Wieder über die Autobahn. Der Blick aus dem Fenster, die Kinder in ihren Armen. Uma links, Nela rechts. Sie schmiegen sich an sie, sind einfach eingeschlafen. Zwei hilflose kleine Wesen, die Schutz suchen, sie sind wieder angekommen an Blums Haut, hören ihre Stimme, küssen sie, halten sie lange einfach nur fest. Du musst uns drücken, Mama. Wir dachten, du hast uns nicht mehr lieb, Mama. Kinderangst und dieses wunderschöne Gefühl, angekommen zu sein, alles in Händen zu halten, was wichtig ist. Sie sind zusammen, ganz nah sind die kleinen Stimmen, alles, wovor sie sich fürchten, was sie lieben, was sie sind. Blum will es festhalten, nicht mehr loslassen. Während sie aus dem Fenster starrt, spürt sie, hört sie, was er gesagt hat damals. Mark an einem Morgen im Bett. Wie sie geflüstert haben, Blum und er.

– Ich würde alles für euch tun.

– Was meinst du, Mark?

– Euch beschützen.

– Vor wem?

– Vor Löwen, wilden Tieren, was weiß ich.

– Ach, du romantischer Kerl.

– Im Ernst, Blum, ich würde alles tun, egal was.

– Zum Beispiel?

– Wenn den Kindern etwas passieren würde, wenn ihnen jemand etwas antun sollte. Oder dir.

– Wer sollte uns etwas antun?

– Niemand.

– Warum sagst du mir das dann?

– Wenn ich mir vorstelle, dass ich euch verlieren könnte.

– Du verlierst uns nicht.

– Wenn du nicht mehr da wärst, das wäre das Schlimmste. Ohne dich zu leben.

– Hör auf damit. Ich bin hier, Mark.

– Wir gehören zusammen, Blum.

– Ja, das tun wir.

– Ich werde sehr gut auf dich aufpassen.

– Wirst du das?

– Versprochen.

Versprechen gebrochen. Er passt nicht mehr auf sie auf, beschützt sie nicht mehr, nimmt sie nicht mehr in den Arm. Auch die Kinder nicht. Nur noch Blum ist da, ihre Arme, ihre Liebe, nicht mehr seine. Blum und Ingmar, sonst niemand. Mark hat sie im Stich gelassen, hat sie zurückgelassen in einem Albtraum, aus dem sie immer noch nicht aufgewacht ist. Eine Katastrophe nach der anderen. Und immer wieder diese Angst. Dass es nicht aufhört, dass es weitergeht, dass noch etwas passieren wird. Dass irgendjemand ihr wieder nehmen wird, was sie jetzt festhält. Angst, weil es sich so gut anfühlt, weil sie sich wünscht, dass es für immer bleibt. Die beiden Kinder, die er ihr geschenkt hat. Marks Gesicht, wenn sie Nela anschaut, seine Nase, sein Mund. Umas dichtes Haar. Mark ist bei ihr. Ganz nah.

Blum und die Landschaft, die vorüberzieht. Sie ist in Sicherheit, niemand wird sie aufhalten und kontrollieren, kein Polizist, kein Unfall, sie werden ganz ruhig über die Autobahn schippern, Richtung München und weiter nach Norden. Weit weg. Blum weiß noch nicht, wohin. Sie hat keine Ahnung, Ingmar hat gesagt, sie soll sich keine Gedanken machen, sich nur um die Kinder kümmern. Nicht darüber nachdenken, wo sie leben will, wie weit sie wegmuss, in welchem Loch sie verschwinden soll, damit man sie in Ruhe lässt. Sie sitzt nur da und schaut aus dem Fenster. Hält ihre Kinder fest, streichelt über ihre Haare, flüstert immer wieder. Mama passt auf euch auf. Mama lässt euch nie mehr allein. Seit sie in den Wagen gestiegen sind, liegen Blums Hände auf ihnen.

Wie ein Wunder ist es. Alles war so, wie Karl es sich ausgemalt hat. Ihre Angst war unbegründet, alles, was sie sich gedacht hat, bevor es so weit war. Als sie zum Schwimmbad fuhren. Ob alles gut gehen würde. Ob Schrettl gefunden werden würde, bevor sie die Kinder in die Arme nehmen würde. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Wird Karl die Kinder dazu bringen, über die Mauer zu klettern? Wird irgendein unverschämter Journalist den Kindern folgen? Ein Foto von ihnen machen, wenn sie in den Wagen steigen? Sich das Kennzeichen notieren und die Polizei rufen? Blum hat sich Sorgen gemacht, und Ingmar hat sie beruhigt. Ingmar am Steuer. Er ist tatsächlich immer noch da, dieser verrückte Kerl, der ihr von Anfang an geholfen hat, er ist einfach geblieben. Hat sie nicht im Stich gelassen, obwohl sie ihm gesagt hatte, dass nichts aus ihnen werden könne. Sie spürte es, wenn er sie anschaute, seinen Wunsch nach Zärtlichkeit, seine Hoffnung auf eine Zukunft mit ihr. Ingmar und Blum. Sie konnte nicht, wollte nicht, trotzdem fuhr er mit ihr durch Innsbruck. Blum verabschiedete sich, sie machte sich bewusst, dass sie nie wieder zurückkommen würde. Nie wieder durch die Museumstraße, nie wieder die Viaduktbögen
entlang, nie wieder. Zum letzten Mal sah sie alles, die Villa im Saggen war nur noch eine Erinnerung. Auf dem Weg zum Schwimmbad löste sich alles auf.

Das Tivoli. Das Freibad neben der Olympiahalle, in zweiter Spur blieb Ingmar stehen. Eine Seitenstraße nahe dem Hintereingang, pünktlich um drei Uhr sollten die kleinen Engel über die Mauer klettern. Aufgeregt in Badeanzügen, weil Karl ihnen gesagt hatte, dass Mama dahinter auf sie warte. Ein Spiel sei es, hatte er gesagt. Nur ein Spiel. Und dann die strahlenden Augen, als sie Blum wiedersahen, Kinderarme, die auf sie zuflogen. Uma und Nela, die in Windeseile in dem Wohnmobil verschwanden. Die Tür, die zuging, und Ingmar, der über den Südring auf die Autobahn fuhr.

Lachende Gesichter und Tränen. Blum kann nicht glauben, dass es wirklich passiert, dass Uma tatsächlich auf ihrem Schoß sitzt. Dass Nela sie wild umarmt und nicht aufhört zu reden. Wo warst du, Mama? Wir haben dich vermisst, Mama. Du darfst nie wieder weggehen. Wo fahren wir hin, Mama? Ich bin so froh, dass du nicht tot bist, Mama. Aus dem Kindermund das, was auch sie sich denkt. Dass sie leben darf. Dass sie sich nicht umgebracht hat. Aufgegeben hat. Weil es das Einfachste gewesen wäre. Wie dankbar Blum ist, während sie weiter die Kinderhaare streichelt und Ingmar an einer Raststation hält. Wir müssen tanken, sagt er. Blum schweigt. Sagt nichts, schaut nur. Wir müssen entscheiden, wohin es gehen soll, sagt er. Blum sagt noch immer nichts. Sie ignoriert ihn, sie verlässt sich auf ihn, weil es ohnehin egal ist, wohin sie fahren. Wenn man nirgendwohin kann, ist es egal, wo das Ziel ist. Wenn man nirgendwo zu Hause ist, kann man auch überall ankommen. Keine Freunde mehr, keine Stadt, kein Haus, kein Halt. Nur noch ein Wohnmobil, in dem man bleiben muss, weil man sonst erkannt und eingesperrt wird. Ein kleines Gefängnis auf Rädern. Und trotzdem irgendwie das Glück, alles, was sie sich gewünscht hat. Angekommen in einer Umarmung, die alles andere vergessen lässt.

Totenhaus
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