Erst kurz bevor sie auf den Parkplatz fahren, hat Blum es verstanden. Über zwei Stunden lang hat sie nichts zu ihm gesagt, hat sich in seine Hände begeben, hat ihm vertraut. Hat mit den Kindern geredet, als sie wieder aufgewacht sind. Mit ihnen gelacht, gespielt. Dass sie in Nürnberg stehen bleiben würden, damit hat sie nicht gerechnet. Blum dachte, dass sie immer weiterfahren würden, bis in den Norden, nach Hamburg vielleicht. Dass Ingmar von der Autobahn abgefahren ist, hat sie nicht mitbekommen, sie hat den Kindern Geschichten erzählt, ihnen ein schönes Leben versprochen, ihnen die Angst genommen. Alles wird gut, hat sie immer wieder gesagt. Und Ingmar ist weitergefahren. Nürnberg Ost, den Weg entlang, den sie schon einmal genommen hat. Erst vor ein paar Minuten hat sie begriffen, was er vorhat. Wo er hinwill. Jetzt schreit sie, zwingt ihn, in der Einfahrt stehen zu bleiben. Egal, was die Kinder denken, sie will es um jeden Preis verhindern.
– Du sollst stehen bleiben, habe ich gesagt.
– Das ist das Beste, was wir tun können, Blum.
– Nein, das ist es nicht. Ich will, dass du stehen bleibst. Ich will, dass du umdrehst, von hier wegfährst. Sofort. Hast du verstanden, Ingmar?
– Bitte schrei mich nicht an, Blum.
– Jetzt, verdammt.
– Ist ja schon gut, bitte beruhige dich. Alles, was du willst, Blum.
– Und jetzt dreh um und fahr weiter.
– Lass uns darüber reden, bitte.
– Wie kommst du nur auf so eine Idee? Wenn wir zu Kuhn gehen, kannst du mich gleich bei der nächsten Polizeiwache abliefern.
– Hier sind wir sicher, Blum.
– Was redest du nur? Kuhn wird die Polizei rufen, sie werden hier sein, noch bevor wir ausgestiegen sind.
– Nein, Leo wird das nicht tun. Er wird niemanden anrufen.
– Warum nicht?
– Weil ich ihn darum gebeten habe.
– Du hast was?
– Ich habe ihn angerufen, er weiß, dass wir kommen.
– Bravo, Ingmar.
– Kuhn wird nichts sagen. Zu niemandem.
– Alle tun, was der gute Ingmar sagt, oder was? Leo Kuhn wird also nicht die Polizei rufen, nichts sagen. So wie Alfred. Den hast du ja auch darum gebeten, nicht wahr?
– Das ist nicht fair, Blum.
– Es ist mir scheißegal, ob das fair ist. Ich will das nicht.
– Die Kinder, Blum.
– Was ist mit den Kindern? Denkst du, sie bekommen einen Schaden, nur weil sie ihre Mutter schreien hören? Glaubst du das? Dass ich eine schlechte Mutter bin?
– Nein, Blum.
– Was dann? Was willst du hier? Warum tust du das, Ingmar?
– Weil ich es für das Vernünftigste halte, Blum. Wir machen hier Station. Wir überlegen in Ruhe, wie es weitergehen soll, du und die Kinder, ihr habt Zeit füreinander. In Sicherheit, verstehst du?
– Nein, das verstehe ich nicht. Wir sind hier nicht in Sicherheit, wir sind nirgendwo in Sicherheit.
– Wir können Leo vertrauen.
– Warum sollte er so etwas für dich tun? Und für mich? Er bringt sich in Gefahr, auch er geht ins Gefängnis, wenn er uns hier aufnimmt.
– Leo ist schon immer gegen den Strom geschwommen. Er hat gesagt, dass es das Highlight des Jahres für ihn wäre, wenn wir vorbeikommen. Es ist im Moment das Einzige, das wir tun können. Leo oder das Solveig, eine andere Möglichkeit haben wir nicht. Wir müssen das Ganze planen. Ziellos durch Deutschland fahren und riskieren, dass dich jemand sieht, das ist zu gefährlich.
– Er wird die Polizei rufen.
– Das wird er nicht.
– Dann wird irgendjemand anderer dort die Polizei rufen. Das kann nicht gut gehen, Ingmar.
– Es ist Wochenende, Blum. Es ist niemand hier, das Institut ist leer. Keine Besucher, keine Mitarbeiter, Leo ist allein. Wir sind oben in seiner Wohnung, er hat Platz genug, wir können ganz in Ruhe entscheiden, wie es weitergeht.
– Das kann nicht gut gehen.
– Vertrau mir, Blum.
Sie hat keine Wahl. Da ist nichts, was sie tun kann. Was sie ihm entgegensetzen könnte. Ein Gegenvorschlag, ein Ziel, das sie ansteuern könnten, ein Ort, an dem sie sein möchte, ein anderer Platz, an dem sie in Sicherheit die Nacht verbringen könnte mit den Kindern. Ohne Angst, gefunden zu werden, aufgeweckt mitten in der Nacht, entdeckt von irgendeinem ordentlichen Staatsbürger, der ihr Foto in der Zeitung gesehen hat. Sie muss darauf vertrauen, dass es richtig ist, dass Ingmar nichts tun würde, um sie zu gefährden, dass Leo Kuhn nicht beendet, was gerade erst begonnen hat.
Die Alternative wäre das Solveig, deshalb gibt sie mit einem Nicken ihr Einverständnis. Sie sagt Ingmar, dass er weiterfahren, hinter dem Backsteingebäude parken soll. Steigt aus und erklärt den Kindern, dass sie einen alten Freund besuchen. Sie muss weg von der Straße, Blum tut es einfach und bringt die Kinder nach oben. Ingmar kennt sich hier aus, er kennt den Code an der Tür, schnell geht sie auf und zu, niemand sieht sie. Vorbei am Eingang zu den Schauräumen, zum Labor, Ingmar führt sie die Treppen nach oben und klingelt. Eine große schwarze Eisentür, der Eingang zu Kuhns privatem Reich, seinem Rückzugsgebiet. Was von außen unscheinbar aussieht, entpuppt sich als Luxuspenthouse, auf dem Dach der ehemaligen Seifenfabrik hat sich Leo Kuhn einen Wohntraum verwirklicht. Design vom Feinsten, ein Museum fast, überall Kunst, Bilder, Plastiken, bunte Teppiche, Farben an den Wänden. Kuhn empfängt sie herzlich, nimmt sie in den Arm, als wäre sie tatsächlich eine alte Freundin, die mit den Kindern zu Besuch kommt. Gut schaust du aus, sagt er. Die neue Frisur steht dir. Dann bittet er sie alle hinein.
Leo Kuhn. Mit einer Selbstverständlichkeit, die Blum sprachlos macht, scherzt er mit den Kindern, er zeigt ihnen die Wohnung, spielt mit ihnen, gewinnt sie für sich. Es dauert keine vier Minuten, da gehen sie an seiner Hand von Zimmer zu Zimmer. Damit hat sie nicht gerechnet. Dass er so freundlich ist, so kinderlieb, dass er sich um sie mehr Gedanken macht als um sich selbst und seine Kunst. Blum setzt sich. Ingmar neben ihr. Mit großen Augen staunt sie, nicht nur die Kinder sind fasziniert von all den Dingen, die hier herumstehen und an den Wänden hängen. Ein Sammelsurium von Besonderheiten ist es. Ausgestopfte Tiere, skurrile Bilder, Barbiepuppen in Vitrinen, ein pink lasierter Holzboden, Kronleuchter an der Decke, überall Kristall und Glitzer. Der Spielplatz eines Verrückten, liebevoll gestaltet jedes Detail, tausend Dinge zu entdecken, keine Zeit zu überlegen, ob es richtig ist oder falsch. Was jetzt kommt, was er sagen wird, was er tun wird und was nicht. Nur ein freundlicher Mann, der sie willkommen heißt. Bedient euch, ruft er. Im Kühlschrank ist Weißwein, auf unser Wiedersehen müssen wir anstoßen. Ich bin gleich bei euch, meine Lieben. Und später kochen wir. Seine Stimme ist wie Medizin, ein Beruhigungsmittel, das die Angst nimmt. Kein Zweifel, dass er es ernst meint. Dass er ihnen etwas vormachen könnte. Wie ungewöhnlich alles ist und wie angenehm es sich anfühlt. Wie die Skepsis diesem Gefühl weicht. Vertrautheit. Eine kurze Auszeit.
Wieder ist es wie eine Szene aus einem Film. Freunde, die sich treffen, gemeinsames Essen, die Kinder tollen herum, Wein und Lachen. Leo Kuhn, der Mann, der Leichen zu Kunstwerken macht, der Tier und Mensch kreuzt, der Provokateur, der sich über alle ethischen Grenzen hinwegsetzt. Er kocht für sie, er erzählt Geschichten und bringt sie zum Lachen. Es fällt kein Wort über das, was passiert ist, über das, was er aus den Nachrichten weiß. Nichts über zerstückelte Leichen in Gräbern, nichts über den toten Alfred Kaltschmied, nichts über den toten Obdachlosen, den man mittlerweile bestimmt gefunden hat. Kein Wort. Nur diese Selbstverständlichkeit, mit der er sie aufnimmt. Wozu hat man Freunde, sagt er nur. Wenn mich Ingmar um etwas bittet, kann ich selten Nein sagen. Und außerdem bin ich immer zu haben für erlesenen Besuch. Dann lacht er und schüttet Wein in die Gläser. Kerzen brennen, die Kinder stopfen sich Kuchen in den Mund.
Einen Abend lang ein schönes Gefühl. Zwei Männer, die sich beherzt um die Mädchen kümmern. Zuerst Leo, dann Ingmar. Auch er lässt es sich nicht nehmen, mit Uma und Nela zu spielen, sie aufzuheitern, mit ihnen in Leos Arbeitszimmer zu verschwinden und ihnen weitere Kuriositäten zu zeigen. Blum kann sitzen bleiben und sich ausruhen, Wein trinken, einfach nur zuschauen, wie ihre Kinder glücklich sind. Einen Moment lang gibt es keine Fragen, keine Angst, kein Unglück, das groß und schwer über ihnen liegt, das ständig droht, sie aufzufressen, zu zerreißen. Nur Ingmar und Leo. Zwei Freunde, die sich auf diesen Wahnsinn einlassen. Zwei Männer, die nicht genug haben mit dem, was das normale Leben ihnen bietet. Sie wollen mehr, viel mehr. Nicht nur eine Lampe an der Decke, sondern einen riesigen Kronleuchter, mit dem Kopf voraus in einen leeren Pool, mit Seelenruhe am Abgrund entlang. Blum weiß nicht, warum sie es tun, aber sie genießt es. Obwohl alles äußerst ungewöhnlich ist, fühlt sie sich sicher. Ihr kann nichts passieren. Leo sitzt ihr gegenüber und lächelt. Auf das Leben, sagt er. Danke, sagt Blum.
– Niemand wird dich hier suchen. Ihr könnt bis übermorgen bleiben, außer uns ist niemand im Haus. Niemand, der dir gefährlich werden könnte.
– Was meinst du damit?
– Unten liegen ungefähr hundert Leichen.
– Findest du das witzig?
– Ja.
– Du findest alles witzig, stimmt’s? Die ganze Welt ist für dich ein Spielplatz, oder?
– Ich will Spaß, ja. Ist das schlecht? Gibt es irgendetwas dagegen einzuwenden?
– Ich weiß es nicht.
– Ich tue niemandem etwas zuleide.
– Was du mit den Leichen machst, das finden nicht alle gut. Du verstörst die Leute, kränkst sie.
– Nicht ich, Blum, die Verstorbenen, die da unten liegen. Sie wollten, dass ich mich um sie kümmere. Sie wollten das, verstehst du? Unsterblich werden, ausgestellt, auf einem Podest stehen, geschmückt und stolz.
– Gedemütigt und entstellt.
– Ach, Blum. Wenn ich es nicht machen würde, würde es ein anderer tun. Der Mensch will das so, die Ausstellungen werden gestürmt.
– Du kannst machen, was du willst.
– Das ist genau das, was ich tue.
– Und du hast keine Angst?
– Wovor sollte ich Angst haben?
– Vor mir.
– Nein.
– Ich bin eine Mörderin.
– Willst du mir etwas antun?
– Nein.
– Warum sollte ich dann also Angst vor dir haben?
– Warum hilfst du mir?
– Die ganze Welt sucht dich, jeder Polizist in diesem Land ist hinter dir her, die Medien veranstalten eine Mörderhatz, wie es sie selten gibt. Und du sitzt hier und trinkst Wein mit mir. Das gefällt mir. Das ist besser als Sex.
– Was willst du von mir?
– Gar nichts.
– Wer dann?
– Ingmar.
– Ich habe ihm gesagt, dass es nicht geht. Dass ich nicht mit ihm zusammen sein kann.
– Das ist ihm wahrscheinlich egal, oder?
– Ja.
– Du scheinst dem armen Kerl den Kopf verdreht zu haben.
– Ich habe gar nichts getan.
– Du erinnerst ihn sehr an Björk. Ich denke, er würde es nicht ertragen, sie noch einmal zu verlieren.
– Ich will das nicht.
– Das musst du ihm sagen, nicht mir.
– Ich will mit all dem nichts zu tun haben. Nicht mit Björk, nicht mit Alfred, nicht mit dem verdammten Hotel.
– Ich habe gehört, dass Alfred tot ist.
– Ich will nicht mehr darüber reden. Nicht über Björk, nicht über Ingmar. Ich will einfach nur meine Ruhe. Wein trinken. Wissen, dass es den Kindern gut geht. Und weg. Weit weg will ich. Irgendwohin, wo Ruhe ist. Nur ich und die Kinder.
Dann schweigen sie wieder. Nur die Kinderstimmen im Hintergrund. Nur Leos Blicke und sein überlegenes Lächeln, das ihr das Gefühl gibt, dass er die Situation zu hundert Prozent im Griff hat. Dass er über alles Bescheid weiß, jedes Detail kennt. Dass Ingmar ihm alles erzählt hat. Und er es genießt. Der großartige Leo Kuhn spielt sein Spielchen, er amüsiert sich, lässt sich unterhalten. Blum im Kolosseum. Sie tanzt für ihn. Und der Löwe kreist um sie herum. So lange, bis er zubeißt.