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Paris

September 1882

Als das Erntefest vorüber war und alle Gäste das Schloss verlassen hatten, beschlossen Jacques und Vivienne, mit Seth und Beatrice eine Reise nach Paris zu unternehmen.

Eines schönen Vormittags Ende September hatten sie schließlich die meisten Sehenswürdigkeiten besichtigt, die die französische Hauptstadt zu bieten hatte, und flanierten nun gemächlich durch die Tuilerien. Die Bäume des berühmten Parks waren in Rot und Gold entflammt, und auf den Alleen waren zahlreiche Spaziergänger unterwegs, die das Gesicht in die Sonne hielten und das milde Herbstwetter genossen.

Vivienne und Beatrice gingen Arm in Arm vor Seth und Jacques. Hinter ihnen lag der Arc de Triomphe, und als die beiden Frauen laut auflachten, musste Seth über Beatrices Fröhlichkeit lächeln. Er stellte sich vor, wie er die Schleife unter ihrem Hut löste, ihr durchs Haar fuhr und sich in ihrem Duft vergrub.

Als hätte sie seine Gedanken gehört, drehte sie sich zu ihm um. Sie lächelte das breite Lächeln, das nur für ihn allein bestimmt war, wie er sich gerne einredete, und dann drehte sie sich wieder zu Vivienne um. Es war viel zu laut im Park, als dass Seth hätte hören können, worüber sich die Frauen unterhielten, doch da sie zum Louvre hinüberdeuteten, nahm er an, dass sie über Kunst diskutierten.

Er wandte sich zu Jacques. Bis jetzt hatte Seth nicht besonders viel über die Hintergründe von Beatrices erster Ehe erzählt, doch er wusste, dass Jacques gerne mehr darüber wissen wollte. «Erinnerst du dich an Edvard Löwenström?», begann er.

«Sofias Bruder?» Jacques klang geistesabwesend. Sein Blick hing sehnsüchtig an seiner frisch angetrauten Ehefrau. Vivienne und er hatten sich tags zuvor im Hôtel Meurice trauen lassen. Es war eine schlichte Zeremonie gewesen, mit Beatrice und Seth als Trauzeugen. Hinterher hatten sie in einem der berühmtesten Restaurants diniert. Sie hatten Austern gegessen und Champagner getrunken, und dieser fröhliche Abend gehörte zu den schönsten, die Seth in seinem Leben je gehabt hatte.

«Jacques, hörst du mir zu?»

Jacques blinzelte und riss seinen Blick von Vivienne los. «Entschuldige. Ja, ich habe Edvard auf Johans Hochzeit kennengelernt. Warum fragst du?»

Seth erzählte die Geschichte von der Absprache zwischen dem Grafen, Wilhelm und Edvard und welches Opfer das für Beatrice bedeutet hatte.

«Was für Schweine!», rief Jacques, und er fluchte, als Seth ihm alles erzählt hatte. «Die sollte man auspeitschen. Und lebend häuten.» Er sah zu den beiden Frauen, die gerade mit einem völlig hingerissenen Maronenverkäufer sprachen. «Die arme Beatrice.»

«Ja», stimmte Seth zu. «Und ich war so ein Idiot.»

Jacques knuffte ihn freundschaftlich in die Schulter. «Das ist freilich nichts Neues.»

«Nein, wohl nicht.»

Jacques musterte Seths Gesicht. «Und jetzt denkst du also darüber nach, ob du Edvard und ihren Onkel erschlagen sollst oder nicht?», stellte er fest.

«Ich muss zugeben, dass mir solche Gedanken schon gekommen sind», räumte Seth zögernd ein.

Jacques blieb stehen. «Ich kann nicht behaupten, dass ich das nicht auch gern täte», sagte er ernst. «Aber auch wenn sie Schweine sind – das wäre Mord.»

«Ich weiß», erwiderte Seth und beschloss, seinem Freund zu verschweigen, dass er Leute ausschicken wollte, die den Mann aufspüren sollten, der so viel Leid verschuldet hatte. Es ist besser, wenn Jacques nichts von meinem Plan weiß, dachte Seth. Ich weiß zwar noch nicht, was ich mit Edvard tun werde, wenn ich ihn finde, aber mir wird schon etwas einfallen. Beatrice sollte nie mehr Angst vor Edvard haben müssen.

«Wie kann ich dir helfen?», riss Jacques ihn aus seinen Gedanken.

«Ich will dich da nicht mit hineinziehen, das ist mein Problem», antwortete Seth.

Jacques schnaubte. «Du bist wirklich unerträglich. Du kannst mir doch nicht so etwas erzählen und dann sagen, dass du das alleine schaffst. Du brauchst mich. Wenn ich dir nicht auf die Finger schaue, endet es nämlich garantiert damit, dass du am Galgen landest. Und wer soll sich dann um Beatrice kümmern?»

«Am liebsten würde ich Edvard und Wilhelm natürlich den Hals umdrehen», gab Seth zu. «Aber es sind immerhin ihre Angehörigen, ihre Familie. Ich kann ja schlecht losziehen und ihre Verwandten erschlagen.» Er musste um Beatrices willen darauf verzichten, auf die Art für Gerechtigkeit zu sorgen, wie er es gern getan hätte. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass er Däumchen und die Sache auf sich beruhen lassen würde. «Ich werde es auf jeden Fall Johan erzählen», sagte er. «Johan muss wissen, was Beatrice alles für Sofia getan hat.» Seth holte seine Taschenuhr hervor. «Und ich habe Henriksson aus Schweden herkommen lassen. Er wartet schon im Hotel auf mich. Kannst du ein Auge auf Beatrice haben, wenn ich mich heute Nachmittag mit ihm treffe? Er hat wichtige Informationen für mich.» Als er Beatrices schlanken Rücken betrachtete, konnte er ein Lächeln nicht unterdrücken. «Es ist sicher übertrieben, aber ich will sie nicht unbeschützt lassen», sagte er. «Nicht, bevor ich weiß, wohin Edvard verschwunden ist.»

«Du wirst doch keine Dummheiten machen?», fragte Jacques misstrauisch. «Beatrice würde es nicht überleben, wenn dir etwas zustieße.»

«Wir reden morgen weiter», wich Seth der Frage aus. Er würde Henriksson bitten, Erkundigungen einziehen zu lassen. Bald würde er wissen, wo Edvard sich aufhielt. Was dann passierte … darum würde er sich später kümmern.

«Aber jetzt will meine Zukünftige gerne Stoffe ansehen. Und ich habe ihr versprochen, sie zu begleiten.» Er seufzte düster. «Das wird bestimmt mehrere Stunden in Anspruch nehmen.»

Jacques lachte auf. «Seth Hammerstaal bei der Schneiderin. Dich muss es ja schlimmer erwischt haben, als ich dachte.»


In einer kleinen Querstraße der Avenue des Champs-Élysées lag Mademoiselle Colette Colberts Atelier und Laden. Als die Türglocke klingelte, lächelte Colette der eintretenden Frau entgegen.

«Bonjour, Madame la Comtesse», sagte Colette, während ihr Blick gleichzeitig auf den Mann fiel, der die Schwedin begleitete. Seine Kleidung war diskret, aber das geübte Auge der Schneiderin erkannte sofort, dass jedes Teil perfekt maßgeschneidert war. Da zeigte sich keine Falte an den breiten Schultern, die Passform am Rücken war ebenfalls tadellos, und überhaupt sah man die exquisite Qualität noch im kleinsten Stich. Er trug keine teuren Accessoires, keine Ringe oder protzige Schmuckstücke, und seine Krawatte war so schlicht, dass es fast an Anspruchslosigkeit grenzte. Doch für eine Expertin war trotzdem erkennbar, dass es sich hier um einen wirklich vermögenden Mann handelte. Seine Züge hatten etwas Strenges, fast Rücksichtsloses, doch als er die rothaarige Frau anlächelte, wurde sein Gesicht weich. Colette stellte fest, dass die Gräfin klug genug gewesen war, sich einen mächtigen Beschützer zuzulegen.

«Bonjour, Mademoiselle», begrüßte der Mann sie mit einer samtig tiefen Stimme. Sie schauderte. «Wir sind hier, weil meine zukünftige Ehefrau ihr Brautkleid bestellen möchte», erklärte er. «Sie hat darauf bestanden, zu Ihnen zu kommen.»

Oh, là, là. Ehefrau, sieh mal einer an.


Zehn Minuten später waren Beatrice, Colette und eine weitere Schneiderin schon in ein konzentriertes Gespräch über Entwürfe und Materialien vertieft. Beatrice warf einen verstohlenen Blick zu Seth hinüber, der in einem Sessel saß und ganz ins Studium eines Dokuments versunken schien. Da blickte er auf und sah sie an. «Solltest du dir nicht auch gleich Kleider für den Herbst bestellen?», schlug er vor. «In Stockholm wird es viel kälter sein als hier.»

«Ich habe genug Kleider», protestierte sie.

Doch Seth tauschte einen beredten Blick mit Mademoiselle Colette, die diskret nickte. «Weißt du, chérie», lächelte er, «gegen unsere Expertenmeinung wirst du nicht ankommen. Komm, bestell dir auch eine Herbstgarderobe.» Dann vertiefte er sich wieder in seine Papiere.

Colette sah sie mit ihren nussbraunen Augen an, bis Beatrice nachgab. «Alors. Aber ich werde neu Maß nehmen müssen», meinte Colette. Mit kritischer Miene musterte die Schneiderin ihre Taille und Brust und bedeutete ihr dann, sich umzudrehen. Beatrice widerstand dem Impuls, unter diesem scharfen Blick den Bauch einzuziehen. «Hmm, Sie haben zugenommen», stellte Colette fest. Bei diesem Kommentar blickte Seth auf und grinste die blamierte Beatrice neckend an. Er ließ einen vielsagenden Blick über ihren Körper wandern und blieb sehnsüchtig an ihrem Busen hängen. Beatrice spürte, dass sie flammend rot wurde. Seth lachte leise.

«Raus aus den Kleidern», kommandierte Colette und zeigte auf einen Wandschirm.

Seth grinste erneut, und Beatrice warf ihm einen warnenden Blick zu. Sie starb fast vor Verlegenheit, und seine heißen Blicke machten sie ganz schwach. Dankbar zog sie sich hinter den Schirm zurück. Eine der Mitarbeiterinnen half ihr beim Aufknöpfen von Kleid und Korsett, bis sie nur noch in Unterwäsche dastand. Als alle ihre Maße genommen und notiert waren, hielt ihr eine von Colettes Assistentinnen einen Überwurf hin. Beatrice schlüpfte erleichtert hinein und beschloss, in den nächsten Tagen auf den Camembert zu verzichten.

Nach einer knappen Stunde hatten sie einen ersten Entwurf für das Brautkleid erarbeitet, und noch eine Weile später hatte Beatrice endlich die Stoffe für ihre neuen Kleider ausgesucht. Ihr war warm, und sie war ziemlich müde, doch Mademoiselle Colette holte resolut immer noch mehr Stoffe herbei. «Für die Unterwäsche», erklärte sie, während sie die Ballen ausbreitete. Mit großen Augen musterte Beatrice die glänzenden, spinnwebdünnen Stoffe, die sich vor ihr aufstapelten. Als sie einen Ballen Spitze sah, der von so dunklem Weinrot war, dass es fast wie Schwarz wirkte, dämmerte ihr, dass Mademoiselle Colette wahrscheinlich etwas ganz anderes im Sinn hatte als die praktische Unterwäsche, die sie ihr letztes Mal genäht hatte. Unschlüssig musterte Beatrice die dünnen Stoffe und durchsichtigen Materialien, während die Schneiderin immer neue Schachteln mit Seidenbändern, Spitzen und glitzernden kleinen Steinchen hervorholte.

«Ich weiß nicht …», sagte Beatrice zögernd. Sie verstand nicht viel von Stoffen, doch selbst ihr war klar, dass die Materialien, die die Schneiderin ringsum aufstapelte, schrecklich teuer sein mussten. Sie fasste ein taubenblaues Gewebe an, das so dünn war, dass man sich kaum vorstellen konnte, wie daraus ein Kleidungsstück werden sollte.

«Sie nimmt alles», verkündete Seth, ohne aufzublicken.

«Aber …», protestierte Beatrice. Er begriff wohl nicht, um welche Summen es hier ging.

«Alles», wiederholte er, und als er sie nun ansah, spielte ein wollüstiges Lächeln in seinem Mundwinkel.

«Und die Schuhe?», fragte Colette geschäftig. Sie hielt ein paar hochhackige Seidenschuhe in die Höhe, und Beatrice betrachtete sie sehnsüchtig. Sie hatte schon bemerkt, wie begeistert Seth war, wenn sie hohe Absätze trug, doch sie zwang sich zu der Einsicht, dass die wundervollen Schuhe, die Colette in der Hand hatte, das Unpraktischste waren, was sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Der weiße Seidenstoff war mit einem grünen Faden bestickt, der ein Muster aus winzigen naturgetreuen Schneeglöckchen bildete, die wiederum mit weißen und grünen Steinchen bestickt waren. Beatrice hatte den Verdacht, dass es sich um echte Diamanten und Smaragde handelte. Außerdem sind es Hochzeitsschuhe, dachte sie, also würde sie sie nur ein einziges Mal tragen. Und sie würde im Winter heiraten. Das würden diese Schuhe niemals überleben. Sie hatte ohnehin schon ein schlechtes Gewissen wegen der rosaroten, mit Rosen bestickten Wildlederstiefeletten und dem dazu passenden Hut. Vielleicht sollte sie darauf doch verzichten? Sie schüttelte entschieden den Kopf. Die Stiefeletten würde sie behalten, aber die juwelenbesetzten Hochzeitsschuhe mussten wieder in ihre Schachtel zurückwandern.

«Sind wir fertig?», fragte Seth.

Mademoiselle Colettes Assistentinnen halfen Beatrice beim Anziehen, und unterdessen machte Colette die Rechnung fertig. Seth ging zu Beatrice, reichte ihr ihre Handschuhe und legte ihr eine Hand auf den Rücken. «Na, bist du zufrieden, meine Geliebte?», flüsterte er.

«Sehr», antwortete Beatrice. Aber sie hatte sich wirklich hinreißen lassen und eine astronomisch hohe Rechnung verursacht.

«Bis wann können wir die Sachen haben?», erkundigte sich Seth.

«Wenn sich meine Mitarbeiterinnen beeilen, können wir in sechs Wochen mit den Kleidern fertig sein. Das Brautkleid wird allerdings länger dauern.»

Seth schüttelte den Kopf. «Stellen Sie einfach noch ein paar Schneiderinnen mehr ein. Wir fahren in einer Woche nach Schweden zurück, und ich möchte, dass bis dahin alles fertig ist», erklärte er und nahm die Rechnung an sich, bevor Beatrice reagieren konnte. «Ich schicke Ihnen meinen Sekretär vorbei, er wird die finanzielle Seite mit Ihnen regeln. Und besprechen Sie auch gleich mit ihm, wann Sie nach Stockholm kommen können. Wir heiraten im Dezember, und Sie sollten rechtzeitig für die letzte Anprobe vor Ort sein.» Er sah Colette an, und sie nickte zögernd. «Besprechen Sie die Details mit meinem Sekretär», bat er und hielt Beatrice die Tür auf.

«Oui, Monsieur», war das Letzte, was Beatrice hörte, bevor sich die Tür hinter ihnen schloss, Seth sie in seine Arme zog und ihr mitten auf der Straße einen heißen Kuss gab.


Am nächsten Abend eilte Beatrice durch den Flur des vierten Stocks im luxuriösen Hôtel Meurice. Vorsichtig betastete sie das Päckchen in der Tasche ihres Samtmantels, der sich hinter ihr bauschte. Sie fand Seths Tür, drückte die Klinke und betrat den kleinen Flur. Abgesehen von einem leisen Plätschern war es ganz still in der Suite. Der Teppich, der noch dicker war als der auf dem Korridor, dämpfte ihre Schritte, sodass sie das Zimmer geräuschlos durchqueren konnte.

Seth saß mit dem Rücken zu ihr in einer tiefen Messingwanne. Die schweren Vorhänge waren zugezogen, und seine Haut glänzte wie Bronze im Licht der Petroleumlampen. Er legte eine Hand auf den Rand der Wanne und trommelte mit den Fingern darauf. «Na, Madame la Comtesse, sind Sie gekommen, um mir den Rücken zu schrubben?», fragte er nonchalant, ohne sich umzudrehen.

«Ach. Woher wusstest du, dass ich es bin?», fragte sie und trat näher.

Seth warf einen Blick über die Schulter. Er lächelte über ihre empörte Miene, bevor er sich mit einem Platschen zurücklehnte. «Du bist eine geräuschvolle Frau», antwortete er. «Außerdem bin ich nicht so leicht zu überraschen, wie du zu glauben scheinst.» Er deutete mit einem Nicken auf eine Kanne und einen Schwamm, die auf einem Tablett neben der Badewanne standen. «Willst du mir nicht helfen? Ich schätze, dass du alle meine Diener weggeschickt hast, nicht wahr?»

«Und ich dachte, du hättest überhaupt nichts bemerkt.»

«Ich sollte Ruben feuern, weil er sich dazu hat überreden lassen. Unerhört, dass mein Diener jemand anders als mir gehorcht.»

«Er hat sich wirklich sehr gesträubt», gab Beatrice zu. «Ich musste ihm versprechen, dass du nicht böse wirst und dass ich dir kein Messer in den Rücken rammen werde.» Sie trat neben die Wanne und nahm eine grüne Flasche vom Tablett. Neugierig schnupperte sie an dem parfümierten Inhalt. Es roch rein und männlich. Es roch nach Seth. «Aber du freust dich doch, dass ich hier bin, oder?», fragte sie und goss sich ein paar Tropfen der duftenden Seife in die Handfläche.

«Das kommt ganz darauf an, ob du mich jetzt wäschst oder nicht.»

Sie rieb die Handflächen aneinander, bis es schäumte. «Wenn du dich zurücklehnst, werde ich versuchen, dich dafür zu entschädigen, dass du deine Diener entbehren musst», sagte sie und begann ihm den Schaum ins nasse Haar zu massieren. Wohlig seufzend ließ er sich zurücksinken und schloss die Augen. Schweigend massierte sie ihn und spürte, wie er sich unter ihren Fingern entspannte. Sie tauchte die Finger ins Wasser, zog sie aber rasch wieder zurück. «Aber das ist ja eiskalt», rief sie.

«Ich musste mich abkühlen», sagte Seth.

Sie kicherte und strich ihm übers Haar.

«Was ist?», murmelte er träge.

«Nichts», flüsterte sie und griff nach der Kanne. Das Wasser darin war so warm, dass es dampfte. Langsam goss sie ihm den Inhalt über den Kopf, und Seifenschaum und Wasser liefen ihm über die Brust. Sie goss den letzten Rest über seine Haare, ließ die Finger hindurchgleiten und genoss es, wie er unter ihrer Fürsorge beinahe zu schnurren begann. Wie ein großer Tiger, dachte sie. Zärtlich beugte sie sich zu ihm herunter und schmiegte sich an seine Wange, und Seth hob einen nassen Arm, um sie zu sich herabzuziehen. Da klopfte es an der Tür, und Beatrice richtete sich rasch auf. «Entrez, s’il vous plaît», rief sie fröhlich, und Seth runzelte die Stirn.

«Wer …?», begann er, doch da ging auch schon die Tür auf, und ein Hotelkellner betrat die Suite.

«Bonjour, Madame. Bonjour, Monsieur», rief er und rollte einen Servierwagen herein, auf dem ein beschlagener Kübel stand, der mit einem Leinentuch abgedeckt war. Er zuckte nicht mit der Wimper, als er den Mann in der Badewanne sah, sondern stellte ungerührt zwei Champagnergläser auf das Tischchen. Beatrice ging unterdessen langsam auf eine Chaiselongue zu, die mitten im Zimmer stand. Sie gab sich alle Mühe, unbekümmert zu wirken, doch sie spürte Seths Blick im Rücken brennen, und das machte sie nervös. Während der Kellner den Drahtverschluss an der Champagnerflasche öffnete, ließ Beatrice langsam ihr Cape zu Boden gleiten. Der schwere Samt rutschte auf den Teppich, und sie streifte ihre Pantoffeln von den Füßen. Dann ließ sie sich halb liegend auf dem Diwan nieder. Ihr Herz klopfte, doch sie lächelte Seth sanft zu, der nun stocksteif in seinem eiskalten Bad saß und sie anstarrte. Sie beobachtete sein angespanntes Gesicht und die Muskeln, die an seinem Kiefer zuckten. Na, das würde wohl nicht besonders schwer werden, dachte sie vergnügt.


Seth starrte Beatrice an, die wie eine goldene Liebesgöttin in einem dünnen Nachthemdchen auf der Chaiselongue lag. Du lieber Gott, was hatte sie vor?

«Gefällt es dir?», fragte Beatrice beinahe schnurrend und ließ einen Finger zwischen ihren Brüsten heruntergleiten. «Mademoiselle Colette hatte es fertig in ihrer Boutique hängen, da habe ich es gekauft.» Sie legte den Kopf zurück, sodass ihr rotes Haar über die Sofakante fiel. Dabei drückte sie leicht den Rücken durch, sodass ihre Brüste sich gegen das Kleid pressten, das eigentlich nur aus einzelnen Stoffrosetten und Luft bestand. «Das ist ein Negligé», erklärte sie. «Mademoiselle Colette hat mir versichert, dass kein Mann diesem Anblick widerstehen kann.»

Wenn es irgendeinen passenden Kommentar dazu gab, dann wollte er Seth nicht einfallen. In diesem Moment knallte der Champagnerkorken, und Seth zuckte zusammen, als hätte jemand einen Schuss abgefeuert.

«Bist du etwa so durch den Flur gegangen?», fragte er ungläubig. Der Kellner wandte sich reflexartig zum Sofa um, auf dem Beatrice in ihrer ganzen Wollust lag, und warf dann einen nervösen Blick auf Seth. Rasch goss er den schäumenden Champagner ein, verbeugte sich steif und verließ eilends die Suite.

Beatrice schnalzte mit der Zunge, als sie die Tür ins Schloss fallen hörte. «Du bist vielleicht reizbar», schnurrte sie. «Der arme Kellner hat dir doch gar nichts getan.» Langsam rekelte sie sich auf dem Sofa, und ihre sinnliche Bewegung ließ den dünnen Stoff über ihre Haut gleiten, als hätte er ein Eigenleben. Es war angenehm warm im Zimmer, doch ihre Brustwarzen richteten sich durch die Reibung des Gewebes trotzdem auf. Mit einer geschmeidigen Bewegung stand Seth aus der Wanne auf. Das Wasser tropfte von seinem Körper, und Beatrice sah ihn hoffnungsvoll an. Er war erregt, und bevor sie auch nur Luft holen konnte, war er auch schon über ihr.

«Du machst mein Negligé kaputt», protestierte sie schwach, doch sie hörte selbst, dass ihre Stimme nicht überzeugend klang.

Er riss ihr den Stoff vom Leib und begrub den Kopf zwischen ihren Brüsten. «Ich habe den ganzen Tag an nichts anderes denken können als daran, mit dir Liebe zu machen. Von mir aus kaufe ich jedes Negligé, das Mademoiselle Colette zusammenschneidern kann, wenn ich es dir hinterher so vom Leib reißen darf.»

«Wie verschwenderisch von dir», hauchte sie und bog ihm ihren Körper entgegen.

Er küsste sie gierig.

«Liebling?», sagte sie. Sie war zufrieden mit ihren Verführungskünsten.

«Hmm?» Er strich ihr mit dem Daumen über eine Brustwarze.

«Findest du nicht, dass dieses Sofa schrecklich kurz ist?» Sie konnte nur noch stoßweise atmen.

Er schüttelte den Kopf. «Ich will dich hier lieben.»

«Aber du bist doch ganz nass», wandte sie heiser ein und versuchte, vernünftig zu denken.

Doch er ließ die Hand schon zwischen ihre Schenkel gleiten. «Du auch», stellte er fest. «Lass dich gleich hier lieben, adorée

Und in diesem Moment verließ sie das letzte bisschen Vernunft.


Sie lag auf Seths Arm. Sie waren auf dem Boden gelandet – die Chaiselongue war tatsächlich schrecklich kurz – und lagen jetzt beide verschwitzt und befriedigt auf ihrem Mantel. Mit einer Grimasse schob sich Seth die Hand unter den Rücken, zog ein Päckchen hervor und hielt es hoch. «Was ist das denn?», fragte er.

«Deswegen war ich eigentlich gekommen. Das ist für dich.»

Seth runzelte die Stirn, als wüsste er nicht, was er mit dem Päckchen anfangen sollte. Verblüfft drehte er es hin und her.

«Mach es auf», sagte sie sanft und schluckte das stechende Gefühl im Hals. Sie hatte schon oft beobachtet, wie großzügig Seth war, nicht nur zu ihr, sondern auch zu anderen Menschen in seiner Umgebung, und in diesem Moment fragte sie sich, wann jemand eigentlich ihm zum letzten Mal ein Geschenk gemacht hatte.

Er entfernte das Geschenkpapier und klappte die schlichte Schachtel auf, auf der in verschnörkelten Buchstaben der Name eines Pariser Juweliers stand. Mit ausdrucksloser Miene musterte er die grauen Manschettenknöpfe, ohne ein Wort zu sagen. Beatrice schluckte nervös. Auf einmal erschienen sie ihr langweilig. Vielleicht waren sie ihm ja doch zu schlicht? «Sie sind aus Platin», sagte sie schnell. Als sie im Geschäft gestanden hatte, hatte ihr der matte Glanz so gut gefallen, die verblüffende Schwere und ihre Schlichtheit, frei von jeglichen Ornamenten. Sie waren ihr unglaublich männlich vorgekommen, doch jetzt machte sie sich doch Gedanken. «Sie haben mich so an dich erinnert. Aber wenn sie dir nicht gefallen, musst du es sagen. Der Juwelier hat mir versprochen, dass ich sie umtauschen darf. Es gab auch noch andere.» Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.

«Sie gefallen mir», unterbrach er sie heiser. Er befühlte die Manschettenknöpfe, ohne sie anzusehen. «Danke», sagte er leise.

Beatrice schlang ihm die Arme um den Hals und drückte sich an ihn.

«Heute Abend schläfst du hier», bestimmte er.

«Muss ich mich dann auf den Boden legen?», fragte sie lachend.

Er lächelte. «Ich hole den Champagner», sagte er und stand auf. «Du kannst ja inzwischen schon ins Schlafzimmer gehen und auf den Nachttisch gucken», rief er über die Schulter zurück.

Sie runzelte die Stirn und tat, was er ihr gesagt hatte.

Auf dem Nachttischchen stand ein Apfel. Er sah so naturgetreu aus, dass sie ihn erst für eine richtige Frucht hielt, doch als sie die Hand danach ausstreckte, entdeckte sie, dass er doch nicht echt war. Er schimmerte in verschiedenen roten und gelben Nuancen. Sie hatte keine Ahnung, aus welchem Material die Frucht, die lebensechten grünen Blätter oder der braune Stiel gefertigt waren, aber es war eine sehr exquisite kleine Skulptur. Als sie den Apfel in der Hand drehte, sah sie, dass am Stiel eine Kette – dünn wie Nähseide – hing. Und an der Kette hing ein goldener Ring. Sie blinzelte. Ein Ring.


«Gefällt er dir?» Er lehnte mit demselben Gesichtsausdruck am Türrahmen, den sie gehabt haben musste, als er ihr Päckchen öffnete und keinen Ton sagte.

«Komm und steck ihn mir an», sagte sie. Die übermächtigen Gefühle schnürten ihr die Kehle zu.

Seth setzte sich auf die Bettkante und steckte ihr den Ring behutsam auf den Ringfinger.

«Ich wollte den richtigen Ring finden», sagte er. «Als ich den hier sah, wusste ich, das ist er. Entschuldige, dass du so lange darauf warten musstest.»

Beatrice drehte die Hand hin und her und wackelte mit dem Finger. Der Stein war in Weißgold gefasst und funkelte auf eine Art, wie sie es noch nie gesehen hatte. Sie versuchte, die Tränen wegzublinzeln, die ihr die Sicht nahmen. «Was ist das für ein Stein?», wollte sie wissen. «Ein Saphir?»

Er schüttelte den Kopf. «Nur ein Diamant kann so glänzen.»

«Aber er ist doch blau.»

Seth wischte ihr mit dem Daumen eine Träne von der Wange. «Das sind die besten. Genau, wie du die Beste bist. Ich habe ihn hier in Paris bei einem Juwelier gefunden, der Schmuck für den russischen Hof herstellt. Er hatte diesen Ring für eine russische Fürstin angefertigt, aber ich konnte ihn überreden, das Schmuckstück mir zu verkaufen.»

Beatrice zog die Augenbrauen hoch, und Seth grinste. «Ich habe eine enorme Überzeugungskraft.»

«Ich liebe diesen Ring», sagte sie.

«Und ich liebe dich», murmelte er heiser.


Nach einer Weile war Seth eingeschlafen, doch nicht einmal im Schlaf ließ er sie los. Jedes Mal, wenn sie sich ihm entziehen wollte, protestierte er murmelnd, und zum Schluss resignierte Beatrice und schmiegte sich an seinen warmen, festen Körper, obwohl sie eigentlich gar nicht müde war. Hellwach blinzelte sie an die Decke.

Und dann tat sie, was jede andere Frau in ihrer Situation getan hätte.

Sie bewunderte ihren exquisiten Verlobungsring.

Ein ungezähmtes Mädchen
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