Wovon sie träumt, während sie aus dem Fenster starrt. Ihnen näher kommt. Woran sie denkt, während sie sich in diesem Wohnmobil versteckt. Bis Ingmar fertig getankt hat und wieder von der Raststation auf die Autobahn fährt. Was sie empfindet, wenn sie in diesem Bett liegt, die Decke über ihren Kopf zieht, damit niemand sie sehen kann, das Gesicht der Mörderin. Das Monster, das sie jagen, einfangen und einsperren wollen, wie ein wildes Tier. Blum. Wenn sie sich zeigen würde, wenn sie auf den Parkplatz hinausgehen würde, nur wenige Minuten würde es dauern, und jemand würde sie erkennen, die Polizei anrufen, sie zu Boden ringen, festhalten. Man würde auf sie spucken, sie verachten, sie behandeln wie Dreck. Wie elend es sich anfühlt unter dieser Decke. Wenn sie daran denkt, wie es ausgehen könnte. In diesem Wohnmobil, hilflos, ohnmächtig, weil sie nichts tun kann, weil sie sich nicht ans Steuer setzen und losfahren kann, weil sie nichts riskieren darf, keine Polizeikontrolle, nichts, das sie davon abhält, sie wiederzusehen. Uma und Nela. Blum wird jetzt alles richtig machen, sie wird sich still verhalten, sich nicht zeigen, warten, bis Ingmar wieder da ist. Bis sie weiterfahren. Über die Autobahn zwischen den Bergen.

Sie sitzt neben ihm und schaut ihn an. Der Mann, den sie beinahe umgebracht hat. Sie ist froh, dass er da ist, sie will nicht mehr daran denken, was gewesen wäre, hätte sie seine Halsschlagader getroffen. Seine beruhigenden Worte, wenn sie wieder beginnt zu zweifeln, seine Stimme, die ihr Mut macht, während sie gierig aus einer Plastikflasche trinkt. So, als könnte es ihr letzter Schluck sein. Das Ende, an das sie denkt, während sie hemmungslos schmatzt, ihr Untergang, den sie abgewendet hat. Ein Brot nach dem anderen, das sie in sich hineinstopft, weil sie es genießt, am Leben zu sein. Zu essen, zu trinken, zu atmen, mit ihm zu reden. Egal, ob sie gesucht wird, egal, wie düster alles ist. Blum lebt. Sie kann sich wieder bewegen, ihre Beine, die Hände, sie kann Uma und Nela in den Arm nehmen. Ihnen sagen, dass sie sie liebt. Dass sie bei ihnen bleiben wird. Für immer. Dass sie nicht mehr weggehen wird. Nie wieder.

Eine Ahnung von Glück, während Ingmar die Autobahn verlässt, während er am Südring entlangfährt und dem Haus näher kommt. Innsbruck, die Villa, ihre Vergangenheit, eine unerträgliche Kindheit, ihre Jugend, ein ganzes Leben lang hat sie gelitten. Immer. Bis Hagen und Herta gestorben sind, einfach untergegangen sind im Meer. Ein tragischer Unfall, der für Blum wie eine Erlösung war. Damals hat das Glück begonnen. An dem Tag, an dem sie im Meer verschwunden sind, als Mark auf das Boot gekommen ist und sie in die Arme genommen hat. Mark. Ihr Mann, ihre Liebe, der erste Tag ihres neuen Lebens.

Acht Jahre lang Glück. Zu wenig für ein ganzes Leben. Viel zu wenig. Blum erinnert sich. Sie sieht die alte Holzbank, auf der sie mit Mark so oft gesessen hat. Mit einem Glas Weißwein in der Hand in der Abendsonne, die Kinder haben im Sandkasten gespielt, alles ist gut gewesen. So viele Tage, selbstverständlich irgendwann dieses Glück, seine Hand in ihrer, seine Lippen, Zweisamkeit. Liebe im Garten, Liebe auf dieser Bank, die da immer noch steht und darauf wartet, dass sie sich wieder hinsetzen und glücklich sind. Mark und Blum.

Immer dieselben schönen Erinnerungen sind es, die wehtun. Alles hat hier seinen Ursprung, ihre Kinder wurden hier geboren, hier hat sie sich verliebt. Immer wieder dieser wundervolle Blick zurück, der ihr Herz zerreißt. Durch das Fenster starrt Blum in den Garten, auf das Haus, verborgen hinter einem Vorhang, versteckt in diesem Wohnmobil, zwischen all den Schaulustigen und Medienmenschen. Mitten in der Höhle des Löwen. Überall Polizei, die die Ordnung aufrechterhält, Absperrbänder, Reporter, Kameras, Kleinbusse, Übertragungswägen. Sie fallen nicht weiter auf, sie gehören dazu. Nur ein weiteres Kamerateam, das vor dem Haus campiert, das sich über Blums Geschichte hermacht.

Ingmar ist so lange im Kreis gefahren, bis ein Platz frei wurde. Selbstbewusst hat er geparkt, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Er ist ausgestiegen und hat sich umgehört, er hat seine Rolle perfekt gespielt. Der Reporter mit Schreibblock und Stift, der freundliche Kollege, der erst jetzt auf diese unfassbare Geschichte gestoßen ist, ein weiterer Aasgeier, der in der Luft kreist und darauf wartet, dass wieder etwas passieren wird. Dass der Schwiegervater das Haus verlassen wird, dass die Kinder in den Garten kommen werden. Dass noch ein weiteres Opfer gefunden wird auf irgendeinem städtischen Friedhof, noch eine zerstückelte Leiche in einem fremden Grab, ein weiteres Opfer dieser Verrückten, irgendetwas, das sie in ihre Mikrofone sprechen können, irgendwelche Bilder, Schmutz, Dreck.

Wie Schnitte in die Haut. Alles, was sie sieht. Was hier passiert, was Ingmar ihr erzählt, als er wieder in den Wagen steigt. Dass sie sich im Haus verbarrikadiert hätten, dass sich schon seit zwei Tagen keiner mehr habe blicken lassen, dass die Polizei den Einkauf erledigt habe für Karl. Ausnahmezustand, Belagerung, die Welt will mehr wissen, sie wollen sehen, wo Brünhilde Blum den Schauspieler zerstückelt hat. Sie wollen wühlen und graben, sie wollen alles ganz genau wissen, am liebsten wären sie dabei gewesen, hätten ihr über die Schulter gesehen und alles gefilmt. Blutige Bilder, der Versorgungsraum, das Schlachterzimmer, Einzelheiten, das Werkzeug, mit dem sie ihn zerlegt hat, der Kühlraum, die Särge. Diese Geschichte ist so unfassbar, sie gibt so viele Rätsel auf, sie wird für Wochen die Zeitungen füllen, die Ermittlungen werden sich hinziehen, und sie werden weitere Leichen finden. Bald schon, weil sie bereits zu graben begonnen haben, weil sie bereits Gräber öffnen, die damals von ihr geschlossen worden sind. Es ist so, wie Karl gesagt hat, sie ahnen, dass da noch etwas ist. Weil da kein Motiv ist, weil sie Benjamin Ludwig nicht gekannt hat, weil es keinen Sinn ergibt, dass sie ihn umgebracht hat. Keinen, außer dem, dass sie einfach töten wollte. Beliebig, irgendwen, ohne Motiv, völlig fremde Menschen, die nichts mit ihrem Leben zu tun hatten. Die Polizei geht davon aus, dass es noch weitere Opfer gibt. Deshalb haben sie die Friedhöfe gesperrt, deshalb graben sie. So lange, bis sie den Koch finden. Und den Fotografen.

Nur eine Frage der Zeit also. Bis der nächste Tote auf den Titelseiten landet, bis die Kinder das Haus verlassen. Bis sie sich auf sie stürzen, ihnen Angst machen. Nur eine Frage der Zeit, bis es passiert. Bis Blum gesehen und erkannt wird hinter der Scheibe des Wohnmobils. Nur eine Frage der Zeit. Deshalb muss sie handeln, sie darf keine Zeit mehr verlieren, sie muss in das Haus. Sie wird warten, bis es dunkel ist, sie werden in der Seitenstraße parken, dann wird sie durch das Loch im Zaun klettern. Seit dreißig Jahren ist es schon da, schon als Kind ist sie da durchgeschlüpft, ungesehen, heimlich, wenn Hagen sie gesucht hat, um sie zu bestrafen. Ein geheimer Ausweg damals, jetzt ihre einzige Möglichkeit, ins Haus zu gelangen. Zurück. Im Dunkel durch den Garten, das Kellerfenster einschlagen, dann nach oben. Nur die Einfahrt wird von der Polizei kontrolliert, aber nicht der Garten hinter dem Haus. Das hofft sie. Dafür betet sie, als sie aussteigt und den Weg durch die dicht gewachsene Hecke sucht.

Äste, sie zerkratzt sich die Haut, sie zwängt sich durch das Loch im Zaun. Blum weiß nicht, was auf der anderen Seite ist, ob da jemand steht, ob da Hunde sind und anschlagen, wenn sie in den Garten kommt. Sie weiß es nicht, und trotzdem tut sie es. Egal, ob es unvernünftig ist, ob es klüger wäre, noch länger zu warten, sich noch einige Wochen im Solveig zu verstecken und dann wiederzukommen. Sie steigt durch dieses Loch im Zaun, sie will jetzt zu ihren Kindern. Nicht mehr warten, zurück in ihr Haus gehen, die Treppen hinauf in das Kinderzimmer, sich neben sie legen. Ihre kleinen Hände halten, ihnen ganz nah sein, sie spüren, die Haut, die sie so vermisst hat, ihren Geruch. Wie sie atmen. Blum will es hören. Jetzt.

Totenhaus
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