Blum im Wasser. Sie hatte sich einfach ausgezogen und war ins Becken gesprungen, für einen Augenblick war sie untergetaucht, hatte die Luft angehalten und die Augen geschlossen. Nun trieb sie nackt im Blau, nur leichte Bewegungen, damit sie nicht unterging. Sie konnte nicht anders, sie wollte alles abwaschen von sich, Ingmars Berührungen, alles, was Alfred ihr erzählt hatte, Blum wollte allein sein. Nur sie. Nur ihre eigenen Gedanken, keine anderen, sie wollte nicht mehr, dass sich alles vermischte. Zu viel Schicksal, zu viele Gesichter, die verliebten Augen von Ingmar, die zitternden Lippen von Alfred, Benjamin Ludwig und all die anderen. Reza, Karl und die Kinder. Blum wollte untergehen, sich in einem dunklen Schrank verstecken, die Decke über ihren Kopf ziehen, sich am Meeresgrund verbergen, nur das warme Wasser auf der Haut spüren. Nur ab und zu kleine Bewegungen mit den Händen. Bis es wieder Nacht werden würde. Bis der Fernseher im vierten Stock etwas anderes sagen würde. Nackt sein im Dunkeln. Sich treiben lassen. Bis alles wieder gut war.
Zehn Minuten lang, zwanzig vielleicht. Blum wusste nicht, wie lange sie schon dagestanden und ihr zugesehen hatte. Gertrud. Sie wartete am Beckenrand ab und rauchte. Gelassen und ruhig, sie sagte kein Wort, auch nicht, als Blum den Kopf zur Seite drehte und sie ansah. Ein seltsames Bild war es. Blum im Wasser, nackt, sie rührte sich nicht vom Fleck. Und auch Gertrud stand still. Fremd und vertraut war es, aus irgendeinem Grund war es Blum egal, dass die alte Frau sie begaffte. Blum entschied, zu bleiben, sich nicht einschüchtern zu lassen, sie wollte nicht davonlaufen, sich nicht demütigen lassen. Sie trieb nur im Wasser, schaute Gertrud an und überlegte.
In einem leeren Schwimmbad zwei Frauen, nur ihre Blicke, die sich trafen. Keine von beiden wollte den ersten Schritt tun, sich in die Richtung der anderen bewegen, sie wahrten den Sicherheitsabstand. Gertrud drückte in einem Handaschenbecher ihre Zigarette aus und zündete eine neue an. Ein paar Minuten lang war da nur Schweigen, es war so, als würden sie miteinander spielen. Wer den längeren Atem hat. Wer das erste Wort sagt. Wer es zuerst nicht mehr aushält. Unangenehm war es, doch Blum rührte sich nicht. Bis die nächste Zigarette abgebrannt war. Bis Gertrud sie plötzlich aufforderte, mit ihr in den Wintergarten zu kommen. Freundlich streckte sie Blum ein Handtuch entgegen und wartete, bis sie aus dem Wasser gestiegen war. Es gibt Frühstück, sagte sie. Sonst nichts.
Beharrlich und bestimmt war sie. Kommen Sie schon, es wird Zeit, dass wir zwei Hübschen uns unterhalten. Gertrud lächelte und Blum folgte ihr. Sie stieg aus dem Becken, zog sich an und ging hinter ihr her durch die leeren Gänge. Alfred musste Gertrud über den unerwarteten Besuch informiert haben, bevor er eingeschlafen war, er musste ihr den Befehl erteilt haben, freundlich zu Blum zu sein. Gertrud bemühte sich. Im wunderbaren Wintergarten servierte sie ein üppiges Frühstück, dann setzte sie sich wie selbstverständlich zu Blum und zündete sich erneut eine Zigarette an. Da war niemand, der es ihr verbot. Gertrud umkreiste Blum wie ein Raubvogel, der jederzeit bereit war, sich gnadenlos auf sein Opfer zu stürzen. Blum konnte es in ihren Augen sehen, wie ein alter Jagdhund war sie, ein Waschweib, das einen Augenblick lang innehielt und tratschen wollte, bevor sie sich wieder um das riesige Haus kümmern musste, Alfreds treue Gefährtin, der Mutterersatz für Ingmar, die Frau, die zur Bestie werden konnte, wenn es sein musste. Blum spürte es. Egal wie freundlich sie war, sie war bereit, zuzuschlagen.
– Ich weiß, warum Sie hier sind.
– Das bezweifle ich.
– Sie wollen Geld.
– Unsinn.
– Was dann?
– Ich hätte gerne eine Kopfschmerztablette.
– Sie wollen Geld, ich weiß es.
– Ich habe andere Sorgen, das können Sie mir glauben.
– Welche?
– Das wollen Sie nicht wissen.
– Doch, das will ich.
– Müssen wir uns unterhalten?
– Ja, das müssen wir.
– Gertrud, richtig?
– Ja.
– Danke für das Frühstück, Gertrud, aber ich würde jetzt einfach gerne alleine sein, ich möchte hier sitzen und aus dem Fenster schauen. Zwei oder drei Tage lang, dann bin ich wieder weg, versprochen.
– Nein, wir beide werden uns jetzt unterhalten.
– Warum sollten wir das tun?
– Weil Sie neugierig sind, weil Sie noch mehr wissen wollen, weil Ihnen Alfred bestimmt nicht alles erzählt hat.
– Ich bin mir sicher, dass es nichts mehr zu sagen gibt.
– Vielleicht doch.
– Ich denke, ich habe wirklich genug.
– Wollen Sie nicht noch mehr über Ihre Schwester wissen?
– Was könnten Sie mir schon sagen?
– Sie müssen doch neugierig sein?
– Das ändert doch nichts mehr. Sie ist tot, oder?
– Ja, das ist sie. Aber vielleicht hilft es Ihnen, zu wissen, was für ein Mensch sie war.
– Ich denke eher, Sie möchten wissen, was ich für ein Mensch bin. Deshalb sitzen Sie doch hier. Um herauszufinden, was ich hier will, was ich vorhabe, ob ich den guten Alfred um seine Millionen bringen will. Stimmt’s?
– Ihre Schwester war gut.
– Gut?
– Ein feiner Mensch. Bescheiden. Sie hat eigentlich nicht hierher gepasst.
– Wie meinen Sie das?
– Sie ist immer anders gewesen, sie war etwas Besonderes.
– Deshalb hat sie sich wahrscheinlich auch ausstopfen lassen.
– Hören Sie auf damit.
– Womit?
– So über sie zu reden.
– Warum? Sie reitet wie eine Barbie auf einem Zebra durch Wien. Ausgestopft wie ein Tier.
– Ich weiß. Und das tut mir sehr leid.
– Warum?
– Weil das nicht zu ihr passt.
– Kuhn hat sie nach ihren eigenen Wünschen designt.
– Das habe ich nie verstanden.
– Was?
– So war sie nicht. Sie hat das immer abgelehnt, was Leo da macht. Ich habe nie verstanden, warum sie sich dafür hergegeben hat.
– Sie finden also nicht gut, was Kuhn da macht?
– Spielt das eine Rolle?
– Ich denke schon, immerhin hat er die gute Björk gehäutet und zerschnitten, er hat ihr den Brustkorb aufgerissen und ihr Herz pink bemalt.
– Ja, das hat er.
– Er hat ein Monstrum aus ihr gemacht.
– Leo ist Ingmars Freund, er gehört fast zur Familie, seit Jahren geht er hier ein und aus. Was er macht, ist seine Sache. Und wenn Björk es so gewollt hat, dann wird es wohl so stimmen. Also, Punkt und Ende.
– Was war mit den beiden?
– Mit wem?
– Mit Björk und Kuhn.
– Was soll mit ihnen gewesen sein?
– Hatten sie etwas miteinander?
– Er hat sie verehrt, immer schon. Seit er das erste Mal das Haus betreten hat. Björk war wohl so etwas wie seine Traumfrau.
– Und hat er seine Traumfrau bekommen?
– Nein.
– Warum nicht?
– Warum, warum? Ich konnte nie hineinschauen in das Mädchen. Warum sie weggegangen ist. Nach Afrika. So weit weg. So allein muss sie gewesen sein.
– Warum hat sie sich umgebracht?
– Ich weiß es wirklich nicht. Ich dachte immer, ich kenne meine Kinder.
– Ihre Kinder?
– Wir leben seit sehr langer Zeit hier zusammen. Ich habe sie aufwachsen sehen. Das hier ist meine Familie.
– Wenn es Ihre Familie ist, warum wohnen Sie dann im Personalhaus?
– Ich bin die Hausdame und nicht Alfreds Frau. Ich kümmere mich nur um alles. Um Ingmar. Um Alfred. Früher auch um Björk.
– Sie war Ihr Liebling, stimmt’s?
– Wie kommen Sie darauf?
– Weil Sie mich so anschauen.
– Wie schaue ich Sie denn an?
– So als würden Sie mich mögen.
– Unsinn.
– Ich schaue aus wie Björk. Sie erinnern sich, ich sehe es in Ihren Augen. Fast ist es so, als wäre sie wieder da, oder?
– Hören Sie auf damit.
– Frühstücken mit der guten Björk im Wintergarten. So wie früher, stimmt’s?
– Bitte hören Sie auf damit.
– Aber warum denn? Sie wollten sich doch unbedingt unterhalten. Lassen Sie uns doch noch ein bisschen in der Vergangenheit schwelgen. Ist doch so schön, oder?
– Nein.
– Dann können wir das Gespräch jetzt abbrechen?
– Ja.
– Wie gesagt, ich werde noch zwei oder drei Tage hierbleiben, dann werde ich verschwinden.
– Das müssen Sie nicht.
– Doch, das muss ich.
– Wir könnten uns kennenlernen.
– Wozu sollte das gut sein?
– Weil Sie vielleicht doch recht haben.
– Womit?
– Dass ich Sie mag.
Dann war es still. Keine von beiden sagte etwas. Sie saßen nur da und schauten sich an, da waren wieder nur ihre Blicke, die sich begegneten, der Geruch von Kaffee und frisch aufgebackenem Brot. Nur Gertrud und Blum. Ebenbürtig, Waffenstillstand, plötzlich war alles vertraut. Eben noch hatten sie einander misstraut, jetzt waren sie still und friedlich. Die Gefühle, die Gertrud zugelassen hatte, klärten die Situation. Von einem Moment zum anderen war da nichts Feindseliges mehr, kein Argwohn, keine Skepsis, da war nur Gertruds Trauer, ihre Sehnsucht nach Björk, ihr Wunsch, sie wieder zu berühren, sie wieder atmen zu sehen. Da war plötzlich so etwas wie Nähe zwischen Blum und Gertrud. Sehnsucht nach einer Tochter, Sehnsucht nach einer Mutter. Eine liebevolle Frau, die Ingmar und Björk nach Solveigs Tod großgezogen hatte, es waren ihre Hände gewesen, die die Kinder berührt hatten, ihre Umarmungen, ihre Stimme, die sie getröstet hatte. Gertrud. Sie sorgte dafür, dass es weiterging, dieses kaputte Leben im Paradies. Sie hielt das Böse fern, beschützte die beiden Männer, kochte und sorgte für sie. Der Wachhund, der nicht bellte. Obwohl die Erinnerungen sie lähmten, wollte sie die Gefühle nicht länger verbergen. Die Liebe zu Björk. Wortlos streckte Gertrud ihre Hand aus, nahm die von Blum und hielt sie fest. Es ist unglaublich, wie ähnlich ihr euch seht. Wie sehr ich sie vermisse, sagte sie. Ein paar Minuten lang schaute sie Blum einfach nur an und hielt ihre Hand. Wunderschön war es. Da war diese einfühlsame Mutter, die Blum immer gern gehabt hätte, kurz tauchte ein Gefühl von Familie in ihr auf, kurz ließ sie sich wieder hinreißen, sie taumelte. Bis Gertrud aufstand und davonging. Ohne sich umzudrehen. Einfach so.
Blum blieb. Ihre leere Hand auf dem Tisch. Die Zigarettenschachtel, das Feuerzeug und dieses riesige Loch, das Gertrud in sie hineingebrannt hatte. Sie erinnerte sich an ihre Kindheit, spürte die Sehnsucht, die zwanzig Jahre lang wehgetan hatte. Keine Zärtlichkeit, keine Liebe, keine Mutter, die sie gehalten hatte, keine Umarmung, kein schönes Wort, nur Pflichten. Sie war immer nur Hagens Nachfolgerin für das Bestattungsinstitut gewesen, sein kleiner Soldat, der nach Liebe schrie. Ein kleines Mädchen, das im Kühlraum gekauert und mit den Toten geredet hatte. Weil ihr sonst niemand zugehört hatte. So viele Jahre nur Einsamkeit.
Blum nahm eine Zigarette und zündete sie an. Sie schaute aus dem Fenster und blies Rauch in die Luft. Die Vergangenheit holte sie wieder ein. Sie dachte daran, wie ihr Leben hätte sein können, was sie anders hätte machen können, wie sie hätte verhindern können, was demnächst wohl passieren würde. Aber es gab keine Möglichkeit, die Uhr zurückzudrehen, keine anderen Eltern für die kleine Blum, es gab keine Begnadigung für sie, keine Hoffnung, alles würde ans Licht kommen, Blum würde in einer Zelle enden, man würde ihr die Kinder wegnehmen. So einfach war das. So einfach wie der Rauch, der aus ihrem Mund kam, so einfach wie Ingmars Lächeln, als er zu ihr an den Tisch trat.
Ingmar Kaltschmied. Er war aufgewacht und erschien froh und heiter zum Frühstück. Für ihn war alles nur ein Spiel, waren es aufregende Tage, die er erlebte, Blum brachte Abwechslung in das Leben des reichen Jungen. Es war ihm egal, was morgen sein würde, Ingmar wollte nur mit Blum an diesem Tisch sitzen. Der kleine Ingmar mit dem steifen Bein, eines von Gertruds Kindern, der Mann, der beinahe von seiner eigenen Mutter erschlagen worden war. Mit diesem kindlichen Lächeln wollte er die Hand nehmen, die Gertrud losgelassen hatte. Doch Blum zog sie zurück. Nein, sagte sie. Nicht, Ingmar. Du musst jetzt etwas anderes für mich tun. Ich muss mich auf dich verlassen können. Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll. Ich habe nur dich.
Blum bat ihn einfach. Sie wusste, dass er nicht Nein sagen würde, nur er konnte die Telefone besorgen, nur er konnte eines davon an Karl und Reza schicken. Ohne aufzufallen, Ingmar war nur ein Kunde in einem Elektrofachmarkt, der Prepaid-Handys kaufte und anschließend ein Paket zur Post brachte. Nicht mehr. Bereitwillig stimmte er zu. Ich würde alles für dich tun. Mach dir keine Sorgen, Blum. Irgendwie bekommen wir das hin. Du bleibst hier und versuchst, dich zu entspannen. Gertrud wird dir alle Wünsche erfüllen. Ich komme bald wieder. Dann reden wir.
Blum schwieg, starrte aus dem Fenster und rauchte. Eine Zigarette nach der anderen, egal, ob es ihr schmeckte oder nicht. Egal, ob sie mit ihm geschlafen hatte oder nicht. Egal, was Ingmar sich dachte. Blum wischte sich seinen Kuss von den Lippen, als er ging. Sein Mund, der sie zum Abschied berührt hatte. Sie wollte ihn nicht.