Stunden später, diese Dunkelheit. Blum lag in einem großen Bett, wälzte sich hin und her, versuchte sich zu erinnern, wo sie war. Wie sie hierhergekommen war. Warum es anders roch als sonst. Ein fremdes Laken an ihrer Wange, wieder dieser fremde Mann neben ihr im Bett, Ingmars Haut. Zu nah.
Mitten in der Nacht wachte sie auf und spürte ihn. Ein erneuter Schlag in die Magengrube war es, ein Schlag, den sie sich selbst zugefügt hatte, dieses Gefühl, sich übergeben zu müssen, dieser verzweifelte Wunsch, es ungeschehen zu machen. Blum saß wach im Bett und verfluchte sich, sie verfluchte den Schnaps, den sie getrunken hatte, alles, was sie gesagt und getan hatte. Sie hasste sich. Wie schwach und wie dumm sie doch war. Du bist ja nicht mehr ganz normal, Blum! Warum hast du das getan? Alles fiel ihr jetzt wieder ein. Dass sie ihn mit nach oben genommen hatte, mit in ihre Suite. Dass sie ihn gebeten hatte zu bleiben, ohne nachzudenken hatte sie ihren Mund aufgemacht und seine Zunge genommen. Sein Bein, das wie ein lebloses Stück Fleisch neben ihr gelegen hatte. Betrunken war sie, da war nur Ingmars Mund auf ihrem gewesen, seine Hände, und Blum, die nach Zärtlichkeit geschrien hatte. Sie hatte es sich einfach genommen, hatte sich fallen lassen, sich halten lassen. Wie Trost war es gewesen, Leidenschaft irgendwo im Nebel, ein Gefühl, das stärker sein sollte als alles andere in ihr, stärker als diese Angst, die da war. Stärker und lauter als die Gedanken an ihre Kinder. Blum und Ingmar. Eine Nacht lang.
Jetzt aber fühlte sie sich leer. Wie gerne hätte sie die Arme, die schlafend neben ihr lagen, einfach verschwinden lassen. Wie ein Kind war sie, sie wollte es rückgängig machen, wollte allein in diesem Bett liegen, nicht darüber nachdenken. Sie wusste, dass es falsch gewesen war, dass es ihr Leben, an das sie sich plötzlich wieder erinnerte, nur noch komplizierter machte. Der nackte Mann neben ihr war die Zugabe, er krönte das Drama. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen, alles war nun egal, ihre Dummheit füllte den Raum, die brutale Wirklichkeit nach dem Rausch schlug sie nieder. Ein naives, kleines Mädchen, das sich wünschte, ihn nie kennengelernt, den Strand in Griechenland nie verlassen zu haben, nie diese Leichenteile in fremde Gräber gelegt zu haben. Es war alles nur ein Traum. Sie wollte die Augen schließen und sie wieder öffnen, so oft, bis alles wieder gut war. So lange, bis der Traum vorüber war. Augen auf. Augen zu. Doch Ingmar ging nicht weg. Blum blieb in diesem Hotel, in diesem Bett. Es war Nacht. Und es wurde nicht hell.
Er schlief. Er wachte auch nicht auf, als sie aufstand und sich aus dem Zimmer schlich. Blum hatte Hunger, sie musste etwas essen, den ganzen vorigen Abend hatte sie nur getrunken, dieses flaue Gefühl im Bauch machte alles noch schlimmer, ihr Magen brüllte. Ihr Kopf, ihr Mund, alles schrie. Ich will essen. Ich will zu Hause anrufen und wissen, ob es den Kindern gut geht. Ich will zurückfahren. Ich will, dass sie dieses Grab wieder zuschaufeln und das Dreckschwein da unten verrotten lassen. Ich will nicht, dass alles wieder von vorne anfängt. Ich will nicht. Etwas essen. Die Küche finden, den Kühlschrank. Ich will mich nicht verstecken. Nicht hier sein. Verzweiflung und Hunger. Blum ging die Treppen nach unten, sie benutzte nicht den Fahrstuhl, sie wollte keinen Lärm machen, der Hausdame nicht über den Weg laufen, nicht noch mehr schlafende Hunde wecken. Nur essen. Wasser trinken und nachdenken. Nur sie allein in dieser riesigen Küche. Aluminium und Stahl, alles poliert auf Hochglanz, alles bereit zu funktionieren. Nur das Licht der Parkbeleuchtung schimmerte durch die Fenster. Blum schlich durch den halbdunklen Raum, sie suchte den Kühlschrank, vorsichtig, leise, sie kannte sich nicht aus, die Küche hatte er ihr nicht gezeigt, nur einen Blick hatte sie hineingeworfen. Ein Stück Brot wollte sie, Wurst oder Käse, sie musste das Loch in ihrem Bauch füllen, ihren Körper wieder zum Funktionieren bringen, sie musste klar denken, Entscheidungen treffen. Eine Lade nach der anderen öffnete sie, aber da war nichts. Leere Laden, kein Brot, nichts, das ihren Hunger stillte. Nur diese Stimme, die da plötzlich neben ihr war.
Sein Gesicht, das direkt vor ihr auftauchte, sein zitternder Körper, seine Schritte, die sie nicht gehört hatte, weil sie so mit Suchen beschäftigt gewesen war, weil sie nicht wirklich damit gerechnet hatte, dass noch jemand in diese Küche kommen würde. Alfred Kaltschmied, der Patriarch, der sie nicht hatte sehen wollen, Ingmars Vater, der Mann, der Björk adoptiert hatte. Von einem Moment zum anderen war er neben ihr, mitten in der Nacht. Wie er sie ansprach, sie anstarrte. Und wie Blum kurz der Atem stockte, bevor sie begann, mit ihm zu reden. Sie konnte nichts anderes tun, nicht davonlaufen, nicht verschwinden, sich seinen Blicken nicht entziehen, Blum redete mit ihm, antwortete, fragte. Anstatt sich zu fürchten, tat sie so, als würde sie sich nicht wundern, ihn hier anzutreffen, als wäre es selbstverständlich, sich mit ihm zu unterhalten. Sie tat es einfach, sie hatte nichts mehr zu verlieren. Egal ob er sie aus dem Haus jagen würde, sie griff an, anstatt sich zu verteidigen.
– Sie haben mich erschreckt.
– Was machst du hier?
– Ich habe Durst. Und ich habe Hunger. Aber in dieser Küche scheint nicht gekocht zu werden.
– Blum. Richtig?
– So heiße ich, ja.
– Du wirst dir schwertun, hier etwas Essbares zu finden, Gertrud hat ihre eigene Ordnung.
– Wir duzen uns?
– Ja. Alfred heiße ich, aber das weißt du ja bestimmt schon.
– Dein Sohn hat mich eingeladen.
– Es ist gut, dass du da bist.
– Ist es das?
– Ja.
– Du wolltest, dass ich abreise. Du wolltest mich nicht sehen, mich nicht kennenlernen. Hast mich weggeschickt. Warum jetzt?
– Weil ich Zeit hatte, darüber nachzudenken. Ich freue mich, dass du dich in meine Küche verirrt hast.
– Du freust dich?
– Ja. Und ich kann uns Spiegeleier machen, wenn du willst. Oder ein Omelett vielleicht?
Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit. Dass er so freundlich war und still. Dass er mit ihr redete, dass er für sie kochte, dass er ihr sein Zittern zeigte. Ohne Scheu schlug er Eier auf, schnitt Schinken und Schnittlauch. Es war ihm egal, dass er Wasser verschüttete, dass sie sah, wie unbeholfen er mit dem Schneebesen hantierte, während er über seine Vergangenheit sprach. Ohne Aufforderung erinnerte er sich, ließ Blum teilhaben an den Geschichten, die dieses Haus zu erzählen hatte, überraschenderweise hieß sie der Mann, der sie noch vor wenigen Tagen fortgejagt hatte wie einen Hund, willkommen.
Unwirklich schien alles, das leere Hotel, diese Küche, die Zwiebel, die in der Pfanne glasig wurde, und diese Freundlichkeit, die ihr unvermittelt entgegenschlug. Alfred. Seine Fragen, seine Antworten. Er schob Blum den Teller mit dem Omelett hin. Es gab ihr ein gutes Gefühl. So als würden sie sich schon lange kennen. Gemeinsam ruderten sie zurück, sie sprachen über sein Leben, über Ingmar und Björk. Über Solveig. Und über dieses Kinderheim irgendwo am Bodensee.
– Du warst nicht da.
– Wo war ich?
– Ich weiß es nicht, da war nur Björk. Nur ein Mädchen, nicht zwei. Keine Zwillinge, ich habe das wirklich nicht gewusst.
– Sie haben euch nichts gesagt?
– Nein.
– Nichts über eine Schwester?
– Ich schwöre es dir, kein Wort über dich. Da war nur Björk.
– Ich war also schon weg?
– Wir hätten euch niemals getrennt, wenn wir es gewusst hätten. Das musst du mir glauben.
– Ihr hättet beide Kinder genommen?
– Ja. Solveig hat sich so sehr Kinder gewünscht.
– Und Sie?
– Ich wollte, dass sie glücklich ist. Ich habe nie etwas anderes gewollt.
– Ingmar hat mir erzählt, was passiert ist.
– Hat er das?
– Er hat gesagt, dass du sie sehr geliebt hast.
– Ja, das habe ich.
– Er hat gesagt, dass du sie im Wald gefunden hast.
– Sie wollte von einem Baum springen, als ich sie das erste Mal gesehen habe. Ich habe sie überredet weiterzuleben.
– Bitte?
– Da war eine Frau hoch oben in einem Baum. Sie stand auf einem Ast, ohne sich festzuhalten. Mit geschlossenen Augen. Sie hatte ein weißes Kleid an. Und sie war wunderschön.
– Was ist passiert?
– Sie ist heruntergeklettert.
– Warum?
– Ich weiß es nicht. Ich habe nur mit ihr geredet. Ich habe ihr vom Wald erzählt, ich habe ihr gesagt, dass es eine Eiche ist, auf die sie geklettert ist. Und dass sie den Eichhörnchen Angst macht. Ich habe irgendwelchen Unsinn geredet.
– Vielleicht hat sie dort auf dich gewartet.
– Ja, das hat sie wohl.
– Du hast ihr das Leben gerettet.
– Nein, das habe ich nicht.
– Sie ist doch von dem Baum wieder heruntergeklettert, oder?
– Und trotzdem ist sie jetzt tot.
– Das tut mir leid.
– Du sagtest doch, dass Ingmar es dir erzählt hat, oder?
– Ja, das hat er.
– Ich habe ihr Leben nicht gerettet. Und auch das von Ingmar nicht.
– Wie meinst du das?
– Wenn das damals nicht passiert wäre, hätte er sich bestimmt anders entwickelt. Wahrscheinlich wäre sein Leben anders verlaufen.
– Wenn was nicht passiert wäre?
– Er war über zwei Jahre im Krankenhaus. Das tut niemandem gut. Alles ist damals auseinandergebrochen, von einem Tag auf den anderen war alles kaputt.
– Was meinst du?
– Ingmar ist immer mit dem Rad durch die Hotelhalle gefahren. Wir haben es ihm verboten, aber er hat es trotzdem getan. Bei jeder Gelegenheit, nichts hat ihm mehr Spaß gemacht. Vorbei an den Gästen, durch die Halle in den Speisesaal und wieder hinaus in den Garten. Er hat dabei gelacht, er war glücklich, verstehst du? Wir konnten ihm nicht böse sein.
– Es ist ihm etwas zugestoßen?
– Ingmar fuhr mit dem Rad durch die Halle, als sie gesprungen ist.
– Nein.
– Doch.
Grausam und brutal war dieses Bild. Alfred beschrieb es. Der Junge, der unter seiner Mutter lag und sich nicht rührte. Überall ihr Blut am Boden, Ingmar und Solveig, Mutter und Sohn. Alle hatten gedacht, dass beide tot waren. Dass sie ihn erschlagen hatte, weil er sich nicht mehr bewegte. Da waren nur die hysterischen Schreie der Rezeptionistin gewesen und die offenen Münder der Gäste, die in der Halle gesessen hatten. Nur ein dumpfes Geräusch, das man gehört hatte. Ingmars Lachen, das plötzlich verstummt war.
Alfred weinte, während Blum aß. Er wollte es verbergen, aber sie sah es. Eine Träne, die er sich aus dem Gesicht wischte, eine Geschichte aus der Vergangenheit, die bis heute wehtat. Er hatte seine Frau verloren, sein Sohn hatte sieben Monate lang im Koma gelegen. Beinahe gestorben wäre er. Ingmar, für immer verwundet, sein Bein, das alle an damals erinnerte. Dieses schöne Leben, das einfach aufgehört hatte, und die Gäste, die Alfred aus dem Haus geworfen hatte. Sie mussten abreisen, alle, sofort, sie sollten das Blut auf dem Marmorboden nicht sehen, sie nicht anstarren. Solveig und Ingmar. Alfred wollte nicht, dass sie begafft wurden, er hatte die Fassung verloren. Ich kam aus dem Garten und habe zuerst nur die Gäste gesehen. Wie sie herumstanden und schauten. Nichts haben sie getan, niemand hat geholfen. Sie haben sie nur angestarrt, wie Tiere im Zoo. Die Löwin, die ihr Junges zerfleischt hat. Ich habe laut geschrien. So laut, dass sie ihre Koffer gepackt haben und gegangen sind.
Alfred in der Küche. Zwanzig Jahre später. Immer noch rang er nach Luft, als er ihr davon erzählte. So als hätte er zwanzig Jahre lang darüber geschwiegen, so als wäre sie die Erste, der er es sagen konnte. Es war unerträglich. Dass Solveig sich davongemacht hatte, ihn alleingelassen hatte mit den Kindern, mit Ingmar im Krankenhaus, monatelang hatten sie an seinem Bett gesessen, Alfred und Björk, hatten Ingmars Hand gehalten und geweint. Bis er wieder aufgewacht war. Wie verzweifelt Alfred gewesen sein musste, Blum konnte es spüren, diese Hilflosigkeit. Sie sah es in seinen Augen, sie sah, wie er die zitternde Hand hob und die nächste Träne verschwinden ließ. Ein alter, kranker Mann, der sich an das Leben in einem wunderschönen Hotel am Ende der Welt erinnerte. An einen Jungen im Rollstuhl, der die leeren Gänge entlanggefahren war. Der kleine Fortschritte gemacht hatte und wieder gelernt hatte, zu gehen. Alle hatten versucht, weiterzuleben im Paradies. Alfred, Ingmar und Björk.