, von denen sie wusste, dass Sofia sie mochte. Sie hoffte, dass ihre Fürsorge die Cousine nicht mehr ermüdete, sondern tröstete. «Heute ist die Luft ganz wunderbar. Sie kann dir unmöglich schaden.»
«Mama besteht darauf, dass das Fenster geschlossen bleibt», sagte Sofia müde. «Aber ich höre gern die Geräusche von draußen. Ich wünschte, ich könnte hinausgehen.»
«Bald können wir zusammen spazieren gehen, meine Liebe.»
Sofia nickte und schloss die Augen.
Sie konnten sich nichts mehr vormachen. In den Wochen seit ihrer Ankunft hatte sich Sofias Zustand nicht gebessert. Beatrice warf einen Blick auf ihre bettlägerige Cousine, die wieder eingeschlafen war. Sie war selten länger wach, und besonders erschöpft war sie dann, wenn der Arzt dagewesen war und sie zur Ader gelassen hatte.
Durchs Fenster sah Beatrice die Septembersonne über den diesigen Himmel wandern. Sie wärmte immer noch, doch der Herbst lauerte schon an der Ecke, und die Abende waren eher kühl. Sie lehnte die Stirn ans Fenster. Warum ging es Sofia nicht besser? Warum konnte der Arzt nicht mehr tun?
Sofia stöhnte, und Beatrice eilte an ihre Seite. Die Schwangerschaft würde noch ein paar Monate dauern, wenn der Arzt richtig gerechnet hatte, dachte Beatrice verzweifelt, während Sofia sich abmühte, um ein paar kleine Schlucke von der Limonade zu trinken. War es möglich, mehrere Monate so zu überleben?
Und dann auch noch eine Entbindung. Wenn Sofia doch nur kräftiger wäre. Wenn die Schwangerschaft doch schon weiter fortgeschritten wäre. Wenn doch …
Beatrice stellte das Glas ab. Sie setzte sich auf die Bettkante, strich Sofia über das matte Haar und sah zu, wie ihre Cousine wieder einschlummerte.
«So ist es gut, meine Liebe», murmelte sie und küsste sie auf die Stirn, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie konnte jetzt einfach nicht stark sein, also gestattete sie sich kurz, ein wenig zu weinen. Doch dann trocknete sie sich rasch das Gesicht, nahm Sofias magere Hand und rollte sich neben ihr im Bett zusammen, als könnte sie ihr so etwas von ihrer eigenen Kraft abgeben. Dann schlief auch Beatrice ein, so wie sie es oft getan hatte, als Sofia und sie noch Kinder gewesen waren und ihre Kümmernisse so geringfügig, dass sie bis zum nächsten Morgen verflogen waren.
Ein paar Stunden später weckte Johan sie vorsichtig. «Komm, du musst etwas essen», sagte er. «Du hast das Abendessen verschlafen, aber ich wollte ihnen nicht erlauben, dich zu wecken. Ich habe aber Bescheid gegeben, dass man dir eine kleine Mahlzeit herrichten soll.»
«Danke, ich komme gerne einen Moment runter.»
«Ich bleibe so lange bei ihr», sagte Johan und sah sie ernst an. «Danke, Beatrice.»
Sie setzte sich an den Esstisch und trank mit Genuss den heißen Tee. Wilhelm erschien im Türrahmen, zögerte aber auf der Schwelle, als er sie sah.
«Komm herein, Onkel. Hier ist frischer Tee», sagte sie freundlich. «Sofia schläft.»
«Ich habe gehört, dass du wieder gegen den Aderlass protestiert hast.»
«Weil Sofia danach jedes Mal schrecklich mitgenommen ist», erklärte sie. «Ich habe gelesen, dass so etwas mehr schaden als nützen kann.»
Er trat einen Schritt ins Zimmer und schnaubte. «Immer liest du irgendwas.» Er schüttelte den Kopf. «Immer musst du dich einmischen und alles besser wissen. Glaubst du, du bist schlauer als die Ärzte?»
«Ich will das Beste für Sofia, weiter nichts», antwortete Beatrice. Ihre Stimme war ruhig, doch als sie die Teetasse hob, zitterte ihre Hand.
«Du und deine hochnäsige Art», zischte er. «Eine Schande bist du.»
«Müssen wir jetzt streiten? Können wir nicht in Sofias Interesse versuchen, freundlich miteinander umzugehen? Sie ist froh, mich hierzuhaben, auch wenn es dir da anders geht.»
«Meine Tochter hat immer gewusst, was das Beste für sie ist.»
Die Tränen brannten hinter ihren Lidern, doch sie war nicht traurig, sondern wütend. «Das ist Johans Haus», sagte sie. «Du kannst mich nicht rauswerfen. Oder möchtest du mich vielleicht wieder einsperren?»
Die Augen ihres Onkels verengten sich. «Ich verstehe nicht, womit ich das verdient habe. Dich und deine ständige Aufsässigkeit.»
Wäre sie nicht so müde und verzweifelt gewesen, hätte sie die Provokation vielleicht leichter schlucken können. Doch jetzt setzte sie die Tasse mit einem Knall ab. «Was ist, Onkel?», fragte sie eiskalt. «Bist du enttäuscht, weil du noch warten musst, bis du mich endlich los bist? Sag doch, wie hoch ist heutzutage der Preis für eine hilflose Nichte?»
Es ging so schnell und kam so unerwartet, dass sie sich gar nicht wehren konnte. Mit einem Schritt war er bei ihr und versetzte ihr eine so heftige Ohrfeige, dass sie glaubte, ihre Halswirbel würden herausspringen. Ihr Gesicht brannte, und im Ohr hörte sie einen Pfeifton. Er holte erneut aus, und sie hatte keine Chance, aufzuspringen und zu fliehen, daher hob sie nur die Arme, um den Schlag abzufangen, und machte sich auf den Schmerz gefasst. Gleichzeitig war ihr bewusst, dass sie irgendwie aus diesem Zimmer kommen musste.
«Nein!»
Dieses eine Wort schnitt durch die Luft wie ein Peitschenknall. Wilhelm hielt mitten in der Bewegung inne und wandte sich zur Tür. Beatrice keuchte auf, als sie Seth auf der Schwelle stehen sah. Er hatte die Szene beobachtet. «Wenn du sie noch einmal anfasst, wirst du dieses Zimmer nicht lebend verlassen», sagte er mit nur mühsam beherrschtem Zorn.
Seth schlug das Herz so heftig, dass ihm fast die Luft wegblieb. Den Blick hatte er auf Wilhelms erhobene Hand geheftet. Als er Beatrices Aufschrei gehört hatte, war er herbeigerannt, und als er sah, wie Wilhelm die Hand gegen sie erhob und sie sich auf ihrem Stuhl zusammenkrümmte, war ihm, als würde ihm die Wut einen Schleier vor die Augen legen.
«Beatrice?» Sie starrte ihn nur an. «Beatrice!», rief er, ohne die geballte Faust ihres Onkels aus den Augen zu lassen. Sie zuckte zusammen und nickte kurz, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie nicht verletzt war.
«Verschwinde», fauchte er den alten Mann an.
Erst sah es so aus, als wollte Wilhelm protestieren, und Beatrice fragte sich, ob er wirklich so dumm wäre und hier und jetzt sterben wollte, wegen ihr, einer Frau, die er verabscheute. Doch dann verließ er wortlos das Zimmer.
Seth kam zu ihr. Sie sah, dass er immer noch mit seiner Wut kämpfte, aber sie beherrschen konnte. Vorsichtig inspizierte er ihre Wange, und Beatrice konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, als seine Finger ganz zart die Schwellung berührten.
«Hat er das früher auch schon getan?»
Die tiefe Stimme, die vor Sorge immer noch ganz heiser war, fühlte sich an wie eine warme Liebkosung.
«Er macht sich Sorgen um Sofia. Damit kommt er nicht zurecht», murmelte sie.
«Das ist keine Entschuldigung. Wenn er noch einmal die Hand gegen dich erhebt, ist er ein toter Mann.» Seth ließ sie los. «Du brauchst etwas zum Kühlen gegen die Schwellung.»
Sie hätte seine Hand am liebsten festgehalten. Nichts gab ihr mehr Sicherheit als seine Nähe, und als er sie losließ, hätte sie beinahe seine Hand gepackt, um ihn nicht wieder loszulassen.
Ihr Herz raste. War er wirklich gekommen, um sie wegzuholen?
«Was machst du hier?», flüsterte sie.
«Ich fahre via England nach Amerika», erwiderte er kurz angebunden. «Und die Schiffe nach England legen in Göteborg ab.»