Lange war da nur Blums offener Mund. Das Entsetzen in ihrem Gesicht, ihre Ohnmacht. Weil sie nicht verstand, was passierte. Dass da diese roten Flecken waren auf der Leinwand, Blut, das nach unten rann. Immer wieder das Kaninchen, das durch die Luft flog. Wie es aufplatzte, wie sich das Blut auf der Leinwand verteilte und wie Ingmar es wieder von neuem hochhob und auf die Leinwand warf. Obwohl es längst tot war, er verschonte es nicht. Es ging so lange, bis das weiße Fell rot war. Bis das Bild fertig war.

Blums Verstand wollte es nicht fassen. Ingmar hatte mit aller Kraft das kleine, unschuldige Leben beendet. Wegen eines Bildes. Wie gelähmt saß sie da und schaute zu. Weil sie es ihm versprochen hatte, sie konnte nicht anders, sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, es ging zu schnell, sie hatte keine Zeit zu reagieren, das Kaninchen war schon tot, ehe sie auch nur begriffen hatte, was vor sich ging. Es war nur noch die Vollendung, der Schmuck, den Ingmar noch anbrachte, warmes Blut um den ersten Fleck, rund um den Ort, an dem das Tier gestorben war. Rund um den Augenblick, in dem er das Licht ausgelöscht hatte. Kunst. Ein Bild nur, das an der Wand hing.

Drei Minuten später landete das tote Kaninchen im Müll. Blum schaute zu, wie er es wegwarf. Wie er das Blut aufwischte, das auf den Boden getropft war. Still und rot war alles, lange schaute sie einfach nur. Wie sehr sie Ingmar in diesem Moment hasste. Dass er so grausam sein konnte, keine Miene verzogen hatte, kein Mitleid empfand. Sie hatte ihn schlagen wollen, mit ihren Fäusten auf seine Brust trommeln, ihn stoppen wollen. Aber sie hatte es nicht getan, irgendetwas hatte sie daran gehindert, ihn aufzuhalten. Sie hatte sich nicht gerührt, alles einfach geschehen lassen. Blum. Langsam fand sie ihre Worte wieder. Sie wollte sie ihm an den Kopf werfen, doch Ingmar fing sie auf und warf sie zurück. Nebeneinander saßen sie. Beide schauten das Bild an.

– Warum hast du das getan?

– Das ist Kunst, Blum.

– Das ist Mord.

– Das war nur ein Kaninchen.

– Und du hast es getötet.

– Und?

– Du hast es einfach an die Wand geworfen.

– Und du hast fünf Männern den Kopf abgeschnitten.

– Was soll das, Ingmar?

– Du solltest die Letzte sein, die mich dafür verurteilt, oder?

– Das kann man nicht vergleichen.

– Kann man nicht?

– Nein. Das Kaninchen hat niemandem etwas getan, es war völlig unschuldig. Du hattest keinen Grund, es zu töten.

– Es ist genau in dem Moment gestorben, in dem es auf der Leinwand angekommen ist, Blum. Und das sieht man auf diesem Bild. Das ist einzigartig.

– Das ist krank, Ingmar.

– Was ist kränker? Menschen zu töten oder Kaninchen?

– Die Bilder im Schrank. Das sind alles tote Tiere?

– Ja.

– Bitte nicht. Sag mir, dass es das erste Mal war, dass du so etwas getan hast.

– Nein, Blum, für jedes dieser Bilder ist ein Tier gestorben.

– Bitte, nicht.

– Ich habe es mit Kaninchen gemacht, mit Vögeln, mit Meerschweinchen und Katzenbabys.

– Warum erzählst du mir das? Warum hast du mir das gezeigt?

– Weil es das ist, was ich mache. Womit ich mich beschäftige, meine Arbeit. Mein Leben, Blum.

– Ich will das nicht wissen. Nichts davon.

– Es ist wichtig, dass es schnell geht. Die Fluggeschwindigkeit darf nicht zu gering sein, es ist wichtig, dass sie beim Aufprall sterben. Ich will sie ja schließlich nicht quälen.

– Du sollst damit aufhören.

– Das wird mein Durchbruch, Blum.

– Das ist grausam.

– Was du gemacht hast, ist auch grausam.

– Nein.

– Doch, Blum. Und trotzdem bin ich hier, trotzdem berühre ich dich, trotzdem mag ich dich. Trotzdem habe ich keine Abscheu vor dir. Und keine Angst.

– Ich bin müde, Ingmar.

– Es sind nur Tiere, Blum.

– Bitte, lass uns morgen darüber reden.

Blum stand einfach auf und ging. Aus dem Atelier, den Gang entlang, irgendwohin, wo er sie nicht finden konnte, nicht zurück in ihre Suite, in ihr Bett. Nicht mehr mit ihm reden. Über die Treppen nach oben, nach unten, Stufe für Stufe, an einen Ort, an dem er sie nicht vermuten würde. Blum allein im Kinderparadies. Neben Rutschen und Trampolinen, neben Bilderbüchern, Kaufladen und Kinderküche. Alles, was kleine Herzen begehrten, war hier zu finden, alles, was Uma und Nela glücklich gemacht hätte. Hier blieb sie, hier zog sie sich zurück, hier wollte sie vergessen, was sie getan hatte, was sie gerade gesehen hatte. Nur Tiere, hatte Ingmar gesagt. Nur Tiere, die er getötet hatte. So wie sie auch. Es waren wilde Tiere, die sie geschlachtet hatte, zerlegt und vergraben, die Mörder ihres Mannes, Bestien, Monster. Weil es sein musste, weil sie keine andere Wahl gehabt hatte, nur wilde Tiere, die sie aus dem Verkehr gezogen hatte. Ausgelöscht, an die Wand geworfen und vergraben. Überall war Kaninchenfell, das sich rot färbte.

Gedanken, die sie nicht haben wollte, die Wirklichkeit, die wehtat. Blum kauerte in einer Ecke des Spielzimmers und hielt einen Teddy in der Hand. Liebevoll streichelte sie ihn, so wie sie noch vor einer Stunde das Kaninchen gestreichelt hatte. Immer gleiche Bewegungen, ihre Hand, die verzweifelt über das Fell strich. Blum rührte sich nicht. Ganz still war sie, kein Wort hätte etwas geändert. Sosehr sie es auch verleugnen wollte, wusste sie doch, dass er recht hatte. Ingmar. Was ist kränker? Menschen zu töten oder Kaninchen? Im Vergleich zu dem, was sie getan hatte, war es wie ein Witz, was er machte. Seine erbärmliche Kunst, dieser Versuch, etwas Besonderes zu tun und herauszustechen. Wie hoffnungslos es war, wie wenig Blum daran glaubte. Dass er jemals nur einen Augenblick lang damit Erfolg haben könnte. Ein Spinner, ein Verlierer, traumatisiert von seiner Geschichte, gedemütigt. Kaputt. So wie sie.

Schicksal, hatte er gesagt. Sie wollte ihm seinen Mund stopfen. Sie hatte ihn gehasst dafür, dass er es gesagt hatte. Dass er es ausgesprochen hatte, was sie gedacht hatte. Dass es kein Zufall sein konnte. Alles. Die Zeitschrift am Strand, Björk auf dem Zebra, Kuhn in Nürnberg, Alfred, Ingmar und das Hotel. Das Horrorkabinett, eine Familiengeschichte, die unfassbarer nicht sein konnte, haarsträubende Lebensgeschichten, Verlust und Schmerz und Tod. Kuhns Designobjekte, Ingmars Sterbebilder, Solveigs und Björks Selbstmord, das leere Hotel. Ein gruseliger Film, Splatter fast, eine Ansammlung von Grausamkeiten. Blums Leben. Da war nichts Normales mehr. Der Wunsch, alles kaputt zu schlagen, war übermächtig. Blum wollte die Einrichtung aus dem Fenster werfen, sie wollte noch mehr Porzellan zerschlagen, dem Teddybären die Haare ausreißen, ihn anzünden, ihre Wut laut sein lassen. Irgendetwas zerstören, weil ihr Leben nichts mehr wert war. So wie damals, bevor Mark gekommen war. Alles wieder zurück auf Anfang. Zurück in ihre Kindheit, zu Hagen und Herta, zu diesen Eltern, die diesen Namen nicht verdient hatten. Zurück in die Hölle. Demütigung, Gewalt, keine Nähe, keine Berührung, keine Liebe für die kleine Blum. Nie. Nur die Toten. Keine Hand, die sie gestreichelt hatte. Kein Gutenachtkuss, kein gutes Wort, das ihr die bösen Träume genommen hatte. Nur ein Teddybär, den sie gestreichelt hatte. In einer Ecke unendlich allein.

Blum. Eine weitere Nacht lang ohne Ausweg. Immer wieder nahm sie das Telefon in die Hand und wählte Karls Nummer. Doch es blieb still, Karl hob nicht ab, er sagte ihr nicht, was vor sich ging, er half ihr nicht. Kein beruhigendes Wort, nur das Freizeichen, das ihr von Mal zu Mal noch mehr Angst machte. Angst davor, dass er sie fallen gelassen, dass er sich von ihr abgewandt hatte. Karl, ihre einzige Verbindung zu dem, was sie liebte. Eine Verbindung, die abgebrochen war. Eine Verbindung, die sie wiederherstellen musste. Egal, was es kostete. Wenn es wieder hell war, musste Blum etwas unternehmen, sie wollte Ingmar um Geld bitten, ihn fragen, ob er ihr ein Auto leihen könnte. Sie durfte nicht länger still sitzen, keinen Tag länger in diesem Haus bleiben, sie schwor es sich, sie musste weg, noch einmal würde sie sich nicht daran hindern lassen. Sie musste irgendetwas tun, das sie davon abhielt, über die Brüstung zu klettern und nach unten zu springen. So wie die anderen. Einfach fallen und liegen bleiben. Mit dem Teddybär in der Hand.

Totenhaus
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