Ihr Hals ist eine Wunde, alles tut weh. Ihr Mund ist eine Wüste, das Schlucken ist eine Qual. Kein Speichel mehr, kein Tropfen Wasser, nichts, das abwendet, was kommt. Sie wird das Bewusstsein verlieren, ihre Organe werden versagen, die Nieren, die Lunge, ihr Körper wird aufhören zu funktionieren, sie kann nichts dagegen tun, sich nicht mehr wehren, nicht mehr gegen die Tür treten, an den Wänden kratzen. Irgendwo in diesem verdammten Haus ist sie, allein in irgendeinem der dreihundert Zimmer. Blum hat keine Kraft mehr. Sie weiß nicht, wie oft es Nacht war, seit Gertrud von ihrem Traktor überrollt wurde, seit Alfred zitternd neben ihr stand. Blum weiß nur, dass es nicht mehr lange dauern wird. Sie kann nicht mehr, sich nicht mehr bewegen, nicht mehr sprechen, nichts mehr. Zu langsam war sie, zu spät hat sie die Entscheidung getroffen, viel früher schon hätte sie verschwinden müssen.
Während Blum versucht, ihre Zunge an einen anderen Platz zu legen, während alles in ihr nach Wasser schreit, erinnert sie sich. Sieht sie es vor sich. Wie er sich ihr in den Weg stellte, die Lifttür blockierte. Er wollte nach oben, als sie nach unten kam, er grüßte sie freundlich, wollte mit ihr über Gertrud reden, dann sah er die Tasche. Schnell begriff er, dass sie dabei war, zu gehen, er konnte seine Überraschung nicht verbergen, aus der Trauer in seinem Gesicht wurde Wut. Wohin willst du, Blum? Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen. Doch, Blum konnte. Er sah es in ihren Augen, dass ein Gespräch sinnlos war. Dass er sie mit Worten nicht mehr aufhalten konnte.
– Du musst hierbleiben, Blum.
– Das muss ich nicht.
– Doch, Blum, du darfst jetzt nichts überstürzen.
– Geh mir aus dem Weg.
– Aber wo willst du denn hin?
– Du sollst mir aus dem Weg gehen.
– Lass uns reden.
– Nein.
– Du sollst jetzt aus diesem Lift kommen, Blum.
– Fass mich nicht an.
– Niemand weiß etwas.
– Du sollst deine Finger von mir lassen.
– Du kannst mir vertrauen, Blum.
– Nein.
Ingmar. Wie er vor ihr stand und den Ausweg blockierte. Wie er versuchte, sie aus dem Fahrstuhl zu zerren, und wie alles in Blum schrie, sich wehrte. Ingmar wollte sie aufhalten. Und deshalb schlug sie einfach zu, trat auf ihn ein, er hatte gar keine Möglichkeit zu reagieren. Blums erster Tritt kam zu schnell, Ingmar ging in die Knie, und Blum warf ihn nach hinten. Sie wollte nur, dass er sie in Ruhe ließ. Nie wieder seine Haut berühren, seine Lippen, seine Hände, keine Kaninchen mehr, die durch die Luft flogen. Nichts mehr. Er stöhnte, während sie immer wieder panisch auf den Knopf drückte. Wild geworden, außer sich, eine Furie, keine Worte mehr, nur noch Angst. Blum wollte einfach nur, dass die Tür sich wieder schloss, dass er aufhörte, sie festzuhalten, dass die Hand, die sie am Fuß gepackt hatte, sie wieder losließ. Noch einmal trat sie zu. Dann ging die Lifttür endlich zu.
Wie oft sie es vor sich gesehen hat in den letzten Tagen. Diesen Moment, als er ihr sein Gesicht gezeigt hat. Ingmar. Sein Begehren, das sie hatte frösteln lassen. Ingmar. Sie hatte sich küssen lassen von ihm, berühren lassen, er war in ihr gewesen. Mit rasendem Herzschlag lief sie durch die Tiefgarage, verzweifelt suchte sie nach dem richtigen Auto, kein Lämpchen blinkte, kein Piepen war zu hören, egal wie oft sie auf den Knopf drückte. Die Batterie für die Fernbedienung musste leer gewesen sein. Der Schlüssel lag in ihrer Hand, ungeduldig steckte sie ihn in ein Schloss nach dem anderen. Bis sie den richtigen Wagen fand. Ein Porsche, schwarz, ein Schmuckstück. Der Weg zurück stand auf einmal wieder weit offen, nur noch eine Minute trennte sie davon, mit Vollgas durch den Schwarzwald zu brausen. Blum warf ihre Tasche auf die Rückbank, wollte einsteigen, da spürte sie den ersten Hieb. In ihrem Rücken ein schweres Stück Holz oder eine Metallstange, ein Schmerz, der sie zu Boden riss. Und dann noch ein Schlag. Auf ihren Kopf. Dumpf. Da war nur noch dieses Geräusch auf ihrer Schädelplatte. Ein leichtes Knacken, dann war lange nichts mehr.
Nur Schwarz. Nur Dunkelheit, aus der sie langsam erwachte. Ein Brennen, Schmerzen, ihr Kopf, dieses Pochen, Schwindel. Blum allein in diesem Zimmer. Mitten im Raum auf dem Teppich. Wie sie sich aufgerafft und an der Tür gerüttelt, nach Fenstern gesucht hat, nach einem Ausweg. Bis sie begriffen hat, dass es keinen gibt. Sie war eingesperrt, aufgewacht im nächsten Albtraum, in einem schönen Hotelzimmer, einem goldenen Käfig, irgendwo in diesem riesigen Haus, in irgendeinem Stock, verborgen hinter irgendeiner Tür. Kein Wasser, nichts zu essen, keine Antwort, keine Hilfe, Durst. Nur ihr Schreien. Allein in diesem Zimmer. Tagelang. Sie weiß, dass es zu Ende geht. Alles. Dass der Kot, den sie in eine Decke gewickelt hat, nicht aufhört zu stinken. Bis zum Ende nicht. Nichts mehr wird sich verändern, der Geruch, das Licht, ihr schöner Körper auf dem teuren Teppich. Ihr Mund, der offen steht. Ihre Augen, die sie schließt. Blum.
Langsam dreht sie sich auf den Rücken. Seit Stunden in Seitenlage, ihre Hüfte tut weh, ihr Arm ist eingeschlafen, einmal bewegt sie ihn noch. Was früher selbstverständlich war, ist jetzt beinahe unmöglich, die einfachsten Dinge, jede Bewegung, das Atmen. Da ist nur noch verdorrtes Fleisch, das für immer liegen bleibt. Niemand kommt und rettet sie. Sie kann nichts mehr tun, nur noch daliegen und warten. Sich zum letzten Mal dieselben Fragen stellen. Wie konntest du nur so dumm sein, Blum? Du hättest es ahnen müssen, dass etwas nicht stimmt mit ihm. Dass er ein krankes Schwein ist. Es musste ja so kommen, du hast es so gewollt, du hast alles kaputt gemacht, Blum. Immer wieder Vorwürfe, Anklagen und Strafe. Blum hört sich reden, Stimmen, die sich tief in ihrem Kopf selbständig machen, sie hat es nicht mehr unter Kontrolle, sie fantasiert. Laute Gedanken, sie schimpft und brüllt und flüstert, sie entschuldigt sich, macht sich klein und weint. Sie redet mit sich selbst, weil sonst niemand da ist. Weil sie allein ist, weil sie verrückt wird, kurz bevor sie stirbt. Wirr alles, nur noch diese zwei Stimmen in ihrem Kopf. Mit letzter Kraft gegeneinander. Blum gegen Blum.
– Dumme kleine Blum.
– Hör auf damit.
– Es wird nicht mehr lange dauern. In einer Stunde wirst du bewusstlos sein, dann werden deine Organe versagen. Eines nach dem anderen.
– Bitte nicht.
– Schau dich doch an.
– Mein Name ist Blum. Ich bin Bestatterin. Ich lebe in Innsbruck. Ich habe zwei Kinder.
– Ach, hör doch endlich mit diesem Schwachsinn auf. Niemand kann dich hören, Blum. Da ist keiner, der dir helfen kann. Niemand, verstehst du? Du bist allein, und du wirst sterben. Schön langsam. Also hör endlich auf, dich zu wehren.
– Ich will hier weg.
– Schaut so aus, als würde das nicht mehr funktionieren. Das ist die Endstation, Blum.
– Ich will nicht sterben.
– Das wirst du aber.
– Die Kinder. Ich muss zu den Kindern.
– Vergiss endlich die Kinder.
– Das kann ich nicht. Ich muss zu ihnen. Für sie da sein. Bitte.
– Halt endlich deine verdammte Klappe, Blum.
– Ich wollte das alles nicht.
– Dass es so kommen würde, muss dir doch klar gewesen sein. Oder hast du tatsächlich gedacht, dass du mit all dem davonkommst?
– Ich habe doch nichts getan.
– Du hast sie geschlachtet, Blum.
– Nein.
– Doch. Du hast sie umgebracht, sie zerstückelt und sie wie Müll entsorgt. Deshalb wirst du sterben.
– Bitte nicht.
– Jetzt bekommst du die Rechnung für alles. Zahltag, Blum.
– Aber sie haben es doch verdient.
– Wie rührend.
– Das waren Monster.
– Wie lächerlich das alles ist. Stirb doch einfach, Blum.
– Uma und Nela.
– Du sollst endlich damit aufhören, Blum. Sie können froh sein, dass sie dich los sind, dass sie endlich ein normales Leben führen können.
– Nein.
– Denkst du, dass es ihnen Spaß gemacht hat, mit all den Leichen aufzuwachsen? Ständig mit dem Tod im Haus? Eine Mutter, die sich nicht im Griff hat. Eine Mörderin.
– Ich habe mich immer um sie gekümmert. Immer. Ich habe alles für sie getan. Alles für meine Mädchen.
– Mach dir nichts vor, Blum. Du hast es nicht besser gemacht als Herta und Hagen. Du hast genauso versagt wie sie. Dafür hast du sie doch gehasst. Dass sie dich im Stich gelassen haben, oder?
– Ich bin nicht wie Hagen und Herta.
– Doch, Blum. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, und deshalb ist es für alle besser, dass du jetzt endlich krepierst.
– Mein Name ist Blum. Ich habe zwei Kinder. Ich lebe in Innsbruck.
– Du verlierst den Verstand, Blum.
– Ich kann jetzt nicht sterben.
– Doch. Dafür hat der gute Ingmar gesorgt.
– Nicht.
– Er wird dich wohl auch von Kuhn ausstopfen lassen. So wie Björk. Vielleicht setzt er dich auf eine fette, hässliche Kuh, unserem guten Ingmar wird bestimmt etwas Hübsches für dich einfallen.
– Warum sollte er so etwas tun?
– Warum wirft er Tiere an die Wand?
– Was geht hier eigentlich vor sich?
– Du sollst endlich aufhören, solche Fragen zu stellen.
– Was soll ich denn sonst tun?
– Du sollst jetzt loslassen, Blum.
– Wie denn?
– Mach einfach die Augen zu.
– Und jetzt?
– Stirb.