Zeit, die nicht vergehen wollte. Unendlich lang war der Tag. Die Sonne ging bald unter, die Zeit quälte sie, jede Minute, in der sie auf ihn wartete. Keine Spur von Ingmar. Er sollte längst wieder zurück sein, für den Weg in die Stadt und zurück hätte er nicht länger als eine Stunde brauchen dürfen. Die Telefone kaufen, ein Paket schnüren, es zur Post bringen, Ingmar hätte bereits wieder neben ihr sitzen und ihr sagen sollen, dass alles gut werden würde, dass es einen Weg gab, aus der Sache heil herauszukommen. Aber seine zerbrechliche Stimme war nicht da, Ingmar nahm auch sein Telefon nicht ab, Blum hatte es schon unzählige Male versucht, doch keine Antwort. Immer wieder ging Blum zur Rezeption und wählte seine Nummer, immer wieder war da nur die Mobilbox, nichts, das sie beruhigte, nichts, das ihr versicherte, dass Ingmar nicht zur Polizei gegangen war und sie verraten hatte. Blum hatte Angst, dass er ihnen alles erzählt hatte, was er in ihrem Badezimmer gehört hatte. Dass Blum gemordet, dass sie ihre Opfer zerstückelt und vergraben hatte. Diese unscheinbare Frau, diese Bestatterin aus der Provinz, Ingmar hatte sie in der Hand.
Panik machte sich breit. In immer noch dunkleren Farben malte sie sich aus, was passieren würde. Sie hatte Zeit dazu, weil sie nichts anderes zu tun hatte. Nur warten, tatenlos herumsitzen, ohnmächtig hinter einem Fenster. Sie stand da und schaute. Hinaus in die Wälder, hinunter in den Park, beobachtete Gertrud. Diese Frau, die ihre Hand gehalten hatte und die jetzt eine Motorsäge hielt. Sie stand auf einer Leiter und schnitt Äste von den Bäumen. Wie ein Mann tat sie es, sie zögerte nicht, sie packte an, sie hatte keine Angst vor der Säge, Ast für Ast sägte sie ab. Zweige fielen nach unten. Zeit verging. Blum beobachtete jeden Handgriff, jeden Schritt, sie schaute zu, wie Gertrud sich auf den Traktor setzte und mit Leichtigkeit den Hänger zwischen den Bäumen hindurchmanövrierte. Wie sie sich die Stirn abwischte und kurz nach oben schaute. Zu Blum. Hoch zu dem Fenster, hinter dem sie stand. Kurz sahen sie sich in die Augen, dann nahm Gertrud wieder die Säge in die Hand und fuhr durch das Holz. Blum schloss die Augen.
Kurz noch blieb sie stehen, dann begann sie wieder durch das Haus zu streifen. So gerne wäre sie nach draußen gegangen, wäre durch den Wald gelaufen, hätte Gertrud mit den Bäumen geholfen. Aber das ging nicht. Niemand darf dich sehen, Blum. Kein Wanderer, niemand, der zufällig vorbeikommt. Versprich mir, dass du im Haus bleibst. Blum war gefangen im goldenen Käfig. Sie konnte nichts tun, außer durch dieses Haus zu laufen. Unerträglich war es. Die Stille und die Einsamkeit, die wehtat. Egal wie viele Türen sie öffnete, um sich abzulenken, nichts machte es besser. Sie sprang auf Tische, sie hüpfte auf den Sofas herum, sie schrie. Laut hallte ihre Stimme im Haus, doch niemand hörte sie, keiner kam und sagte ihr, dass sie still sein musste. Alles war wie tot. Nur Schein war es, Erinnerungen, die Alfred unbedingt behalten wollte, nur noch ein konserviertes Gefühl. Die Erinnerung an seine Frau, die über den riesigen Perserteppich in der Lobby gegangen war, Solveig, die das Haus liebevoll dekoriert hatte, Solveig, die vom zwölften Stock nach unten gesprungen war.
Blum stand genau dort, von wo sie gesprungen sein musste. An der Brüstung, den Blick nach unten gerichtet. So einfach wäre es gewesen. Fallen und Sterben. Doch Blum blieb. Sie ertrug es. Dass es Abend wurde. Dass nichts in diesem Haus mit Leben erfüllt war, dass alles nur Kulisse war, ein Museum, in dem sie darauf wartete, dass irgendjemand kam, um mit ihr zu reden. Alfred, der den ganzen Tag nicht wieder aufgetaucht war, Gertrud, die immer noch draußen in den Bäumen herumkletterte. Ingmar, den sie erneut zu erreichen versuchte. Erneut stand Blum am Fenster und wählte seine Nummer. Verzweifelt versuchte sie es immer wieder, während die Bäume im Park ihre Äste verloren. Das Einzige, was blieb, war, zu warten, bis Ingmar zurückkam. Doch er kam nicht. Stundenlang nicht. Und deshalb ging sie.
Blum musste weg. Ingmar hatte sie im Stich gelassen. Keine Sekunde länger wollte sie in diesem Haus bleiben. Blum wollte zu ihren Kindern, sie sehen, nur einen kurzen Blick auf sie werfen, still, aus dem Verborgenen. Sie beobachten, ihre Gesichter sehen. Egal, ob es vernünftig war oder nicht, sie tat es einfach. Endlich wieder handeln, selbst entscheiden. Schnell rannte sie zu dem kleinen Friseursalon am Eingang zum Wellnessbereich. Sie war schon einige Male daran vorbeigelaufen, an den alten Trockenhauben, an den altmodischen Sesseln, den barocken Spiegeln. Auch hier glänzte alles, als sie das Licht anmachte. Auch hier hatte Gertrud den Staub von den Lampen gewischt, von den Regalen, alles lag an seinem Platz, es war so, als müsste Blum nur ihren Kopf nach hinten legen, als würde eine freundliche Stimme gleich mit ihr über das Wetter reden, über den Herbst im Schwarzwald. Nur ein Friseurbesuch war es, ein neuer Haarschnitt, eine neue Farbe. Jetzt sofort.
Blum öffnete den Glasschrank mit den Färbemitteln, sie griff nach dem Blondiermittel, Wasserstoffperoxid, strohblond wollte sie sein. Ein Kurzhaarschnitt, sie wollte sich nicht wiedererkennen. Eine andere sein mit der Schere in der Hand. Sie schnitt ab, was war. Das Vertraute verschwand mit jedem Schnitt. Wie ein Baum im Park war sie, überall waren Äste, die lautlos zu Boden fielen. Blums Haare. Sie trug das Blondiermittel auf und setzte sich auf den Stuhl, lange wartete sie, es sollte nichts übrigbleiben von früher, alles sollte sich verändern. Schrill, auffallend, anders. Kein Mensch würde sie so erkennen, niemand. Die Frau mit den strohblonden kurzen Haaren, wie sie dastand und in den Spiegel starrte. Plötzlich war da eine Fremde. Wie sehr es sie verändert hatte, die verschwundenen Haare, die Farbe, Blum posierte vor dem Spiegel in der Lobby, versuchte, sich an ihr neues Aussehen zu gewöhnen. Eine andere war sie. Und trotzdem immer noch Blum. Innen immer noch das Monster, das sich im Wald versteckte.
Blum ging nach oben, um ihre Sachen zu packen, dann lief sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, die Treppen nach unten in die Tiefgarage. Sie war froh, dass sie die Lobby und alles andere hinter sich lassen konnte, so gut dieses Versteck auch sein mochte, so verborgen sie in diesem Haus auch war, Blum spürte, dass es kein guter Ort war. Vom ersten Moment an hatte das Hotel Solveig sie an diesen Film erinnert, den sie als Kind gemeinsam mit ihrem Vater hatte ansehen müssen. Shining. Einer von jenen Filmen, die Blum hatten abhärten sollen, einer der Filme, die Blum nie wieder aus ihrem Kopf bekam. Dieses leere Hotel in den Bergen, in dem eine Familie überwinterte, ein glückliches Paar, das sich im Auftrag der Besitzer um das Haus kümmern sollte, schöne Monate hätten es werden sollen, doch es kam anders. Shining war ein Horrorfilm, in dem viel Blut floss, da war dieser unheimliche Junge auf dem Dreirad, der tagelang durch die endlosen Gänge fuhr, und sein Vater, der die Familie ausrottete, weil das Haus ihn langsam verrückt machte. All diese Bilder fielen Blum jetzt wieder ein, tief innen machten sie ihr Angst. Diese Parallelen, der kleine Ingmar auf seinem Rad, die Familie in dem leeren Hotel, die Toten. Blum wollte weg, sie wollte ihr Schicksal nicht länger in fremde Hände legen. Blum ging.
In der Tiefgarage suchte sie nach einem Wagen, der sie zu ihren Kindern bringen würde, doch alle waren verschlossen. Kein Auto, keine Möglichkeit, von hier wegzukommen. So sehr hatte Blum gehofft, dass Ingmar oder Alfred vergessen hatten, einen der Schlüssel abzuziehen. Doch sie hatte kein Glück, es gab kein vollgetanktes Fluchtauto, das auf sie wartete, es gab nur ein blaues Fahrrad, das an der Betonmauer lehnte. Sie strampelte damit aus der Garage und rollte den Berg hinunter. Was sollte sie auch sonst tun, im Tal würde sie in einen Zug steigen und in Innsbruck zu Fuß vom Bahnhof nach Hause gehen. Blum war sich sicher, dass sie es schaffen würde, dass sie unerkannt bleiben würde. Und auch wenn sie wusste, dass es falsch war, was sie tat, sie konnte nicht anders. Sie fuhr einfach weiter. Trat in die Pedale. Dachte nicht mehr nach.
Nur eine Frau auf einem Fahrrad, Ingmar erkannte sie nicht gleich. Obwohl er ganz langsam an ihr vorbeifuhr, blieb er zuerst nicht stehen, er fuhr einfach weiter. Kurz drehte er seinen Kopf zur Seite und schaute Blum an, das Blond, die kurzen Haare, er musste die Bilder in seinem Kopf nicht gleich zusammengebracht haben, er schenkte ihr keine weitere Aufmerksamkeit, die Fahrradfahrerin war nur eine Touristin, vielleicht wollte sie sich das Hotel ansehen. Es dauerte einige Sekunden, bis Ingmar bremste und zurückfuhr. Bis er verstand, wer die Frau im Rückspiegel war. Ingmar war außer sich, er zwang sie, stehen zu bleiben, er packte sie am Arm, zerrte sie in den Wagen und raste mit ihr zurück ins Haus. Das blaue Fahrrad blieb am Wegrand.
– Spinnst du?
– Du musst zurück ins Haus, niemand darf dich sehen, Blum, schnell.
– Bist du noch ganz dicht?
– Du solltest doch im Hotel bleiben.
– Ich kann machen, was ich will.
– Das kannst du eben nicht, Blum.
– Was soll das? Ich will, dass du sofort anhältst und mich aussteigen lässt. Ich will weg von hier, verstehst du. Ich will zu meinen Kindern, und zwar sofort.
– Das geht nicht.
– Ich habe den ganzen Tag auf dich gewartet. Wo warst du?
– Wir müssen reden, Blum.
– Dann rede, verdammt noch mal.
– Du musst dich verstecken.
– Ich will aussteigen, Ingmar.
– Nein. Die Bombe wird jeden Augenblick platzen.
– Was um Himmels willen ist passiert?
– Du hast deine Haare abgeschnitten.
– Ja, ich habe meine Haare abgeschnitten. Und du erzählst mir jetzt sofort, was los ist, sonst bin ich weg. Du kannst mich nicht zwingen, hierzubleiben.
– Sie wissen, dass du es warst.
– Wer?
– Die Polizei.
– Woher willst du das wissen?
– Ich weiß es einfach.
– Unmöglich, Ingmar. Du warst nur in der Stadt, um Telefone zu kaufen. Eines hast du an Karl geschickt.
– Das habe ich nicht.
– Was hast du getan?
– Ich wollte auf Nummer sicher gehen, Blum. Ich bin nach Innsbruck gefahren, ich wollte sicher sein, dass Karl es auch wirklich bekommt, verstehst du?
– Nein.
– Doch, Blum, ich habe vor der Villa gestanden und gewartet, bis er Uma und Nela aus der Kindertagesstätte holt.
– Spinnst du?
– Ich bin Karl nachgefahren und habe ihm das Telefon heimlich in die Hand gedrückt. Niemand hat es gesehen.
– Was soll das, Ingmar?
– Ich habe ihm nur gesagt, dass er dich anrufen soll am Abend. Sonst nichts. Ich habe die Nummer des anderen Telefons eingespeichert, er muss nur noch den grünen Knopf drücken. Es ging alles ganz schnell.
– Sag mir, dass du das nicht getan hast, Ingmar.
– Vor der Villa standen Polizisten, Blum. Sie durchkämmen dein Haus, da herrscht absoluter Ausnahmezustand.
– Was ist mit den Mädchen?
– Es geht ihnen gut.
– Was ist mit Reza? Mit Karl? Was hast du nur getan, verdammt noch mal?
– Ich habe keine Ahnung, was da vor sich geht, aber es schaut nicht gut aus, Blum. Sicher ist, dass sie dich suchen. Aber sicher ist auch, dass sie dich hier nicht finden werden.
– Warum tust du das, Ingmar? Warum mischst du dich in mein Leben ein? Warum waren da Polizisten, was ist mit den Mädchen? Sie müssen Angst haben, was hat Karl ihnen gesagt?
– Ich weiß es nicht, ich habe ihm nur das Telefon gebracht. Ich bin gleich wieder weg, ich wollte nicht, dass wir zusammen gesehen werden. Niemand kennt mich, es ist nichts passiert, Blum. Ich habe alles richtig gemacht.
– Du Arschloch.
– Auch Karl weiß nichts. Wo du bist, ich habe es ihm nicht gesagt. Alles ist gut, Blum.
– Arschloch, Arschloch, Arschloch.
– Ich will dir doch nur helfen.
– Ich habe dich nicht darum gebeten. Du solltest es mit der Post schicken. Mich hier nicht so lange allein lassen.
– Ich habe die ganze Sache nur beschleunigt. Ich weiß doch, dass du mit den Kindern reden willst. Mit Karl. Dass du wissen willst, was los ist.
– Ich will nicht, dass du dich einmischst.
– Ich mische mich doch nicht ein.
– Doch, das tust du. Nur weil wir einmal miteinander geschlafen haben, hast du nicht das Recht, in meinem Leben herumzuwühlen.
– Ich habe es nur gut gemeint, Blum.
– Ich will, dass du dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmerst. Nicht um meine. Verstehst du das? Ich bin dir dankbar dafür, dass ich hier sein durfte, aber mehr ist da nicht.
– Bitte, Blum. Du musst dich beruhigen. Lass uns nach oben gehen und etwas trinken, dann sehen wir weiter.
– Fass mich nicht an. Nicht anfassen, habe ich gesagt!
– Es tut mir leid, Blum.
– Ich will, dass du mir jetzt sofort das Telefon gibst.
– Karl wird dich bald anrufen, du wirst sehen, alles wird gut.
– Du sollst mir das verdammte Telefon geben!
– Hier.
– Und ich will, dass du mich alleine lässt. Ich will dich nicht sehen. Hast du das verstanden?
– Ich sagte doch, dass es mir leidtut.
– Ob du das verstanden hast, will ich wissen.
– Ja.