Mit hundertsechzig Stundenkilometern über die Autobahn war sie damals gefahren. Richtung Innsbruck, auf der Ladefläche der Sarg. Bertl Puch hatte geschrien, er wollte nicht länger eingesperrt sein, er wollte raus. Ein Albtraum war es, an den sie sich erinnerte. Sie musste an die Videos denken, die sie in seiner Wohnung gefunden hatte. Videos, auf denen er die Mädchen geschlagen, auf denen er sie mit einem Lächeln vergewaltigt hatte. Ein wildes Tier, tollwütig, weggesperrt in einer Kiste. Im Leichenwagen auf dem Weg in Blums Versorgungsraum. Völlig aufgelöst war sie gewesen, nervös, viel zu schnell. Damals.
Blum hatte am helllichten Tag einen Menschen entführt, sie war zu allem bereit gewesen. Wie wütend sie gewesen war. Und wie diese Wut in Angst umgeschlagen war, als ein Polizist sie angehalten hatte. Eine simple Verkehrskontrolle, die beinahe alles beendet hätte, Führerschein und Fahrzeugpapiere, ein gelangweilter Verkehrspolizist, der Interesse an dem Leichenwagen gefunden hatte. Blum war beinahe gestorben vor Angst, sie war ausgestiegen und hatte versucht, ihn abzulenken, sie hatte die Musik im Wagen so laut gestellt, dass er nichts mehr hören konnte. Nicht, wie Bertl Puch gegen den Sargdeckel trommelte. Nicht, wie er verzweifelt um Hilfe rief. Der Koch hatte um sein Leben geschrien und Blum um das ihre gezittert. Wie freundlich sie gewesen war, wie sie dem Uniformierten schöne Augen gemacht hatte, so lange, bis er sie fahren ließ. Mit dem schreienden Bertl Puch auf der Ladefläche.
Fünf Kilometer bis zur nächsten Parkbucht, fünf Kilometer noch diese widerliche Stimme aus dem Sarg, Blum erinnerte sich. Wie verzweifelt sie gewesen war, sie hatte sich dafür gehasst, dass sie sich in so eine Situation gebracht und mit dem Leben ihrer Kinder gespielt hatte. So wie jetzt. Zwei Jahre später stand Blum erneut am Abgrund, jeden Augenblick musste sie damit rechnen, dass alles zu Ende war, dass Uma und Nela ihre Mutter verlieren würden. Dass sie in irgendeiner Zelle verschwinden würde. Dieses Gefühl, sie erinnerte sich, es war wieder da, eine Mischung aus Wut und Verzweiflung und Hass. Wie sie damals aus dem Wagen gestiegen war und den Kofferraumdeckel aufgerissen hatte, an jeden Augenblick erinnerte sie sich. Wie sie den Kofferraum und den Sargdeckel geöffnet und zugeschlagen hatte, mit dem Wagenheber auf seinen Kopf. Immer wieder. Damit er aufhörte zu schreien. Damit es endlich wieder still war. Ohne zu denken, dumpf das Geräusch, Metall auf Haut, kaputtes Fleisch. Nur eine fremde Schädelplatte, die auseinanderbrach.
Plötzlich war alles wieder so nah. Das Töten. Und wie sie den Sargdeckel wieder geschlossen hatte und weitergefahren war. Friedlich war alles gewesen. Sie hatte wieder am Steuer gesessen und war weiter über die Autobahn gefahren, hatte kein Mitleid und keine Trauer verspürt, es war nur eine weitere Leiche gewesen, die sie abtransportierte. Blum hatte mit wenigen Schlägen die Normalität wiederhergestellt, keine Stimme war mehr aus dem Sarg gekommen, keiner hatte mehr ihr Leben bedroht, es war nur ein Leichenwagen gewesen, nur ein Verstorbener auf dem Weg in ihren Versorgungsraum, um dort zerlegt und entsorgt zu werden. Einer von den Bösen, einer dieser fünf Männer, ein Kopf, Rumpf, Arme und Beine, Leichenteile, die sie in den Särgen irgendwelcher Verstorbener verstecken wollte. Leichenteile, die Reza Stunden später zufällig entdeckt hatte.
Blum war gerade dabei, Bertl Puchs Beine in zwei Teile zu zersägen, als Reza den Raum betreten hatte. Sie hatte diese grandiose Idee gehabt, die Männer einfach auf dem Friedhof zu entsorgen, sie häppchenweise zu bestatten. Wie ein Stück Fleisch aus dem Supermarkt hatte sie ihn zerlegt, ihn verpackt, ihn in Plastiksäcke gestopft. Doch sie hatte vergessen, den Versorgungsraum abzusperren, Reza hatte alles gesehen. Und trotzdem blieb er. Von einem Moment zum anderen war er für sie da gewesen.
So lange war alles her. Wortlos hatte Reza damals neben ihr gestanden und sich einen Überblick verschafft. Gelassen und unaufgeregt, er hatte nicht gefragt, nicht geurteilt, nichts gesagt. Über eine Minute lang, dann hatte er sich Schürze und Handschuhe angezogen und begonnen zu helfen. Ohne Fragen zu stellen, ohne Blums Antworten hören zu wollen, er hatte es einfach getan. Es schaut so aus, als würdest du meine Hilfe brauchen. Wir müssen darauf achten, dass die Särge nicht zu schwer werden. Wir müssen jetzt alles richtig machen, Blum. Fast gleichgültig hatte er gewirkt, Blum hatte ein Blutbad im Versorgungsraum angerichtet, und er hatte ihr beim Aufräumen geholfen. Ein treuer Soldat im Krieg, ein Gefährte, den sie vermisste. So gerne wäre sie jetzt bei ihm, würde sie neben ihm liegen, sich verkriechen in seiner Achselhöhle.
Bis vor wenigen Tagen war er an ihrer Seite gewesen, ihr Gefährte, ihr Freund, ihr Mitwisser und Geliebter. Reza und Blum. Wie sehr sie sich nach ihm sehnte. Dass er bei ihr war, dass er mit ihr durch dieses Hotel lief, mit ihr redete, ihr sagte, was sie tun sollte, wie sie ihre Kinder zurückbekam. Wohin sie gehen sollte, was sein würde. Alles. Nachdenken neben ihm. Still liegen neben ihm. Neben Reza, nicht neben Ingmar. Seine vertraute Stimme, nicht die von Ingmar. Reza, der seinen Arm um sie legte und flüsterte. Alles wird gut. So wie er es immer getan hatte. So wie Mark es getan hatte. Egal, wie schlimm es gewesen war. Wie sehr es geblutet hatte. Alles wird gut. Blum sehnte sich nach seiner Stimme. Doch da war nichts. Es gab keinen Reza in diesem Hotel, nirgendwo eine Spur von ihm. Reza saß in Untersuchungshaft, sie setzten ihn unter Druck, sie machten einen Verbrecher aus ihm, während Blum in einem großen Himmelbett lag und hinaus ins Dunkel starrte.
Sie hoffte, dass er seinen Mund hielt. Nichts sagte. Dass er log und sich dumm stellte. Ich weiß nicht, wie die Leichenteile in die Särge gekommen sind. Ich habe keine Ahnung, vielleicht hat jemand anderer die Gräber noch einmal geöffnet. Warum sollte ich so etwas tun? Warum sollte meine Chefin so etwas tun? Keine Ahnung. Egal, wie oft ihr mich noch fragt. Ich weiß es nicht. Blum hoffte es. Dass er schwieg, dass er still war, bis der Sturm vorüber war. Bis sie ihn wieder gehen ließen. Nach Hause zu den Kindern, Blum hoffte es, sie betete dafür. Bitte, pass auf dich auf, Reza. Sie lag wach und flüsterte es. Ich vermisse dich. Ganz leise. Bitte, komm und hilf mir, Reza. Dann schlief sie ein und träumte wieder.