Eine Stunde später in seinem Arbeitszimmer. Gerührt stand Blum neben ihm. Alfred Kaltschmied weinte. Benommen versuchte er zu begreifen, was da passierte. Er wischte sich Tränen aus dem Gesicht, weil Gertrud unten im Park lag und sich nicht mehr rührte. Sie ist tot, flüsterte er immer wieder. Blum nickte nur. Nebeneinander standen sie und beobachteten, was vor sich ging. Überall waren Menschen, ein Krankenwagen, Polizei. Ingmar koordinierte alles, er war den Feuerwehrleuten behilflich, immer wieder blieb er stehen und hielt seine Hand vor den Mund. Auch er starrte mit entsetzten Augen auf die Leiche. So wie Alfred.

Blum versteckte sich in seiner Wohnung, sie hatte den alten Mann nach oben gebracht und war geblieben. Hinter dem Vorhang verbarg sie sich und verfolgte das Spektakel unten im Park. Alfred zitternd neben ihr, ein gebrochener Mann, der versuchte zu verdrängen, dass er gerade etwas sehr Wichtiges verloren hatte. Gertrud. Still lag sie da. Der Traktor, der sie überrollt und zerquetscht hatte, stand ganz in ihrer Nähe. Gertrud, die gute Seele des Hauses, hatte aufgehört zu atmen, Alfreds Vertraute, die Ziehmutter seiner Kinder, fast alles, was er noch gehabt hatte, lag jetzt zerquetscht im Garten.

Hilflos legte Alfred seinen Arm um Blum, er sagte nichts mehr, er hielt sich einfach nur fest an ihr. Und Blum ließ es zu. Obwohl sie selbst nichts lieber getan hätte, als in irgendeiner Umarmung zu verschwinden, Blum stützte ihn, war für ihn da. Vormittags im Totenhaus. Wie in diesem fürchterlichen Kinderlied war es. Ein kleines Negerlein,/Das fuhr mal in der Kutsch,/Da ist es unten durchgerutscht,/Da war’n sie alle futsch. Solveig, Björk, Gertrud. Wieder einer weniger, und Blum saß in der ersten Reihe, sie hatte Alfreds Schreie gehört. Helft mir. Bitte, helft mir doch. Gertrud. Bitte helft mir. Was ist mit dir, steh auf, Gertrud. Immer wieder sein Flehen. Er hatte sich über sie gebeugt, Alfred unter dem Kirschbaum. Wie er sie im Arm gehalten hatte und wie Blum losgerannt war.

Im ersten Moment hatte sie gedacht, Gertrud hätte sich nur verletzt. So schnell sie konnte, war Blum nach draußen gelaufen, sie wollte helfen, doch sie war zu spät gekommen. Gertrud war tot, und Alfred war dabei gewesen, das zu begreifen. Er war verzweifelt gewesen, wollte es nicht wahrhaben, das Blut, der große Gummireifen auf Gertruds leblosem Leib. Blum und Alfred konnten sie nur noch von dem Traktor befreien, das Ungetüm zur Seite schieben. Ein Unfall war es gewesen. Eine willkommene Ablenkung für Blum, ein Problem, das sie ihr eigenes Elend kurz vergessen ließ, eine Unregelmäßigkeit, die alle rund um sie herum aus der Bahn warf. Es herrschte Chaos, Blum versuchte, die Situation zu beruhigen, sie tat das, was sie am besten konnte. Ruhig und gefasst kümmerte sie sich um die Leiche, sie drehte Gertrud zur Seite, damit man die schlimmsten Verletzungen nicht mehr sehen konnte, sie schloss ihre Augen, den Mund, sie bedeckte die zerquetschten Körperteile mit ihrer Jacke, und sie versuchte, Alfred von ihr fernzuhalten. Blum redete liebevoll auf ihn ein, bat ihn, mit ihr zu kommen, nach oben zu gehen, Ingmar zu suchen. Ganz plötzlich war Blum stark, sie handelte einfach, machte ihre Arbeit, ohne nachzudenken. Erstversorgung der Leiche, Gespräche mit den Angehörigen, Trauerbegleitung, sie fing die ersten Tränen auf, umarmte ihn. Dann zog sie ihn mit sich zurück ins Hotel, sie wollte niemandem begegnen, kein Mensch sollte wissen, dass sie hier war, niemand sollte fragen, wer die fremde Frau war. Bald würde sie in jeder Zeitung sein, man würde sie wiedererkennen. Schnell war sie also aus dem Park verschwunden, hatte sich wieder im Innern des Solveig verkrochen. Mit Alfred an ihrer Seite.

Irgendwie wunderte sie sich nicht. Sie hatte geahnt, dass noch etwas passieren würde. Dass es nicht aufhören würde. In riesengroßen Leuchtbuchstaben hatte es in der Hotelhalle an der Wand gestanden, hatte es am Dach des Hauses geprangt. Wenn sie nicht so naiv gewesen wäre, hätte sie es gesehen. Geh weg von hier. Geh weit weg und komm nicht zurück. Blum hatte es gespürt, doch sie war geblieben, war nicht weggerannt, den Hügel hinunter in die Stadt. Sie wollte unbedingt an ein Märchen glauben, an eine Schwester, an die heile Welt, von der sie immer geträumt hatte. Aber da war nur der zitternde Alfred, der dieses Hotel seit zwanzig Jahren leer stehen ließ, und da war Ingmar, der nichts anderes tat, als Kaninchen an die Wand zu werfen.

Wie in einem Film war alles. Sie beobachtete, wie ihre Welt zusammenbrach und sie selbst dem Ende entgegenraste. Was drunten im Park passierte. Was zu Hause passierte. Langsam und ohne etwas zu fühlen, schüttelte sie den Kopf. Ausweglos war alles. Alfreds Finger trommelten verzweifelt auf sie ein, seine Hand lag immer noch auf ihrer Schulter, er stand neben ihr und beobachtete, wie die Bestatter Gertrud in den Transportsarg legten und den Deckel schlossen. Blum konnte es in seinen Fingerspitzen spüren, wie es ihn beinahe zerriss, deshalb ließ sie seinen Arm noch kurz auf sich liegen. Bis er sich beruhigte, dann wollte sie gehen, davonrennen. Egal wohin. Nur weg. An einen Ort, wo man sie nicht kannte, wo man nicht wusste, was sie getan hatte. Bevor er die Zeitung lesen würde, bevor er begriff, wer sie war.

– Ich kann nicht länger hierbleiben, Alfred.

– Die Handbremse war nicht fest genug angezogen.

– Ich werde nicht wiederkommen.

– Der Traktor muss nach hinten gerollt sein, gerade als sie sich gebückt hat. Wahrscheinlich wollte sie einen Apfel aufheben, der noch gut war.

– Ich möchte mich dafür bedanken, dass ich hier sein durfte. Aber ich muss wirklich los.

– Was soll ich ohne sie nur machen?

– Ich weiß es nicht.

– Ich habe immer gesagt, sie soll einen Gärtner kommen lassen. Ich wusste, dass irgendwann etwas passieren würde.

– Wenn Gertrud weg ist, werde ich fahren.

– Ohne sie funktioniert das hier nicht. Sie hat das alles zusammengehalten, ohne sie gäbe es das Solveig nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Gertrud hat alles gemacht. Alles.

– Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ich kann nicht länger bleiben.

– Bitte nicht.

– Ich muss, Alfred.

– Warum?

– Weil ich nicht hierhergehöre.

– Doch, das tust du.

– Nein. Mit all dem habe ich nichts zu tun. Das sind nicht meine Toten hier. Das ist nicht meine Geschichte.

– Jetzt schon.

– Es tut mir alles sehr leid, Alfred, aber ich kann nicht.

– Wo willst du denn hin?

– Zu meinen Kindern.

– Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist.

– Wie meinst du das?

– Du kannst hierbleiben, Blum. Niemand weiß, dass du hier bist, oder?

– Was soll das heißen?

– Ingmar hat es mir erzählt.

– Was?

– Alles.

– Was willst du damit sagen?

Ich habe dir die Zeitung hingelegt.

– Das war’s, Alfred. Ich bin weg.

– Ich denke, du hast keine Wahl, du wirst gesucht.

– Stopp.

– Hier bist du sicher, Blum.

– Du willst, dass ich hierbleibe, obwohl du weißt, was ich getan habe?

– Du gehörst zur Familie, Blum.

– Was ist nur los mit euch? Seid ihr wahnsinnig? Jeder normale Mensch würde laut schreiend vor mir davonlaufen. Du müsstest dich doch davor fürchten, dass ich ein Messer ziehe und dich in Stücke schneide. Ihr wisst, was ich getan habe, aber ihr bittet mich, zu bleiben. Warum?

– Du bist Björks Schwester, und wir werden alles tun, um dich zu beschützen. Du kannst hierbleiben, und wir werden gemeinsam überlegen, was das Beste ist. Wie du deine Kinder wiedersehen kannst.

– Du weißt nicht, wovon du da redest.

– Doch, das weiß ich.

– Ihr seid verrückt.

– Nein, das sind wir nicht. Wir haben Björk verloren, und wir wollen dich nicht auch noch verlieren. Nicht jetzt. Wir haben uns eben erst kennengelernt, es gibt noch so viel zu sagen. Du musst bleiben, Blum. Bitte.

– Das ist kein Märchen hier, ihr könnt mich nicht bis an mein Lebensende verstecken. Das geht nicht.

– Warum nicht? Hier bist du sicher. Wir holen deine Kinder, und alles wird gut.

– Du bist alt, Alfred.

– Du meinst, ich bin dumm?

– Du wirst alles verlieren, wenn ich hierbleibe. Die Polizisten da unten werden dich und Ingmar in eine Zelle sperren. Nichts wird gut.

– Was habe ich denn zu verlieren, Blum?

– Das alles hier. Das Solveig, dein Leben.

– Mein Leben? Was ist das alles wert, wenn niemand da ist, mit dem ich es teilen kann?

– Du hast keine Ahnung, Alfred. Wir reden hier nicht von einem Verkehrsdelikt, du scheinst das nicht ganz zu begreifen.

– Doch. Und deshalb wirst du hierbleiben. Du wirst dich nicht vom Fleck rühren. Bleib hinter dem Vorhang und warte, bis ich wiederkomme.

– Wo willst du hin?

– Vertrau mir.

Der verzweifelte alte Mann. Wie er sich aufbäumte und Blum mit entschlossenen Augen anschaute. Mit beiden Händen hielt er sie sanft an ihren Oberarmen fest. So als hätte er von einer unsichtbaren Quelle getrunken, als hätte er neuen Mut geschöpft. Alfred sagte, dass sie bleiben solle, er entschied für sie. So wie es ein Vater tat, wenn das Kind nicht weiterwusste, wenn es verzweifelt neben ihm stand und wortlos um Hilfe bettelte. Alfred übernahm das Ruder, er schluckte seine Trauer hinunter, ruhig strich er mit seiner Hand über ihren Rücken und lächelte sie an. Es wird alles gut, sagte er. Dann ging er aus dem Raum. Hinunter zu den anderen. Zu Gertrud. Zu Ingmar. Zu Kuhn.

Er war es gewesen, der Alfred plötzlich aufgescheucht hatte. Leo Kuhn war in seinem roten Ferrari auf das Solveig zugefahren. Der Freund der Familie, der gekommen war, um ihnen beizustehen. Ingmar, der ihn wahrscheinlich angerufen und ihm gesagt hatte, dass Gertrud tot war. Wahrscheinlich war sie auch für ihn sehr wichtig gewesen, bestimmt hatte sie auch für ihn gekocht. Früher war er oft wochenlang hier gewesen, hatte Alfred gesagt. Fast ein Familienmitglied war er, und trotzdem war Alfred aufgesprungen, um ihn wegzuschicken. Ich werde dafür sorgen, dass er wieder fährt, hatte er gesagt. Mach dir keine Sorgen, Blum. Niemand wird erfahren, dass du hier bist. Du bist sicher hier, Blum. Anstatt zu gehen, blieb sie also. Mit traurigen Augen verfolgte sie, was unten passierte, sie sah, wie Alfred mit gesenkten Schultern durch den Garten ging, hin zum Unglücksort. Sie sah, wie er mit den anderen redete. Und wie Gertrud verschwand.

Wie selbstverständlich es war, dass Gertruds Körper in dem Leichenwagen davonfuhr. Blums Alltag so viele Jahre, Leichen abholen, sie waschen und anziehen, sie einsargen und vergraben. Lebensenden, seit sie denken konnte, die Hilflosigkeit und der Schmerz der Hinterbliebenen. Jetzt wieder. Männer, die weinten, die für einen Moment lang nicht stark sein mussten, sich ihrer Trauer hingeben durften. Ingmar, Alfred und Kuhn lagen sich in den Armen. Ein paar Minuten lang ein schönes Bild. Vertraut standen sie zusammen und redeten. Aber dann hob Kuhn unvermittelt seinen Kopf, ganz langsam drehte er sich um und starrte zu ihr nach oben. Erschrocken wich Blum zurück. Sie wusste es, sie hatten über sie geredet, Alfred musste etwas gesagt haben, irgendetwas stimmte nicht. Blum ging weg vom Fenster, sie rannte aus dem Zimmer, aus Alfreds Wohnung, sie durfte keine Zeit verlieren. Ganz plötzlich lief es ihr kalt über den Rücken, Blum rannte, so schnell sie konnte. Dieses Gefühl, das da plötzlich war, trieb sie an. Das Gefühl, dass sie dieses Haus niemals mehr verlassen würde.

Totenhaus
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