Sie wird nach Osten fahren. Mit den Kindern in irgendein Auto steigen und verschwinden. Sie wird irgendjemandem Geld geben, damit er sie weit wegbringt. Blum wird mit den Mädchen das Land verlassen, sie wird irgendwo neu anfangen, niemand wird sie daran hindern. Uma und Nela werden ganz normal aufwachsen, so wie andere Kinder auch, niemand wird wissen, was vorher war, was sie getan hat, sie werden es niemals erfahren. Blum wird dafür sorgen, dass sie glücklich sind, sie wird sie nicht mehr in Gefahr bringen, keine Sekunde mehr, sie wird sie beschützen. Sie wird alles dafür tun, dass es wahr wird. Nicht aufgeben, es zu Ende bringen, keine Spuren hinterlassen.
Wozu man fähig ist, wenn nichts mehr an seinem Platz steht und alles durcheinander ist. Blum weiß es. Sie erinnert sich daran, was sie mit diesen Männern gemacht hat, während sie immer noch darauf wartet, dass Ingmar wieder aufwacht. Blum hat nicht gezögert damals, nicht gezweifelt, sie hat auf ihr Gefühl vertraut, hat es einfach getan. Sie darf ihn nicht gehen lassen, sie muss wissen, was er verbirgt, warum es ihr so leichtgefallen ist, die Metallskulptur auf seinen Kopf zu schlagen. Sie will es sich erklären, sich sicher sein, deshalb wird sie jetzt aufstehen und ihn aufwecken, ihn zurückholen und mit ihm reden. Sie geht ganz nah an ihn heran und spricht mit ihm, sagt seinen Namen. Zuerst leise, dann laut. Selbst wenn sie schreit, wird Kuhn sie nicht hören, sie ist ungestört mit Ingmar. Kurz mit ihm allein, bis sie alles weiß, dann wird sie wieder hinaufgehen zu den Kindern, sie wird sich zu ihnen legen und einschlafen. Wenn sie weiß, was sie wissen will. Ingmar. Ein Vertrauter, vor dem sie sich tief im Inneren fürchtet. Ihr Bauch sagt es, sie vertraut ihm nicht mehr, im Grunde hat sie es nie getan, sie hat sich nur in seine Hände begeben, weil da sonst niemand mehr war. Sie hat ihm geglaubt, weil sie es so wollte, sie hat seine Zärtlichkeit einfach genommen, ein bisschen Liebe, nach der sie sich so gesehnt hat. Der Wunsch nach Berührung. Wie blind das macht. Der Wunsch, geliebt zu werden. Wie dumm das macht.
Ingmar. Er lügt. Blum weiß es. Jetzt schon. Deshalb schüttelt sie ihn, schreit ihn an, so lange, bis er aufwacht und sie anschaut. Seine entsetzten Augen, weil er noch nicht begreift, was passiert ist, was sie getan hat. Was sie von ihm will. Blum beugt sich über ihn, ganz nah, sie beobachtet ihn, hört ihn, sein Schreien unter dem Klebeband, das Stöhnen, die Verzweiflung, weil sie ihn gefesselt und geknebelt hat, weil sie nur dasteht und ihn anstarrt. Nichts sagt, abwartet, schaut, was seine Augen machen, sein Gesicht, ob es etwas verrät. Ingmar. Festgebunden auf einem Brett. Das Brett auf einem Aluminiumtisch, über ihm Licht. Der Raum ist hell erleuchtet, keine Fenster. Niemand, der ihm hilft. Kuhn schläft. Niemand wird kommen und Blum aufhalten. Keiner.
Langsam zieht sie das Klebeband von seinem Mund. Sie hat ihm gesagt, dass er still sein soll, dass sie ihm wieder etwas gegen seinen Kopf schlagen wird, wenn er schreit. Fester diesmal. So, dass er nicht wieder aufwacht, dass seine Augen für immer zubleiben. Ganz einfach zuschlagen. Ihn losbinden und in einem der Container für immer verschwinden lassen. Du wirst leise sein. Mir zuhören. Meine Fragen beantworten. Hast du das verstanden? Ingmar nickt nur. Er hört auf zu stöhnen, immer noch starrt er sie an. Entsetzen in seinem Gesicht. Unverständnis, nur ganz leise eine Frage. Was tust du da, Blum? Dann ist er wieder still und wartet ab. Er hat Angst, er weiß nicht, was sie von ihm will, was sie vorhat. Ingmar. Wie liebevoll seine Stimme klingt, wie fürsorglich. Niemand würde auf die Idee kommen, dass er ihr etwas Schlechtes will, dass er mehr ist, als er vorgibt zu sein. Niemand weiß, dass er Kaninchen an die Wand wirft.
Wie er sie anstarrt. Wie sie seinen Blicken standhält, ihnen nicht ausweicht. Ohne etwas zu sagen, nur ihre Augen. Blicke, die hin- und hergehen, Gedanken, die laut sind. Seine. Du sollst mich losbinden, Blum. Ich will, dass du damit aufhörst. Warum um Gottes willen tust du das? Blum. Bitte. Doch Blum rührt sich nicht. Sie schaut ihn nur an, sagt ihm, dass es zu Ende ist, dass es keinen Sinn hat, sie anzulügen. Dass sie es wisse. Ohne Worte sagt sie es. Laut ihre Augen und Ingmars Stimme, die den Raum füllt. Was tust du da, Blum? Was habe ich dir getan? Warum, Blum? Fragen, die sie nicht hören will. Alles nur Fassade, alles nur Schein. Er lügt, er winselt. Er bettelt, weil er nicht angebunden und ausgeliefert auf diesem Tisch liegen will. Er macht weiter, er täuscht sie, er gibt ihr das Gefühl, dass sie einen großen Fehler macht. Doch Blum lässt nicht locker, sie hört nicht auf, lässt ihn nicht gehen.
Ich will die Wahrheit wissen, sagt sie langsam und deutlich. Ganz ruhig ist sie. Ich will wissen, was hier nicht stimmt. Und es wäre besser für dich, wenn du ehrlich bist. Weil es mir egal ist, ob du stirbst. Völlig egal, Ingmar. Glaub mir. Alles in ihrer Stimme sagt ihm, dass sie es ernst meint. Die kleine verletzte Blum, die ängstlich und zitternd, halb verhungert neben ihm saß, ist nicht mehr da. Er weiß es, er hört es in ihrer Stimme, diese Gelassenheit, die Gleichgültigkeit. Blum meint es ernst. Sie will reden. Seine Stimme und ihre. Fast liebevoll wirkt alles, zwei erwachsene Menschen, die sich aussprechen, sich Fragen stellen, auf Antworten warten. Kein lautes Wort. Beherrscht alles. Blum und Ingmar.
– Irgendetwas stimmt nicht.
– Was sollte denn nicht stimmen, Blum?
– Mit dir stimmt etwas nicht.
– Was?
– Das wirst du mir jetzt sagen.
– Was passiert hier?
– Wir reden nur miteinander.
– Du hast mich beinahe erschlagen, Blum.
– Ich hätte dich sonst nicht hier runterbekommen. Freiwillig wärst du wohl nicht gegangen.
– Was willst du von mir, Blum?
– Wie gesagt, die Wahrheit.
– Bitte komm wieder zurück auf den Boden, Blum. Es entgleitet dir, du hast es nicht mehr unter Kontrolle, du brauchst Hilfe.
– Ich brauche keine Hilfe.
– Doch, Blum. Das hier macht kein vernünftiger Mensch.
– Was man macht und was man nicht macht, das ist mir egal, Ingmar. Keine Regeln mehr, niemand, der mir sagt, was ich zu tun habe. Was richtig ist und was falsch.
– Jetzt denk doch mal nach, Blum. Ich bin auf deiner Seite, ich habe dich gerettet, ich habe dir geholfen, deine Kinder wiederzusehen. Ich habe dir Geld gegeben, dir die Flucht ermöglicht. Warum sollte ich dir etwas Böses wollen? Welchen Grund solltest du haben, mich anzubinden und zu verletzen? Welchen, Blum?
– Bauchgefühl.
– Binde mich los, Blum. Bitte.
– Nein.
– Das ist doch verrückt.
– Nicht verrückter als alles andere, was in den letzten zwei Jahren passiert ist. Wie man hört, soll ich unschuldige Menschen umgebracht haben.
– Bitte hör auf damit, Blum.
– Du hast gewusst, mit wem du dich einlässt.
– Ich weiß, wer du bist.
– Nein, das weißt du nicht.
– Doch, Blum.
– Du hast keine Ahnung, wer ich bin. Glaub mir.
– Gib uns doch eine Chance.
– Nein.
– Warum musst du das jetzt beenden? Es fängt doch gerade erst an. Wir könnten es doch miteinander versuchen. Es ist doch alles gut gegangen bis jetzt. Wir schaffen das, Blum.
– Es gibt kein Wir, Ingmar.
– Warum bist du plötzlich so?
– Ich war schon immer so.
– Bitte, Blum, lass uns nach oben gehen und vergessen, was passiert ist. Du machst einen großen Fehler.
– Einen mehr oder weniger, das ist inzwischen egal.
– Ich bin einer von den Guten, Blum.
– Mein Bauch sagt etwas anderes.
– Aber du weißt doch alles, ich verheimliche dir nichts.
– Genau da liegt das Problem, Ingmar. Ich habe das Gefühl, dass du lügst.
– Du bist durcheinander, Blum. Das war alles etwas viel, ich weiß. Aber das wird wieder, glaub mir.
– Nein.
– Wir waren uns doch nahe, Blum. Und es war schön. Bitte mach das jetzt nicht alles kaputt.
– Du sollst reden.
– Um Gottes willen, worüber denn? Ich verschweige doch nichts. Lass es bitte gut sein jetzt und geh zu deinen Kindern nach oben. Sie brauchen dich, Blum.
– Lass die Kinder aus dem Spiel.
– Sie würden bestimmt nicht gut finden, was du hier machst.
– Hör auf damit.
– Dass ihre Mutter Menschen zerstückelt, das würde ihnen nicht gefallen. Dass du mich hier festhältst, mir beinahe den Kopf einschlägst. Deine Töchter würden das nicht verstehen, sie würden dich dafür hassen.
– Du sollst dein Maul halten.
– Und du sollst mich jetzt losbinden.
– Letzte Chance, Ingmar.
– Was sonst? Was willst du dann tun? Willst du mich auch umbringen?
– Ich werde dir deinen linken Fuß abschneiden.
– Was wirst du?
– Entweder du redest jetzt, oder ich schneide ihn ab.
– Du bist wahnsinnig.
– Ja.
– Das kannst du nicht machen.
– Doch.
– Du wirst mich jetzt sofort losbinden. Hast du das verstanden, Blum? Du wirst jetzt ein Messer nehmen und das Klebeband aufschneiden. Dann reden wir weiter.
– Du hattest deine Chance.
– Du bist ein Monster.
– Vielleicht bin ich das.
– Ich hätte dich verrecken lassen sollen.
Sein Mund, wie er auf- und zugeht. Die Worte, die aus ihm herauskommen. Ganz nah, ein wildes Tier, das zubeißt. Von einem Moment zum anderen. Ich hätte dich verrecken lassen sollen. Der gute Ingmar, wie er wieder ein Kaninchen gegen die Wand wirft. Blum spürt seinen Zorn, er treibt sie an, noch einen Schritt weiterzugehen. Weil er diesen Satz gesagt hat. Ich hätte dich verrecken lassen sollen. Weil er die Kinder ins Spiel gebracht hat. Es gewagt hat. Wie ein Schlag war es. Nur die logische Konsequenz ist es, einen kleinen Schritt weiterzugehen. Nur ein Stück. Sie tut es einfach.
Blum hört ihn nicht mehr. Was er sagt. Wie er versucht, seinen Hals zu retten, seine Analyse ihrer Psyche, seine jämmerlichen Versuche, sie davon zu überzeugen, ihn loszubinden. Ihn aufstehen und gehen zu lassen. Sie will es nicht hören, nichts mehr, nicht, solange sie nicht die Wahrheit kennt. Etwas, das ihr sagt, dass sie recht hat. Sie wird so lange weitermachen, bis er redet. Auch wenn sie es nie wirklich vorgehabt hat, wenn es nur eine Drohung sein sollte, Blum tut es, setzt es in die Tat um, und niemand ist da, um sie zu stoppen. Sie ist allein mit dem fluchenden, schreienden Ingmar. Nur sie und er. Verzweifelt versucht er, Blum zu erreichen, sie dazu zu bringen, ihn gehen zu lassen. Doch Blum weiß, dass da noch mehr kommt, wenn sie nur den richtigen Knopf drückt. Richtig oder nicht, grausam oder nicht, egal alles. Da ist nur Blum.
Seit sie aufgewacht ist, erinnert sie sich wieder daran. An dieses Zimmer, an den Teppich, auf dem sie gelegen hat. Sie erinnert sich an den Geschmack in ihrem Mund, an den Uringeruch. Daran, dass sie damals von seiner Schuld überzeugt war. Sie konnte sich nicht mehr rühren. Da war keine Bewegung mehr, da war nur noch der Tod, ganz nah. Fast zu Ende alles, nie mehr lachen, nie mehr die Kinder. Wie ohnmächtig sie war. Nie wieder dieses Gefühl. Nie wieder. Deshalb bindet sie sich diese Schürze um, setzt sich eine Brille auf und startet die Bandsäge.