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30

Göteborg

Januar 1882

Harriet saß neben ihrer Tochter. Das neue Jahr war gekommen, und Sofias Zustand hatte sich nur weiter verschlechtert. Sogar Doktor Eberhardt, der sich nur selten beeindrucken ließ, hatte besorgt gewirkt, als er die fast leblose Gestalt im Bett wieder untersucht hatte. Harriet drückte Sofias dünne Hand und kämpfte mit den Tränen. Sollte sie tatsächlich noch ein Kind verlieren? Sie gestattete sich nur selten einen Gedanken an die zwei Kleinen, die sie hatte begraben müssen. Keines hatte sein erstes Jahr überlebt, und Harriet wusste, dass sie nicht um sie trauern sollte, dass sie lieber dankbar sein sollte für die Dinge, die Gott ihr in seiner Barmherzigkeit geschenkt hatte. Doch manchmal konnte sie den Gedanken an die flaumigen kleinen Köpfchen, an die weichen Wangen und die nachdenklichen Augen nicht unterdrücken.

Harriet blickte auf ihre Tochter, die im Schlaf leise wimmerte. Sie war eine schlechte Mutter gewesen, dachte sie beschämt, denn nur eine schlechte Mutter konnte eifersüchtig auf die Schönheit und die glückliche Ehe ihres eigenen Kindes sein. Und jetzt bekam sie ihre Strafe.

Sie betrachtete ihre sterbende Tochter.

Sofia stöhnte heiser und schlug die Augen auf. «Mama? Was tust du hier? Es muss doch mitten in der Nacht sein. Du solltest schlafen.»

«Psscht, mein Schatz, ich leiste dir doch nur Gesellschaft.»

Sofia blinzelte erstaunt. Es versetzte Harriet einen Stich ins Herz, als ihr klar wurde, dass ihre Tochter keine Zärtlichkeitsbekundungen von ihr gewöhnt war. «Wie geht es dir?», erkundigte sich Harriet.

«Ich habe Durst.»

Harriet nahm die Karaffe vom Nachttisch, goss ihrer Tochter ein Glas Wasser ein und gab ihr zu trinken.

Plötzlich fiel Sofia auf ihr Kissen zurück.

«Sofia?», rief Harriet erschrocken. Ihre Tochter wand sich in heftigen Krämpfen, und ihre Augen waren so verdreht, dass man nur noch das Weiße sah.


Beatrice erwachte von einem Schrei und wusste sofort, dass es um Sofia ging. Während der verzweifelte Laut noch durchs Haus hallte, warf sie ihren Morgenrock über und stürzte aus ihrer Kammer. Vor der Tür zum Krankenzimmer traf sie mit Johan zusammen, ohne ein Wort zu wechseln, gingen sie hinein. Sofias Körper wurde von einem Krampf nach dem anderen heimgesucht, und Harriet schluchzte laut. Erschrocken eilte Beatrice zu ihrer Cousine, während Johan in den Korridor rief: «Schnell, ruft Doktor Eberhardt! Sofort!»

Er wandte sich an seine hysterische Schwiegermutter. «Hör auf zu schreien oder verschwinde», befahl er, und Harriets Schluchzen verebbte zu einem stillen Weinen.

«Du …» Johan zeigte auf ein verschrecktes Dienstmädchen, das auf der Schwelle aufgetaucht war. «Weck alle Dienstboten.»


Die zwanzig Minuten, die es dauerte, bis der verschlafene Doktor Eberhardt im Haus in der Sillgatan eintraf, waren die längsten in Beatrices Leben.

Als er mit zerzaustem Haar das Zimmer betrat und einen Blick auf die bewusstlose Sofia warf, schüttelte er nur den Kopf. «Das kann sie nicht überleben», sagte er, stellte seine Tasche ab und zog den Rock aus. «Das Kind muss heraus, sonst sterben sie beide innerhalb der nächsten Stunden.»

Harriet vergrub das Gesicht in den Händen. Johan blickte stumm auf seine Frau.

«Aber es ist doch noch zu früh, oder?», flüsterte Beatrice.

Eberhardt zuckte mit den Schultern, während er den herumhuschenden Dienstboten Befehle zubellte. Er krempelte die Ärmel hoch. «Schicken Sie eine Nachricht an meinen Assistenten im Krankenhaus. Und jetzt gehen Sie, ich habe zu arbeiten.»

Johan stand auf und reichte Harriet den Arm. Seine Schwiegermutter stützte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn.

«Beatrice?»

«Ich bleibe hier», sagte sie und wandte sich zu Doktor Eberhardt. «Sie brauchen doch Hilfe, oder nicht?»

«Das wird eine blutige Angelegenheit», warnte der Arzt. «Haben Sie vor, ohnmächtig oder hysterisch zu werden, Fräulein Löwenström?»

Beatrice sah ihm ruhig in die Augen. «Sagen Sie mir einfach, was ich tun soll, dann tue ich es», erwiderte sie knapp. Wenn Sofia in dieser gottverlassenen Winternacht sterben musste, dann sollte sie zumindest nicht allein sein.

«Gut», sagte der Arzt.

Harriet hatte den Raum schon verlassen, doch Johan zögerte noch.

«Es ist besser, wenn du zu den anderen gehst», bestimmte Beatrice. «Ich verspreche dir, dass ich dich hole, falls …» Sie verstummte, und die Worte blieben unausgesprochen in der Luft hängen. Dann folgte Johan leise seiner Schwiegermutter.


Doktor Eberhardt betrachtete die Patientin, die seit seiner Ankunft in Göteborg an jenem denkwürdigen Herbsttag in seiner Obhut war. Zu Anfang hatte er natürlich keine andere Wahl gehabt, das hatten ihm die zwei Tiere, die ihn quer durch halb Europa geschleift hatten, sehr deutlich gemacht. Doch nach einer Weile hatte er Zuneigung zu seiner Patientin und ihrer Familie gefasst und beschlossen, sein Bestes zu geben, um sie zu retten. Außerdem war er ein Ehrenmann. Die Summe, die man ihm auf sein Konto bei der Deutschen Bank für die Pflege der Sofia Stjerneskanz eingezahlt hatte, war schlichtweg astronomisch gewesen. Und so tat er einfach das, was er am besten konnte. Im Laufe des Herbstes hatte er auch deutsche Mediziner im Sahlgrenska-Institut kennengelernt und auf Wunsch der Studenten eine Vorlesungsreihe an der medizinischen Fakultät abgehalten, die auf sehr positives Echo gestoßen war. Jetzt sah er die blasse, aber gefasste Frau an, die ihm gegenüberstand.

«Wissen Sie, was ein Kaiserschnitt ist?», fragte er.

Beatrice erbleichte, als sie das Wort hörte. «Sie meinen, Sie wollen sie aufschneiden?», flüsterte sie.

Der Arzt antwortete nicht, sondern machte seine Tasche auf und gab ihr Anweisungen. «Ich brauche jede Menge heißes Wasser. Saubere Tücher. Ausgekochte Schwämme.» Er sah sie an. «Hygiene ist jetzt oberstes Gebot. Jedes Mal, wenn ich Ihnen ein Instrument reiche, müssen Sie es in kochendes Wasser legen.»

«Haben Sie das schon einmal gemacht?», fragte sie besorgt.

«Ja.»

«Wird sie überleben?»

«Geben Sie mir die Flasche mit dem Chloroform», wich er ihrer Frage aus. «Wir fangen jetzt an.»

Sofia, die kaum bei Bewusstsein war, wehrte sich erschrocken, als er ihr das chloroformgetränkte Tuch über Mund und Nase hielt. Beatrice hielt ihr die Hand und flüsterte beruhigende Worte. Barmherzigerweise dauerte es nicht lange, bis Sofia völlig weggetreten war.

«Das Chloroform wirkt nicht beliebig lang», erklärte der Arzt und schob rasch die Bettdecke beiseite. Beatrice sah zu, wie er Sofias Nachthemd bis zur Brust aufschnitt und zur Seite zog. Dann wusch er ihr den prallen Bauch mit einem Mittel aus einer Flasche. Der Geruch war so stark, dass ihr die Augen tränten. Wie in Trance beobachtete Beatrice seine präzisen Bewegungen.

«Reichen Sie mir das Skalpell, Fräulein Löwenström», sagte er.

Sie reichte ihm das Messer, auf das er gezeigt hatte. Ohne zu zögern, führte Eberhardt mit sicherer Hand einen tiefen Schnitt quer über Sofias Bauch. Blut begann hervorzuquellen, und Beatrice wurde schwindlig.

«Fräulein Löwenström!» Die deutsche Stimme drang wie durch dichten Nebel zu ihr. «Sie werden gleich ohnmächtig, Sie müssen atmen. Lassen Sie die Schultern fallen und entspannen Sie die Beine. Sehr gut. Und jetzt ballen Sie die Fäuste und bewegen Sie die Zehen. Besser?»

Sie nickte.

«Das machen Sie jetzt jedes Mal, wenn Sie merken, dass Ihnen schwindlig wird, verstanden? Ich kann nicht die ganze Zeit Sie auch noch mit im Auge behalten.»

Beatrice befeuchtete sich die Lippen. «Versprochen», sagte sie. «Was soll ich jetzt tun?»

«Waschen Sie das hier und geben Sie mir das nächste.»

Beatrice nahm das blutige Instrument entgegen, legte es in einen Kessel mit heißem Wasser, den ein Dienstmädchen gebracht hatte, und reichte dem Doktor das nächste. Der drückende Blutgeruch mischte sich mit dem erstickenden Geruch der Tinkturen, während sich der Arzt weiter durch die Gewebeschichten schnitt. Sofia war ganz still, doch sie schien regelmäßig zu atmen, und zum ersten Mal wagte Beatrice zu hoffen, dass sich alles zum Guten wenden könnte.

Schließlich reichte ihr der Arzt sein Skalpell, steckte die Hände in Sofias Bauch und tastete. Fasziniert beobachtete Beatrice, wie er einen unbeweglichen Klumpen herauszog, der ganz mit Blut, Käseschmiere und Fruchtwasser bedeckt war. Sie starrte auf das Wesen, das Sofias Kind war. Eberhardt reichte Beatrice das Baby, klemmte die Nabelschnur ab und durchtrennte sie schnell.

«Wickeln Sie es in ein sauberes Tuch.» Er wandte sich wieder Sofia zu. «Ich muss noch den Mutterkuchen herausholen.»

Verblüfft betrachtete Beatrice den zusammengekrümmten, stillen Körper, während sie ihn in ein weiches, ausgewaschenes Laken wickelte. Plötzlich machte das Kind den Mund auf und schrie. Es war ein jämmerliches, leises Geräusch, wie von einem wimmernden Katzenbaby. Beatrice schnürte es die Kehle zusammen. Ein neues Leben war geboren.

«Verdammt», hörte sie plötzlich den Arzt fluchen. «Sie blutet. Schnell, geben Sie mir die Schwämme! Beeilen Sie sich, Fräulein Löwenström, ich brauche Ihre Hilfe.»

Beatrice sah sich um. Was sollte sie mit dem Neugeborenen anfangen? Behutsam legte sie es auf den Boden und eilte zu Eberhardt. Sie reichte ihm Schwämme, nahm ihm blutige Stofffetzen ab und versuchte die Unmengen von Blut zu ignorieren, die sich in einer Lache unter Sofia im Bett ausbreiteten und auf den Boden tropften. Wie viel Blut hatte ein Mensch überhaupt? Konnte man einen solchen Blutverlust überleben? Während der Arzt im Bauch zu nähen begann, sah sie, wie Sofia unruhig den Kopf hin und her warf.

«Herr Doktor! Ich glaube, sie wacht auf. Was soll ich tun?»

«Ich bin beschäftigt. Tun Sie, was Sie wollen, zum Teufel!»

Beatrice sah sich um. Sollte sie es wagen, Sofia noch mehr Chloroform zu verabreichen? Was, wenn sie ihr zu viel gab? Sofia stöhnte, und Beatrice nahm ihre Hand. «Ich bin hier, meine Liebe, alles wird gut, das verspreche ich dir. Der Arzt wird dich wieder gesund machen», tröstete sie.

Das musste er auch, alles andere wäre ungerecht, dachte sie. Und sie betete, wie sie noch nie in ihrem Leben gebetet hatte.

Von dem kleinen Bündel am Boden kamen jämmerliche Protestschreie. Benebelt schlug Sofia die Augen auf und versuchte, ihren Blick auf irgendetwas zu fixieren. Der Arzt war immer noch an ihrem offenen Bauch beschäftigt. Auf dem Boden weinte verlassen das Neugeborene.

«Was ist los?», flüsterte Sofia. Ihr Blick war verschleiert, und Beatrice stellte sich instinktiv so hin, dass ihre Cousine nicht sehen konnte, was der Arzt gerade machte. Zärtlich tätschelte sie ihr die Hand. «Alles in Ordnung, aber es wäre das Beste, wenn du jetzt noch ein bisschen die Augen zumachen könntest. Meinst du, das kannst du für mich tun?», bat sie.

Sofia schloss die Augen und stöhnte matt. «Bea?», flüsterte sie mit trockenen Lippen.

«Ja, meine Liebe?»

«Das Kind lebt, nicht wahr?»

Beatrice drückte Sofia die Hand. «Ja.»

«Was ist es?»

«Ich weiß es noch nicht», sagte Beatrice. Sie blickte zum Arzt, der immer noch in Sofias Innerem zu nähen schien. Bildete sie sich das ein, oder hatte die Blutung tatsächlich abgenommen? Schwer zu sagen, weil sie praktisch in Blut wateten. Eberhardt arbeitete methodisch, nur ab und zu kam ihm ein deutscher Kraftausdruck über die Lippen. Doch er schien zu wissen, was er tat, und sie floss über vor Dankbarkeit für den kleinen, hartnäckigen Arzt.

«Wenn du mir versprichst, ganz still liegen zu bleiben und die Augen geschlossen zu lassen, dann gehe ich nachsehen. Versprichst du mir das?», flüsterte sie ihrer Cousine zu.

Sofia nickte schwach, und Beatrice war nicht einmal sicher, ob sie sie noch hörte. Behutsam legte sie die Hand ihrer Cousine wieder aufs Bett. Sie ging zu dem Neugeborenen, hob es vorsichtig hoch und machte das Tuch auf.

«Fräulein Löwenström, ich brauche sofort Ihre Hilfe», unterbrach sie der Arzt.

Hastig legte sie das Kind neben Sofia ins Bett. «Ein Junge, meine Liebe, du hast einen Sohn bekommen», flüsterte sie, bevor sie neben den Arzt trat. Sie hoffte, dass Sofia sie gehört hatte.

«Ich habe sie im Bauchraum genäht, aber ich muss auch die Bauchdecke noch nähen und brauche saubere Instrumente.»

«Sie ist wach, Herr Doktor. Sollte sie nicht lieber schlafen?»

«Ich habe Morphin in meiner Tasche. Holen Sie es und ziehen Sie eine Spritze auf.»

Beatrice tat, was er ihr aufgetragen hatte, und reichte ihm die Spritze, doch er schüttelte den Kopf. «Es sieht so aus, als würde mein Assistent nicht mehr kommen. Sie müssen hier weitermachen. Waschen Sie sich gründlich die Hände und benutzen Sie das da zum Säubern.» Er zeigte auf eine große Flasche.

Nachdem sie sich sorgfältig gewaschen und mit einem sauberen Tuch abgetrocknet hatte, begann Sofia vor Schmerzen zu stöhnen.

«Wenn Sie nicht wissen, wie man Morphin spritzt, müssen Sie hier übernehmen.» Der Arzt hielt ihr die Nadel mit dem schwarzen Faden hin, und sie griff automatisch danach. «Fassen Sie die Haut neben dem Schnitt, legen Sie Haut auf Haut und nähen Sie einen Stich. Dann schneiden Sie den Faden ab und nähen am anderen Ende. So arbeiten Sie sich im Wechsel bis zur Mitte vor», erklärte er, während er die Spritze aufzog.

Beatrice starrte ihn an.

«Sie werden doch wohl schon mal gestickt haben?», schnauzte er sie an, während er die Spritze hob. Beatrice nickte matt. «Das ist dasselbe Prinzip, aber tupfen Sie immer alles ordentlich ab. Je sauberer Sie arbeiten, desto größer ist Sofias Überlebenschance. Nehmen Sie jedes Mal einen neuen Schwamm.»

Sobald Eberhardt sah, dass Beatrice sich an die Arbeit machte, gab er Sofia die Spritze in den Arm. Das Stöhnen verstummte beinahe sofort. Dann untersuchte er das Kind, das neben ihr lag. Der neugeborene Junge protestierte, als der Arzt seinen Nabel untersuchte, sein Herz abhörte und ihm gegen die Leisten drückte. Brummend wickelte Eberhardt den Kleinen wieder ein, hob Sofias Arm und bettete das Kind neben sie. Anschließend nahm er erneut die umständliche Reinigungsprozedur vor, bei der er sich Hände und Arme gründlich wusch. Inzwischen hatte Beatrice schon mehrere Stiche genäht. Nachdem sie den ersten Widerwillen dagegen überwunden hatte, das Fleisch ihrer eigenen Cousine zu nähen, war es überraschend einfach, fand sie. Der Arzt inspizierte ihre Arbeit und meinte: «Hm, gar nicht schlecht. Wollen Sie es fertig machen?»

Beatrice schüttelte entschieden den Kopf, und der Arzt musste lächeln. «Dann helfen Sie mir, indem Sie das Blut wegtupfen, während ich zu Ende nähe.»

Sorgfältig tupfte Beatrice die Wundränder ab, während der Arzt mit feinen, kleinen Stichen nähte.

«Es blutet nicht mehr so stark, nicht wahr?», fragte sie.

«Nein, die starke Blutung war im Bauchraum, und ich glaube, das konnte ich nähen. Sie wird allerdings keine Kinder mehr bekommen können. Ihre Gebärmutter war nicht mehr zu retten.»

«Aber Sie haben ihr das Leben gerettet. Danke.»

«Zum Danken ist es noch zu früh. Das Risiko von Komplikationen ist immer noch sehr groß.» Er trocknete sich die Hände ab und füllte sich ein Glas mit Wasser. «Holen Sie ihren Mann. Haben sie sich schon um eine Amme gekümmert?»

Beatrice wusch sich hastig, nahm die blutige Schürze ab und ging Johan holen.


«Sofia schläft noch, aber dein Sohn ist wach», lächelte sie, als sie ihn fand.

Johan stand mit einem Schluchzen auf. «Gott sei’s gedankt. Wie geht es Sofia?»

«Komm und sieh es dir selbst an. Ich gehe Harriet holen.»

«Danke, Beatrice. Ich weiß nicht, was wir ohne dich gemacht hätten. Ich hoffe, dir ist klar, wie viel …» Seine Stimme brach, und Beatrice tätschelte ihm die Wange.

«Geh zu deiner Familie, mein Freund. Ich komme nach, so schnell ich kann.»

Als Johan das Zimmer verlassen hatte, ließ Beatrice sich auf einen Stuhl sinken. Ich muss einen Moment alleine sein, dachte sie. Dann brach sie in Tränen aus.


Zwei Tage später befiel Sofia hohes Fieber. Obwohl man sofort den Arzt holte, konnte er kaum etwas tun. Er untersuchte ihren Bauch, der geschwollen und druckempfindlich war.

«Die Wunde hat sich entzündet, und die Stiche geben nach», stellte er mit bekümmertem Stirnrunzeln fest. «Die Stiche müssen noch einmal nachgenäht werden, aber ich weiß nicht, ob sie den Eingriff überleben wird. Sie ist bereits sehr mitgenommen», meinte er.

Mit einer Assistentin von der Hebammenanstalt reinigte er die Wunde, so gut es ging, und nähte sie erneut. Während Sofia stöhnte, strichen sie ihr eine stinkende graue Salbe auf den feuerroten Streifen.

«Sie will so gern selbst stillen, kann sie das weiter tun?», erkundigte sich Beatrice, der die Tränen schon die Kehle zuschnürten.

«Medizinisch gesehen spricht nichts dagegen, aber Sie sollten sich um eine Amme bemühen, für den Fall, dass …»

«Aber sie wird es doch schaffen, oder?»

Der Arzt seufzte. «Helfen Sie ihr, das Kind anzulegen», sagte er resigniert.

Beatrice legte den Jungen bequem an Sofias Brust. Der Kleine war hungrig und hatte schnell begriffen, wie er saugen musste. Sofia murmelte ein paar gequälte Worte, doch sie wachte nicht auf. Während Beatrice zusah, wie der ahnungslose Sohn genüsslich saugte, strich sie ihrer Cousine über die Stirn. Da der Arzt und seine Assistentin das Zimmer verlassen hatten, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie fragte sich, ob sie jemals in ihrem Leben so viel geweint hatte wie in den letzten Tagen.


Am nächsten Tag war Sofias Fieber weiter gestiegen. Ihr Bauch war immer noch grotesk geschwollen, obwohl die Stiche diesmal gehalten hatten. Das war jedoch nur ein kleiner Trost. Sofia delirierte und erkannte niemanden. Beatrice trug einen hungrigen Sohn ins Zimmer.

«Das Kind muss eine Amme bekommen», verlangte Doktor Eberhardt entschieden.

«Nein», widersprach Beatrice und musste sich bemühen, nicht hysterisch zu klingen. Sofia würde leben, und sie wollte ihr Kind stillen, begriff er das denn nicht? Sie wandte sich flehend an Johan, der auf der Bettkante saß und Sofias Hand hielt. «Ich weiß, dass sie stillen will, nehmt ihr das Kind nicht weg. Ich werde ihn auch halten, ich werde ihr helfen.» Sie schluchzte.

«Fräulein Löwenström, so seien Sie doch vernünftig …»

«Lassen Sie sie.» Johans Stimme war müde, aber bestimmt.

Beatrice eilte zum Bett. Sie drehten Sofia auf die Seite und legten den kleinen Jungen neben sie.


Obwohl es unmöglich schien, stieg Sofias Fieber in der Nacht noch weiter. Johan kam und holte Beatrice, die in voller Bekleidung auf ihrem Bett eingeschlafen war. Ein Fenster stand offen und schlug in der Zugluft hin und her.

«Der Arzt hat gesagt, es ist so weit», sagte Johan leise.

Schluchzend folgte sie ihm. Sie befühlte Sofias Stirn, die schrecklich heiß war. Ihre Lippen waren aufgesprungen, sie war stark abgemagert, und ihr Gesicht war bleich und eingefallen. Nur ihr Bauch war immer noch geschwollen und groß. Man könnte meinen, dass sie immer noch schwanger ist, dachte Beatrice bekümmert. Johan hatte seinen Sohn neben Sofia ins Bett gelegt, und der Kleine suchte nach der Brust. Vorsichtig half ihm Beatrice. Obwohl Sofias Brustwarzen ganz wund waren, stöhnte sie nicht einmal, als das Kind hungrig zu saugen begann.

«Man kann nichts mehr tun», erklärte Johan. Sein Blick war leer, seine Stimme wie tot.

Beatrice betrachtete ihre Cousine, die ganz still dalag. «Sofia, meine Liebe, du musst kämpfen», flüsterte sie. «Dir muss doch klar sein, dass du uns nicht einfach so verlassen kannst? Deine Familie braucht dich. Ich brauche dich. Bitte.» Sie schluchzte, doch Sofia rührte sich nicht.

Doktor Eberhardt trat ein und ging zu Sofia. «Ihr Puls wird immer schwächer. Es tut mir leid», sagte er.

Johan vergrub das Gesicht in den Händen.

Beatrice ließ sich neben dem Bett auf die Knie sinken. «Sofia, bitte bleib bei uns. Gib nicht auf. Du darfst uns nicht verlassen.» Doktor Eberhardt legte ihr eine Hand auf die Schulter, doch er konnte ihr keinen Trost geben.


Mit einem Ruck erwachte Beatrice. Sie hockte immer noch neben dem Bett. Wie hatte sie nur einschlafen können? Erschrocken blickte sie auf, voller Angst, dass Sofia gestorben sein könnte, während sie schlief. Als könnte sie durch ihr bloßes Wachsein ihre Cousine am Leben halten. Ihr Blick fiel auf Johan, der hohläugig und unrasiert auf dem Sessel saß. Resigniert schüttelte er den Kopf. Sie betrachtete ihre Cousine. Sofia atmete immer noch, aber nur mit großer Mühe. Stöhnend stand Beatrice auf, tränkte ein Tuch mit Wasser und hielt es behutsam an Sofias Lippen, in der Hoffnung, dass sie einen Tropfen trinken würde.

Als sie sich umsah, entdeckte sie, dass etwas anders war.

Das Kind war weg.

«Sie will, dass er Fredrik heißt», sagte Johan. Er hatte seinen Sohn auf dem Schoß. Es war das erste Mal, dass sie Johan mit dem Kleinen im Arm sah, und trotz all ihres Elends musste sie lächeln.

«Nach dem Arzt?»

«Ja. Vorher hatte ich nur den einen Wunsch – dass Sofia überlebt. Für das Kind hatte ich kaum etwas übrig. Aber er hat ja nichts Böses getan, nicht wahr? Es war nicht seine Schuld.»

«Das Leben ist so grausam. Aber dein Sohn ist wundervoll.»

Der Kleine schrie, und sie lächelten beide.

«Johan?» Sofias Stimme war so schwach, dass man sie kaum hörte.

«Du bist ja wach, mein Liebling. Ich bin hier. Und dein Sohn, Fredrik.» Johan stand auf und trat ans Bett.

«Ist Bea auch hier?», fragte Sofia. «Ich sehe sie nicht.»

Beatrice nahm ihre Hand und setzte sich auf die Bettkante. Sofias Hand war glühend heiß, doch zum ersten Mal seit Stunden schien sie ganz klar zu sein. «Ich bin auch hier. Ich habe gehört, dass du deinen Sohn nach dem Doktor taufen willst. Fredrik Stjerneskanz, das ist ein schöner Name.»

«Bea, kannst du mir verzeihen?»

«Wofür?»

«Dass ich so schwach war und du dich immer um mich kümmern musstest?»

«Sag so etwas nicht. Solche Dummheiten will ich gar nicht hören. Ohne dich wäre mein Leben schrecklich einsam gewesen. Du musst kämpfen, Sofia, du kannst nicht einfach aufgeben, gerade jetzt, wo du Mutter geworden bist. Und denk doch auch an den armen Johan.»

«Ich bin so müde, Beatrice. Ich wusste nicht, dass man so müde sein kann. Ich will nur noch schlafen. Entschuldige.»

«Dann mach die Augen zu und ruh dich aus. Wir wachen über dich.»

Sofia schlief wieder ein, und allmählich fielen auch Beatrice die Augen wieder zu. Johan schlummerte auf seinem Sessel ein.

Ich bin so müde, dachte Beatrice. Ihr erschöpftes Gehirn wollte weiterschlafen, aber irgendetwas zerrte an ihr. «Wach auf, Beatrice, du musst aufwachen», hörte sie Johans Stimme, aber sie wollte einfach weiterschlafen. Doch er schüttelte sie weiter, und schließlich schlug sie widerwillig die Augen auf. Johan weinte. Obwohl es schon Morgen sein musste, war es immer noch dunkel. Noch ein Sturm, dachte sie, und dann war sie auf einen Schlag hellwach. Sie blickte zum Bett. Sofia war schneeweiß im Gesicht und lag ganz still da. Sie sah ruhig und friedlich aus. Beatrice blieb das Herz stehen bei diesem Anblick.

Johan schluchzte. «Das Fieber hat nachgelassen. Der Arzt ist unterwegs, aber das Fieber hat nachgelassen», sagte er mit zitternder Stimme. «Fühl mal, sie ist ganz kühl.»

Er weinte so sehr, dass seine Schultern zuckten, und einen Moment dachte Beatrice, dass er endgültig den Verstand verloren haben musste, dass der Tod seiner Frau ihn in den Wahnsinn getrieben hatte. Doch da sah sie, wie Sofia Luft holte. Rasch befühlte Beatrice die Stirn ihrer Cousine. Tatsächlich war sie richtig kühl. Der Bauch unter der Decke wirkte auf einmal wesentlich weniger geschwollen, und es schien nicht so, als hätte Sofia noch Schmerzen. Da begann auch Beatrice zu schluchzen. «Es ist überstanden. Ich kann es gar nicht glauben.» Weinend fiel sie Johan in die Arme. Sie lachten und weinten abwechselnd, und von dem ganzen Tumult wurde Fredrik wach, der sich am Lärm der Erwachsenen beteiligte, indem er wütend nach Nahrung schrie.

Es war überstanden.

Ein ungezähmtes Mädchen
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