Blum sieht es vor sich. Wie er seine Zehen verliert. Nur eine Warnung, ein Signal dafür, dass sie es ernst meint. Dass ihr egal ist, was mit ihm passiert. Ob er Schmerzen haben wird, ob er ausbluten wird. Blum will wissen, warum sie wirklich in diesem Zimmer gelegen hat und beinahe gestorben wäre. Vielleicht wollte jemand sie für immer festhalten, um sie lieben zu können und für sie da zu sein. Sie auszustopfen vielleicht. Für immer in einer Vitrine, Blum, gekreuzt mit einer Antilope.

Sie zweifelt an allem. Sie versteht es nicht, aber sie zweifelt. Ob wirklich Alfred es war. Sie schaut Ingmar an und denkt nach, still, nur die Säge summt leise. Ein Präzisionsgerät, mit dem Kuhn seine Plastinate in Form bringt. Gefrorene Leiber, die er in Scheiben schneidet, Menschen, die er zersägt und konserviert. Menschenstücke für die Wissenschaft, tellergroßes Anschauungsmaterial, produziert in diesem Raum. Mit dieser Bandsäge. Fast lautlos ist sie, nur dieses Summen, sauber und präzise alles. Ingmar versucht, sich zu wehren, er schüttelt sich, will sich losreißen. Doch nichts nützt, Blum wird seinen Fuß festhalten, nur ein ganz kleines Stück von ihm abschneiden, nur seinen kleinen Zeh. Keine Verletzung sonst, nur ein zarter Schnitt wird es sein, nur wenig Blut, eine kleine Wunde, die ihn zum Reden bringt. Eine Drohung, die seinen Mund öffnen wird. Weit und laut.

Ingmar. Wie er sie beschimpft, während Blum ihn anschaut und wartet. Gelassen ihr Gesicht, ihre Augen, unbeeindruckt von seinem Geschrei, von den Schimpfwörtern, die aus seinem Mund quellen. Ingmar spürt, dass sie weitermachen wird, wenn er ihr nicht sagt, was sie wissen will, er weiß, dass sie es ernst meint. Sie hat fünf Menschen umgebracht und zerstückelt, sie wird nicht davor Halt machen, ihm einen Fuß abzuschneiden. Ingmar weiß, dass es der einzige Weg ist, sie zu stoppen. Nur eine Sekunde ist er noch davon entfernt, alles zu verlieren. Einen Zeh, ein Bein, sein Leben vielleicht. Deshalb beginnt er zu reden, er setzt darauf, was zwischen ihnen war, auf diese Momente der Nähe, diese Nacht. Die Hoffnung, dass sie Mitleid mit ihm hat, neben dieser Wut. Seine Augen hoffen, sie flehen, doch nichts nützt. Blum macht weiter. Sie macht ihm Angst, weil sie schweigt. Weil Ingmar weiß, dass dieses Sägeblatt mit Leichtigkeit alles durchtrennen kann. Während er mit dem Schlimmsten rechnet, denkt Blum an Uma und Nela. Irgendwo auf einer Blumenwiese liegen sie, Blum spielt mit ihnen zwischen Grashalmen, sie rennen herum, sind unbeschwert. Sie lachen, während die Bandsäge vor sich hin surrt und Ingmar um sein Leben bettelt. Darum, dass sie in das Wohnmobil steigt und davonfährt. Doch Blum bleibt. Ihr wird plötzlich klar, wie dumm sie war. Sie hat nichts begriffen, gar nichts. Sie hat gedacht, alles wäre normal, nur Zufall. Dass da plötzlich eine Schwester war, Alfred, das Solveig. Und Ingmar. Diese Familie, nach der sie sich immer gesehnt hat. Sie ist in einem Horrorfilm gelandet. Ein Mann, festgebunden auf einem Tisch, eine Säge, Angst, Verzweiflung, Gleichgültigkeit. Weil sie alle tot sind, die Schweine von damals, Schrettl, Alfred. Alle tot, alles egal. Einer mehr oder weniger, wen kümmert es, nur Fleisch, nur Knochen, nur ein Körper, den sie in irgendeiner Formalinwanne verschwinden lassen wird. Ein Körper ohne Namen, ohne Geschichte, nackt. Einer von Hunderten, die hier liegen. Nur ein weiteres Stück Fleisch. Weil da nichts mehr ist, sobald man aufgehört hat zu atmen. Gar nichts mehr, nur Verwesung, nur eine kurze Begegnung, mehr nicht. Ingmar und Blum. Eine kurze gemeinsame Reise. Ein Abschied mit Wut. Kurz noch eine Hand voll Worte, bevor das Sägeblatt sie für immer trennt.

– Was willst du hören?

– Alles.

– Und dann lässt du mich gehen?

– Ich denke nicht, dass du in der Position bist, zu verhandeln.

– Wenn du mich gehen lässt, sag ich dir alles, was du wissen willst.

– Das wirst nicht du entscheiden, lieber Ingmar.

– Versprich mir, dass du mich gehen lässt. Du wirst mich nie wiedersehen. Und ich werde dir helfen, von hier zu verschwinden. Darauf gebe ich dir mein Wort.

– Ich brauche deine Hilfe nicht.

– Und das Geld?

– Was ist mit dem Geld?

– Du hast es vielleicht noch nicht gemerkt, aber es ist nicht mehr in deiner Tasche. Nicht mehr dort, wo du es hingetan hast, irgendwie ist es dummerweise weggekommen. Du hättest wohl besser darauf aufpassen sollen.

– Ich wusste, dass mit dir etwas nicht stimmt.

– Das wusstest du nicht. Du hast mit mir geschlafen, meine liebe Blum. Du hast noch immer nicht die geringste Ahnung, was vor sich geht. Gar nichts weißt du, nur ein kleines dummes Gefühl hast du. Ein Häufchen Elend bist du, ein Wrack, eine gesuchte Mörderin.

– Du solltest besser still sein.

– Du brauchst mich, Blum. Ohne mich schaffst du es nicht. Sie werden dich an der nächsten Raststation festnehmen, du wirst ins Gefängnis gehen und deine Kinder nie wiedersehen. Verstehst du das? Ich kann dir helfen, Blum. Ich habe Geld, ich kann dich in Sicherheit bringen, auf dich aufpassen. Weil ich dich mag, Blum. Das weißt du.

– Du sollst endlich damit aufhören.

– Wir sind uns ähnlicher, als du denkst.

– Nein, mein Guter, das sind wir nicht. Ich bin anders als du. Ganz anders, glaub mir.

– Es könnte alles so schön sein, Blum.

– Ist es aber nicht, oder? Du liegst hier, gefesselt, und wenn du nicht endlich den Mund aufmachst, werde ich dir etwas abschneiden. Einen Zeh, dann noch einen. Einen nach dem anderen. Du kannst mir glauben, Ingmar, das wird passieren. Gleich.

– Das bringst du nicht fertig.

– Doch. Wie gesagt, zuerst die Zehen, dann die Füße. Und wenn du dann immer noch nicht redest, schneide ich dir ein Bein ab.

– Unsinn.

– Ein Bein. Und dann das zweite. Und falls du dann wirklich noch immer glauben solltest, dass ich dich brauche, schneide ich weiter. Arme und Schädel. Bis nichts mehr von dir übrig ist.

– Du könntest mir nie etwas antun.

– Doch, mein Lieber. Ich habe das nämlich schon oft gemacht. Es fällt mir ganz leicht. Am Anfang musste ich mich zwar überwinden, beim zweiten Mal war es aber schon fast Routine. Und mit dieser Säge hier ist das ein Kinderspiel.

– Ohne Geld wirst du nicht weit kommen.

– Ich scheiße auf dein Geld, Ingmar.

– Tust du nicht.

– Ich bitte dich nicht noch einmal. Wenn du jetzt nicht redest, schneide ich.

– Was willst du denn wissen, um Gottes willen?

– Was ist mit Björk passiert?

– Warum willst du jetzt über Björk reden?

– Sie sitzt in Wien in einer Vitrine und reitet auf einem Zebra. Das ist nicht normal. Ich hätte von Anfang an wissen müssen, dass da etwas nicht stimmt. Die Finger davon lassen. Weil ihr Freaks seid, alle. Björk, du, Alfred. Das leerstehende Hotel, alle Alarmglocken haben geläutet. Laut. Von Anfang an.

– Aber du hast sie nicht gehört, meine kleine Blum.

– Leider.

– Du warst so rührend. Du hast wirklich gedacht, dass wir im Paradies aufgewachsen sind, Björk und ich. Du warst eifersüchtig, ich habe es in deinen Augen gesehen. Du hast gedacht, dass wir es besser hatten als du.

– Was war mit Björk und Alfred?

– Was soll mit ihnen gewesen sein?

– Missbrauch?

– Schwachsinn.

– Was dann?

– Nichts. Der alte Mann hat sie einfach nur geliebt, sie war sein Ein und Alles, er hätte alles für sie getan. Sie war ihm wichtiger als alles andere sonst. Der große Alfred Kaltschmied und seine Tochter. Hand in Hand durch den Wald. Wie stolz er war, der alte Pfau.

– Und du?

– Ich ging brav hinterher.

– Und das hat dir nicht gefallen?

– Nein. Das hat mir nicht gefallen.

– Warum hast du angedeutet, dass er sie missbraucht hat? Warum um Himmels willen hast du das gesagt?

– Irgendetwas musste ich dir ja erzählen, oder?

– Warum hast du mich angelogen?

– So dumm bist nicht einmal du, Blum.

– Warum, will ich wissen.

– Weil er ein Schwein war. Weil ich ihn schlechtmachen wollte, weil er es nicht anders verdient hat. Und weil es so einfach war.

– Was?

– Dich das alles glauben zu lassen.

– Was, Ingmar?

– Dass er ein kranker alter Sack ist.

– Ich will jetzt wissen, was passiert ist. Was hat er wirklich getan? Das ist deine letzte Chance.

– Er hat sie lieber gehabt als mich.

– Und?

– Er hat sie bevorzugt, ich bin untergegangen neben ihr. Er hat sie in den Himmel gehoben.

– Du warst das Arschloch.

– Ja. Immer. Seit ich denken kann.

– Der Hinke-Ingmar. Der arme Teufel, den keiner mag. Ein Scheißleben muss das gewesen sein.

– Ja.

– Und deshalb hast du ihn umgebracht?

– Wie bitte?

– Du hast den Alten umgebracht.

– Spinnst du? Wie kommst du denn darauf? Das war Selbstmord, du hast es doch selbst gesehen.

– Irgendwie hast du es geschafft, es so aussehen zu lassen. Du hast ihn erschossen und alles so arrangiert.

– Schwachsinn.

– Er hat sich nicht umgebracht.

– Du bist ja wahnsinnig. Aufhören, Blum! Jetzt sofort.

– Nicht schreien, Ingmar. Ich möchte nicht, dass die Kinder aufwachen. Das verstehst du doch, oder?

– Du drehst durch, Blum. Du hast es nicht mehr unter Kontrolle, es entgleitet dir.

– Ich werde dir jetzt deinen kaputten Fuß abschneiden. Das dürfte nicht ganz so schlimm sein.

– Das wirst du nicht tun, Blum. Du wirst niemandem etwas abschneiden, keinem mehr. Und weißt du auch, warum? Weil du ein guter Mensch bist.

– Genau. Und deshalb werde ich dir jetzt Schmerzmittel geben, Kuhns Badezimmerschrank ist voll davon. Die Tabletten hier und ein ordentlicher Schluck Whiskey werden es dir leichter machen. Fünfzig Jahre alt, der Tropfen. Ich habe ihn aus Leos Schnapsschrank. Schmeckt hervorragend.

– Du machst einen Fehler, Blum.

– Schlucken.

– Du irrst dich.

– Trink jetzt.

– Das wird dir noch sehr leidtun.

– Nein.

– Bitte nicht, Blum.

– Doch.

Totenhaus
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