Zuerst ist da nur dieses Hämmern gegen ihre Schädeldecke und die Seidenbettwäsche auf ihrer Haut. Weich, die Matratze, auf der sie liegt, es riecht nach Kaffee und frischem Brot. Blum versteht es nicht. Vor einer Minute hat sie die Augen aufgeschlagen, sie liegt wieder in dem Bett, in dem sie eingeschlafen ist, friedlich scheint alles, da ist keine Verletzung, kein Blut, nur dieser Kopfschmerz. Alles ist so, als wäre nichts passiert, als wäre da niemand gewesen, der sie festgehalten hat, kein Betäubungsmittel, das sie inhaliert hat. Da ist nur die flauschige Decke, die auf ihr liegt.
Kuhns Gästezimmer, in dem ihre Augen hin und her wandern. Blum verschafft sich einen Überblick. Eben ist sie noch unten im Labor gewesen, eben ist Ingmar noch vor ihr gelegen und hat sie ausgelacht. Sie hat sich gewehrt, wild um sich geschlagen, sie wollte die Hände und Arme von sich abschütteln, das Tuch von ihrem Gesicht reißen, das Chloroform nicht einatmen. Doch es ging nicht, er war stärker als sie, hielt sie so lange fest, bis alles vor ihren Augen verschwamm. Was sie noch hören konnte, war Ingmars Lachen. Und wie er zu Kuhn sagte, dass er schon nicht mehr mit ihm gerechnet hätte. Länger hättest du dir nicht mehr Zeit lassen dürfen, mein Lieber. Dann ist das Licht ausgegangen.
Wie lange sie weg gewesen ist, weiß sie nicht. Nur, dass jemand sie wieder in ihr Bett gelegt hat. Kuhn. Ingmar. Sie versteht es nicht, sie sucht nach einer Erklärung, warum Kuhn sie betäubt hat, warum sie noch am Leben ist, warum sie in diesem Bett liegt. Blum drückt wieder auf die Play-Taste. Es geht weiter, es hört nicht auf, die Angst geht nicht weg. Angst, die größer wird, weil sie die Kinder nicht sieht. Sie sind nicht da, nicht neben ihr, ihre Hände greifen ins Leere. Uma und Nela, ihre kleinen Körper, ihr Lachen. Blum ist allein in dem Zimmer.
Benommen noch von dem, was Ingmar ihr erzählt hat, springt sie aus dem Bett. Er hat sie alle an die Wand geworfen. Schrettl, Gertrud, Alfred, Björk. Alle tot. Sie hat sich mit einem Verrückten eingelassen. Und mit seinem irren Freund. Kuhn. Dieser Psychopath hat Ingmar gerettet und losgebunden, es kann nicht anders gewesen sein. Freunde bis zum bitteren Ende, Blum rechnet mit dem Schlimmsten. Kurz glaubt sie daran, dass Ingmar sie zwingen wird, zu bleiben, mit ihm zurück in das Hotel zu gehen. Blum befürchtet, dass er die Kinder dafür benutzen wird. Sie sieht sie gefesselt vor sich, sie muss sie suchen, sie finden, sie muss. Wie ein wildes Tier ist sie, bereit, ihre Jungen zu verteidigen, Ingmar und Kuhn in Stücke zu reißen. Der Gedanke, dass Uma und Nela etwas passiert sein könnte, ist unerträglich. Blum stürmt aus dem Zimmer, den Gang entlang Richtung Küche. Sie hört Stimmen. Rennt weiter. Sie achtet nicht darauf, dass man sie hören kann, es ist ihr egal, ob sie gewarnt sind, sie will nur so schnell wie möglich bei ihnen sein. Blum. Sie wird angreifen, sie wird nicht zögern, sie wird ein Messer nehmen und zustechen. Mit Wucht stößt sie die Tür auf. Blum stürzt zur Anrichte und zieht ein Fleischermesser aus dem Messerblock, sie ist bereit zu kämpfen, zu töten, zu sterben. Doch was sie dann sieht, zieht ihr den Boden unter den Füßen weg.
Ein Bild, das sie nicht versteht. Sie bleibt stehen und erstarrt. Verbirgt das Messer hinter ihrem Rücken. Sie weiß nicht, was sie tun soll, zwingt sich zu einem Lächeln. Uma und Nela strahlen sie an, kurz hüpfen die Mädchen auf, um ihre Mutter zu umarmen und zu küssen, dann setzen sie sich wieder zu ihm. Leo Kuhn schmiert Brote für die Kinder. Der Mann, der sie außer Gefecht gesetzt hat, scherzt mit ihnen. Gemütlich sitzen sie am Tisch und frühstücken, ausgelassen ist die Stimmung, so als wäre nie etwas passiert. Als wäre niemand in Gefahr gewesen.
Blum sucht den Raum nach ihm ab. Keine Spur von Ingmar. Nur Kuhn und die Mädchen, nur diese herzliche Stimmung, nur Schokoladenbrote, die in den kleinen Mündern verschwinden. Es ist ein Anblick, der sie entwaffnet, plötzlich hat sie keine Angst mehr, da sind keine bösen Drachen, da ist kein Wolf, der ihre Kinder zerreißt. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht kennt, ist da nichts, gegen das sie kämpfen muss.
Kurz noch hält sie das Messer fest, dann lässt sie es fallen. Langsam gleitet es aus ihren Fingern, weil da kein Grund mehr ist, es festzuhalten. Der gute Onkel Leo macht die Kinder glücklich. Mama, Leo ist so nett. Leo hat uns eine Geschichte vorgelesen. Wir möchten noch hierbleiben, Mama. Nelas Augen leuchten ahnungslos, Kuhn fordert Blum mit einem freundlichen Nicken auf, sich zu ihnen zu setzen. So, als wäre es das Normalste auf der Welt. Gemeinsames Frühstück nach einer Nacht. Neutrale Zone. Kaffee mit dem Feind. Kuhn und Blum. Und die Begeisterung der Mädchen. Blum nimmt sie ihnen nicht weg, so schön ist es, sie für einen kurzen Moment glücklich zu sehen. Sie verliert kein Wort über das, was passiert ist, solange Uma und Nela am Tisch sitzen. Nur das, was in den Kinderköpfen vor sich geht, ist wichtig, kurz eine heile Welt, Sicherheit, eine Mutter, die alles unter Kontrolle hat. Theater. Bis die kleinen Engel aufstehen und beginnen, durch die Wohnung zu streunen. Ja, wir passen auf, Mama, wir machen nichts kaputt. Mach dir keine Sorgen, Mama, Leo hat es erlaubt. Und weg sind sie. Nur ihr Kichern immer wieder, zwei Kinder auf Entdeckungsreise. Blum und Kuhn bleiben allein am Tisch zurück.
– Ingmar. Wo ist er?
– Nicht hier.
– Wenn du mir nicht sofort sagst, wo er ist, dann steche ich dich ab.
– Dazu gibt es überhaupt keine Veranlassung. Ich habe mich um alles gekümmert, Blum.
– Du steckst mit ihm unter einer Decke. Du hast mich betäubt. Warum? Du hast dieses Schwein laufen lassen.
– Das habe ich nicht, Blum.
– Was dann?
– Es tut mir sehr leid, dass ich dir das antun musste, aber es ging nicht anders.
– Was ging nicht anders?
– Ich wollte nicht, dass du es tust.
– Was?
– Ihn töten.
– Warum nicht?
– Weil ich es tun wollte. Das war eine Angelegenheit zwischen Ingmar und mir. Du musst dir keine Gedanken mehr über ihn machen. Er wird dir nichts mehr tun.
– Das ist nicht dein Ernst, oder?
– Ich habe alles gehört, was er gesagt hat. Was er getan hat. Und es tut mir sehr leid, Blum.
– Willst du mir jetzt sagen, dass du von alldem nichts gewusst hast?
– Ich hatte keine Ahnung.
– Und das soll ich dir glauben?
– Vor drei Jahren kam er zu mir und hat mir den Körperspendevertrag hingelegt. Ich sollte Björk auf dieses Zebra setzen, er hat mir genau gesagt, wie sie es sich gewünscht hat.
– Und du hast getan, was er dir gesagt hat.
– Sie habe es so gewollt, hat er gesagt. Ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, er war ihr Bruder. Ich habe ihm immer vertraut.
– Du hast dich nicht gewundert?
– Da war ihre Unterschrift. Und ich hatte Björk lange nicht mehr gesehen, ich wusste nicht mehr, was in ihr vorging. Dass sie sich umgebracht hat, war schlimm genug.
– Was hast du mit ihm gemacht?
– Ingmar wird keinen Schaden mehr anrichten.
– Er ist dein bester Freund.
– Er war mein bester Freund. Ich wusste nicht, dass er so kaputt ist. Wobei ich es hätte ahnen können. Als er damals anfing, die Tiere zu töten. Die Idee für die Abschlussarbeit war von ihm. Er hat es dir bestimmt erzählt, oder? Er wollte um jeden Preis etwas Besonderes sein.
– So wie du. Was du machst, ist auch nicht gerade alltäglich.
– Ich war erfolgreich, er nicht. Ich wollte ihm helfen.
– Warum?
– Ich war sein Freund.
– Das reicht aus?
– Ja.
– Und Björk?
– Was soll mit ihr sein?
– Du hast sie geliebt.
– Vielleicht.
– Aber sie dich nicht.
– Leider nein. Und trotzdem war es wunderschön.
– Und jetzt?
– Bringe ich dich von hier weg.