Über zweihunderttausend Euro. Ein dickes Bündel Geld. Fünfhundert-Euro-Scheine, mit einem Gummiband zusammengehalten. Blum hat nicht widersprochen, sie hat das Geld genommen, mit einem Nicken hat sie Ingmar bedeutet, dass sie damit einverstanden ist. Dass Alfred bezahlen soll für das, was er ihr angetan hat. Geld, das sie braucht für ein neues Leben, irgendwo unter einem Apfelbaum mit den Kindern auf einer Picknickdecke, dort, wo niemand sie kennt, wo niemand weiß, was hinter ihr liegt. Nur Äpfel auf einem Baum, nur die Kinder, wie sie nach oben klettern. Lachen. Unbeschwert.

Ingmar begleitet sie in die Garage. Er lässt sie entscheiden, was für ein Auto sie will. Ingmar hat ein Tor geöffnet und den Blick auf einen gewaltigen Fuhrpark freigegeben. Oldtimer, Sportwägen, Motorräder. Du kannst nehmen, was du willst. Ich werde gar nicht merken, dass etwas fehlt. Ingmar grinst und erzählt, dass es das Einzige war, das sein Vater mit Leidenschaft betrieben hat. Sammeln. Fahrzeuge, die er irgendwann nicht einmal mehr bewegt hat. Er hat sie nur gekauft, sie in seiner Garage abgestellt und sie ab und zu angeschaut, mehr nicht. Alfred hat sich Träume erfüllt, jedes Jahr ein paar neue, er hat sein Geld für Autos ausgegeben, weil er nicht wusste, was er sonst damit anstellen soll. Reichtum und Unglück und Einsamkeit. Und ein Stück Wahnsinn, das er kultivierte, jahrelang allein in diesem Haus, der Verlust von Solveig, die Liebe zu Björk. So viel war da noch, das Blum wissen will, so viel, das sie gerne verstehen würde, begreifen, wie das alles passieren konnte. Doch sie entscheidet sich dagegen. Kein Gedanke mehr zurück, nur noch weg. Das alles hat nichts mit ihr zu tun. Gar nichts. Auf die grüne Kawasaki steigen und verschwinden. Nur das will sie. Nicht zurückschauen.

Eine Straßenmaschine. Wie neu. Wahrscheinlich ist nie damit gefahren worden, wahrscheinlich wollte er sich jung fühlen und wild. Der tote Alfred. Damals. Lange her, nicht mehr wichtig, nicht nachdenken, keine Fragen stellen, das Motorrad einfach starten, Ingmar noch einmal umarmen und Gas geben. Und doch zögert sie. Zu lange bleibt sie in dieser Umarmung, zu zart liegen ihre Arme auf seinem Rücken. Zu nah ist sie ihm. Und er ihr. Ingmar und Blum in der Garage des Solveig. Zwei verlorene Seelen, Abschied, der traurig macht. Warum, das weiß sie nicht, sie kann es nicht erklären, sie versteht es nicht. Dass sie sich nicht umdrehen kann, sich nicht abwenden kann von ihm. Ein Verbündeter, den sie nicht zurücklassen will. So sagt es die Stimme in ihr. Er hat dir geholfen, Blum. Er würde alles für dich tun. Frag ihn. Er wird nicht Nein sagen, er wird für dich da sein. Kurz zögert sie noch, dann flüstert sie es. Ohne sich von ihm zu lösen, ohne ihn anzusehen, da ist nur dieser Wunsch nach Geborgenheit, da ist die Angst, die immer noch laut ist in ihr, da sind die leisen Zweifel, die sie erstickt. Blum und Ingmar vertraut. Kurz bevor sie gemeinsam aus dem Solveig verschwinden.

– Wenn ich dich fragen würde, ob du mitkommst.

– Würde ich Ja sagen.

– Du weißt, dass du das nicht musst.

– Ja.

– Ich muss zu meinen Kindern.

– Deshalb werde ich auch nicht Nein sagen.

– Es könnte aber sein, dass das alles nicht gut ausgeht.

– Das ist mir egal.

– Es könnte auch für dich unangenehm werden, wenn du mitkommst. Noch weiß niemand, dass du mir geholfen hast. Vielleicht sollte es auch dabei bleiben.

– Ich habe gesagt, dass ich dir helfen werde.

– Du hast schon genug geholfen.

– Ich bin für dich da, Blum.

– Wenn sie mich erwischen, sperren sie auch dich ein.

– Sie werden uns nicht erwischen.

– Werden sie nicht?

– Nein.

– Und meine Kinder?

– Du wirst sie wiedersehen. Bald.

– Und dann?

– Wirst du mit ihnen weiterleben. Du wirst einfach neu anfangen. Ganz von vorne.

– Du glaubst daran?

– Ja.

– Warum?

– Weil du alles bist, was ich noch habe. Und ich es nicht zulassen werde, dass dir etwas passiert. Dass sie dich einsperren. Nicht noch einmal.

– Danke, Ingmar.

– Ich danke dir, Blum.

– Wofür?

– Dass du mich umarmst.

– Es tut mir wirklich sehr leid, Ingmar.

– Es muss dir nicht leidtun.

– Ich dachte, du willst mich umbringen. Ich habe es wirklich geglaubt. Dass du es warst. Ich war mir so sicher.

– Wir vergessen das einfach. Wir steigen jetzt einfach in einen der Wagen und fahren los. Alles wird gut, Blum.

– Noch nicht.

– Was ist los?

– Kurz noch diese Umarmung bitte.

Nur stillstehen. Nichts entscheiden. Nur diese Geborgenheit spüren, ein bisschen länger noch. Bevor sie sich wieder auf das Streitross setzt und in den Kampf reitet. Nur sein Hals, seine Haut, die sie riechen kann, seine Stimme, die sie hört. Wie er sie beruhigt. So wie Mark es immer getan hat. Egal wie schwierig es war, wie aussichtslos, seine Stimme hat es immer gutgemacht. Drei Worte, die ihr immer das Gefühl gegeben haben, dass es ein Morgen geben würde. Auch jetzt wieder. Alles wird gut. Hoffnung keimt wieder auf. Wo Hass war, ist es jetzt warm. Ganz nah bei ihm, angeschmiegt an seine Brust. Wie ein Kind, das beschützt werden will. Der Sohn des Hauses, der bereit ist, alles für sie zu riskieren, alles für sie aufzugeben, das Hotel, alles, was er erbt, weil er der Einzige ist, der übrig ist. Da ist niemand mehr außer ihm, seine Familie ist ausgelöscht. Solveig, Björk, Alfred, alle sind tot, nur er ist noch da. Alleinerbe, Millionär, ein reicher Mann, der nichts hat. Keine Liebe, keine Nähe, niemanden, der ihn hält. Genauso wie sie. Allein miteinander, Ingmar und Blum.

Langsam lösen sie sich voneinander und machen den nächsten Schritt. Weg von dem Motorrad, hin zu einem großen, modernen weißen Campingbus. Wir nehmen den hier, sagt Ingmar und zieht sie mit sich durch die Tür ins Innere des Wagens. Ein Paradies auf vier Rädern, alles, was man sich wünschen kann, Luxus, wo man hinschaut, ein weiteres Spielzeug aus Alfreds Sammlung. Ein monströses Fahrzeug, fast ein LKW, ein Wohnzimmer mit integrierter Designerküche, ein Doppelbett, Kinderbetten, das perfekte Versteck für eine gesuchte Mörderin und ihre Kinder. Ein neues Zuhause, in dem sich Blum niederlässt. Ingmar setzt sich hinter das Steuer und fährt los. Sie lassen das Hotel Solveig hinter sich. Wie es einfach verschwindet.

Totenhaus
cover.html
978-3-641-15572-8.html
978-3-641-15572-8-1.html
978-3-641-15572-8-2.html
978-3-641-15572-8-3.html
978-3-641-15572-8-4.html
978-3-641-15572-8-5.html
978-3-641-15572-8-6.html
978-3-641-15572-8-7.html
978-3-641-15572-8-8.html
978-3-641-15572-8-9.html
978-3-641-15572-8-10.html
978-3-641-15572-8-11.html
978-3-641-15572-8-12.html
978-3-641-15572-8-13.html
978-3-641-15572-8-14.html
978-3-641-15572-8-15.html
978-3-641-15572-8-16.html
978-3-641-15572-8-17.html
978-3-641-15572-8-18.html
978-3-641-15572-8-19.html
978-3-641-15572-8-20.html
978-3-641-15572-8-21.html
978-3-641-15572-8-22.html
978-3-641-15572-8-23.html
978-3-641-15572-8-24.html
978-3-641-15572-8-25.html
978-3-641-15572-8-26.html
978-3-641-15572-8-27.html
978-3-641-15572-8-28.html
978-3-641-15572-8-29.html
978-3-641-15572-8-30.html
978-3-641-15572-8-31.html
978-3-641-15572-8-32.html
978-3-641-15572-8-33.html
978-3-641-15572-8-34.html
978-3-641-15572-8-35.html
978-3-641-15572-8-36.html
978-3-641-15572-8-37.html
978-3-641-15572-8-38.html
978-3-641-15572-8-39.html
978-3-641-15572-8-40.html
978-3-641-15572-8-41.html
978-3-641-15572-8-42.html
978-3-641-15572-8-43.html
978-3-641-15572-8-44.html
978-3-641-15572-8-45.html
978-3-641-15572-8-46.html
978-3-641-15572-8-47.html
978-3-641-15572-8-48.html
978-3-641-15572-8-49.html
978-3-641-15572-8-50.html
978-3-641-15572-8-51.html
978-3-641-15572-8-52.html
978-3-641-15572-8-53.html
978-3-641-15572-8-54.html
978-3-641-15572-8-55.html
978-3-641-15572-8-56.html
978-3-641-15572-8-57.html
978-3-641-15572-8-58.html
978-3-641-15572-8-59.html
978-3-641-15572-8-60.html
978-3-641-15572-8-61.html
978-3-641-15572-8-62.html
978-3-641-15572-8-63.html
978-3-641-15572-8-64.html
978-3-641-15572-8-65.html
978-3-641-15572-8-66.html
978-3-641-15572-8-67.html
978-3-641-15572-8-68.html
978-3-641-15572-8-69.html
978-3-641-15572-8-70.html
978-3-641-15572-8-71.html
978-3-641-15572-8-72.html
978-3-641-15572-8-73.html
978-3-641-15572-8-74.html
978-3-641-15572-8-75.html
978-3-641-15572-8-76.html
978-3-641-15572-8-77.html
978-3-641-15572-8-78.html
978-3-641-15572-8-79.html
978-3-641-15572-8-80.html
978-3-641-15572-8-81.html
978-3-641-15572-8-82.html
978-3-641-15572-8-83.html
978-3-641-15572-8-84.html
978-3-641-15572-8-85.html
978-3-641-15572-8-86.html
978-3-641-15572-8-87.html
978-3-641-15572-8-88.html
978-3-641-15572-8-89.html
978-3-641-15572-8-90.html
978-3-641-15572-8-91.html