Komplikation?
„Organspende schenkt Leben“
(Aus einer Broschüre der BZgA)
»Es tut gar nicht weh, Mama«, versuchte Kathi ihre Mutter zu trösten, die standhaft gegen ihre Tränen kämpfte.
Gab es Schlimmeres, als das eigene Kind zu verlieren? Seit zwei Jahren wehrte sich der Körper des Mädchens mithilfe aller erdenklichen medizinischen Mittel gegen den Tod. Er hatte den Kampf verloren. Bis ins europäische Ausland hatte man nach einem Spenderherz gesucht, aber es schienen nur Menschen zu sterben, deren Werte nicht mit denen von Kathi übereinstimmten.
Die Ärzte gingen zu palliativen Maßnahmen über und verwiesen Frau Wimmer an einen Psychologen, der ihr helfen sollte, mit der Situation fertig zu werden. Man hatte ihr außerdem nahegelegt, ihrerseits über eine mögliche Organspende nachzudenken. Schließlich befanden sich die meisten Organe ihrer Tochter in einem guten Zustand und konnten Leben retten, wenn man sie verpflanzte. Sie sprach mit Kathi darüber. Das Kind schien mit seinem bevorstehenden Ableben erstaunlich gut umgehen zu können und legte einen Fatalismus an den Tag, der alle Beteiligten verwunderte.
»Das ist eine gute Idee Mama«, hatte sie gesagt. »Ich brauche die Organe ja nicht mehr, wenn ich tot bin.«
Schweren Herzens, den Wunsch ihrer Tochter respektierend, hatte sie die nötigen Formulare ausgefüllt und einer Organentnahme zugestimmt. Sie verfluchte den angeborenen Herzfehler ihrer Tochter; er war erblich, hatte ihr erst den Ehemann genommen und nahm ihr jetzt das Kind.
Mir wäre lieber, ich würde … Frau Wimmer saß zusammengesunken am Bett ihres Kindes und nichts hatte sie in den letzten drei Tagen bewegen können, diesen Platz zu verlassen. Sie schlief sitzend einen oberflächlichen Schlaf, wenn Kathi schlief. Die Schwestern hatten sie kurzerhand auf die Verpflegungsliste gesetzt, als sie merkten, dass sie ihre Tochter nicht alleine lassen würde.
»Mama …« Die leise Stimme von Kathi riss sie aus ihren düsteren Betrachtungen.
»Ja Schatz, ich bin hier.«
»Mama, ich glaube, ich muss jetzt gehen.«
Frau Wimmer griff nach der Notklingel und presste ihren Daumen auf den Knopf.
*
Um 0:31 Uhr stellte der Stationsarzt den Tod des Mädchens fest und rief einen Kollegen aus der Nachtbereitschaft, um eine zweite Bestätigung zu erhalten.
***
Ein schmerzhaftes Ziehen war das Erste, das Andrian Grether registrierte. Ich lebe noch, stellte er fest, sonst könnte ich nicht fühlen.
Allerdings war bis jetzt noch niemand zurückgekommen, um zu berichten, ob man nach dem Tod Schmerzen empfinden konnte. Sollte der Mensch eine Seele haben, war es vorstellbar, dass sie Gefühle empfand. Woher kamen Phrasen wie ›Das tut mir in der Seele weh‹, wenn nicht aus einem Kollektivwissen der Menschheit über solche Dinge?
Er unterbrach seine philosophischen Betrachtungen über das Sterben und seine Folgen und widmete sich dem Prozess des Erwachens. Die Umgebungsgeräusche verrieten ihm, dass er sich auf der Intensivstation befinden musste. Den Schmerz lokalisierte er im Rückenbereich und stufte ihn als erträglich ein. Andrian schlug die Augen auf. Er hatte sich nicht getäuscht. Um ihn standen medizinische Geräte, die er nicht alle zweifelsfrei zuordnen konnte. Vorsichtig erkundete er seine Muskeln und Knochen – alles schien an seinem Platz zu sein. Jetzt galt es herauszufinden, ob sich das Ersatzteil an seinem neuen Platz befand. Er suchte den Drücker für die Notklingel, entdeckte ihn neben seiner rechten Hand liegend und betätigte ihn.
*
»Ah, Herr Grether, Sie sind wach. Schön! Ich werde gleich den Doktor rufen, damit er nach Ihnen sehen kann«, begrüßte ihn der Pfleger und verließ nach einem kurzen Blick auf die Monitore den Raum.
Das gleichmäßige Piepen des Herzmonitors und die rhythmischen Zischgeräusche eines Beatmungsgeräts, die vom Nachbarbett her erklangen, wirkten einschläfernd. Andrian sank in einen oberflächlichen Schlummerzustand.
*
Es ist dunkel. Wo bin ich? Mama?
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Eine Berührung am Handgelenk beförderte ihn zurück an die Oberfläche der Realität.
»Wie fühlen Sie sich?« Die Stimme des Arztes klang weich und leise.
»Ich könnte Bonsais ausreißen und Regenwürmer erwürgen«, gab Andrian Auskunft und wunderte sich über die knarrenden Töne, die seine Stimmbänder produzierten.
»Die Operation war erfolgreich. Ihre neue Niere sitzt dort, wo sie hingehört und alle Werte sind im grünen Bereich«, erklärte Doktor Schwarz unaufgefordert und lächelte breit.
»Ich kann Ihnen versichern, dass mich das ausgesprochen fröhlich stimmt«, kommentierte Andrian diese Auskunft und lächelte zurück.
Endlich!, dachte er. Endlich muss ich nicht mehr alle paar Tage zur Dialyse. Endlich kann ich mit den dreckigen kleinen Gören länger Spaß haben als nur wenige Stunden. Sein Lächeln verstärkte sich.
»Freut mich, dass Sie so gut gelaunt sind, Herr Grether. Das beschleunigt erfahrungsgemäß den Heilungsverlauf.« Der Arzt verfiel der irrigen Annahme, seine gute Nachricht sei für den positiven Gemütszustand seines Patienten verantwortlich und ließ sich von dessen Laune anstecken. »Ich nehme Ihnen gleich noch Blut fürs Labor ab, anschließend können Sie weiterschlafen. Schlaf fördert die Genesung ebenso wie gute Laune.« Dr. Schwarz lachte leise.
»Würden Sie zum Blut abnehmen bitte eine Butterflynadel verwenden?«, fragte Andrian. Sein linkes Augenlid zuckte. Er hatte Angst vor Spritzen. Zumindest, wenn sie in seinen Körper eindrangen.
Der Arzt erfüllte den Wunsch. Andrian ertrug das Prozedere und schlief nach dessen Beendigung übergangslos ein.
*
In seinem Traum kamen Nadeln vor. Lange, dicke Injektionskanülen, die seine Hand langsam und genüsslich in nackte, gefesselte, wimmernde und zuckende Mädchenleiber steckte. Die immer gleiche Handlung: Kanüle aus der Großpackung nehmen, Schutzfolie entfernen, die Spitze in die Haut stechen und bis zum Anschlag hineindrücken.
Man konnte wundervolle Bilder damit zaubern. Sein Lieblingsmotiv waren große Sterne rund um die Brustwarzen herum und ein springender Delfin über den gesamten Bauch, dessen Schwanzflosse im Schambereich endete. Er hatte seine Technik mit der Zeit perfektioniert. Je nach dem, in welchem Winkel er die Nadeln setzte, zeigten die unterschiedlichen Farben der Enden verschiedene Effekte. Die undankbaren Weiber wussten nicht zu schätzen, was für exquisite Kunstwerke er auf ihren Körpern erschuf. Sie jammerten und bettelten – zumindest so lange, bis er ihnen den Mund mit zehn oder zwölf Kanülen verschloss und mit einigen gezielten Stichen ihren Kehlkopf stilllegte.
*
Als Andrian erwachte, lächelte er. Der Grund für dieses Lächeln, das der Umgebung das Bild eines gutmütigen Buddha vermittelte, war die Tatsache, dass er mit sich und der Welt zufrieden war. Diese Zufriedenheit entsprang der Erkenntnis, ein großer – wenn auch von der Presse und der Öffentlichkeit verkannter – Künstler zu sein.
*
Wo ist hier? Was mache ich hier? Ich glaube, ich tue Gutes. Das ist schön. Da draußen ist etwas Böses. Ich habe Angst. Ich spüre, dass mich dieses Böse braucht.
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War das schön, endlich Daheim zu sein! Andrian inspizierte die Räumlichkeiten seines kleinen, abseits der Straße stehenden Hauses. Er fand alles vor, wie er es verlassen hatte, was ihn nicht sonderlich verwunderte, da die schweren Schlösser und die Alarmanlage nicht leicht zu überwinden waren.
Als er den Keller betrat, fühlte er sein Herz aufgeregt pochen. In der Werkstatt, die mit vielfältigen Werkzeugen zur Holz- und Metallbearbeitung ausstaffiert war, schob er ein Regal zur Seite. Dahinter empfing ihn der Geruch von Reinigungsmitteln.
Andrian knipste das Licht an. Die Neonröhren sprangen an und ihre Strahlen wurden von zahlreichen schimmernden Edelstahloberflächen reflektiert. In der Mitte des Raumes prangte ein Seziertisch. Er ging darauf zu, streichelte die Liegefläche zärtlich mit den Fingerspitzen und stieß ein zufriedenes Seufzen aus.
Bald, sehr bald, würde er ihn wieder benutzen.
Da fiel ihm ein, dass er in nächster Zeit ein neues Jagdgebiet brauchte. Bisher lernte er die Mädchen bei seinen häufigen Aufenthalten im Krankenhaus kennen. Andrian schätzte sich als flexibel ein – er würde eine andere Möglichkeit finden, an brauchbares Material zu kommen.
*
Noch immer kann ich nicht ergründen, wo ich bin. Ich bin hier – innen – bin mit dem Außen verschmolzen. Ich reinige es. Alles Ungesunde und Überflüssige entferne ich und leite es weiter. Das gefällt mir.
*
Am nächsten Morgen fuhr Andrian die gewohnte Strecke nach München und mietete sich in einer Pension ein. Abends suchte er eine Apotheke auf und kaufte jeweils eine Großpackung Injektionsnadeln der Größe 0,7 x 32 in Schwarz, 0,6 x 30 in Dunkelblau, 0,8 x 40 in Dunkelgrün und 0,3 x 22 in Gelb, die er bar bezahlte. Von allen anderen Farben besaß er noch genügend. Den Rest der Nacht verbrachte er damit, in lustvoller Vorfreude Vorlagen für neue Bilder zu zeichnen.
Auf der Heimfahrt verspürte er ein störendes Pochen in der Nierengegend, das ihm bereits häufiger aufgefallen war und das Doktor Schwarz als normale Heilungserscheinung deklariert hatte. Und dennoch konnte sich Andrian eines unangenehmen Gefühls nicht erwehren. Er spürte, dass die neue Niere etwas machte.
»Natürlich macht sie etwas«, hatte der Doktor gesagt und dabei gelacht. »Sie reinigt Ihren Körper, und das soll sie auch.«
Doch das hatte Andrian nicht gemeint. Er fühlte, dass in ihm ein Vorgang seinen Lauf nahm, der ihm nicht gefiel.
Fünf Kilometer vor seinem Zuhause bog er in den Parkplatz eines Supermarktes ein, stellte den Wagen an einer ruhigen Stelle ab und versorgte sich mit dem Notwendigsten: Tiefkühlpizza, Toilettenpapier, drei Flaschen Cola und Rasierwasser. Während er auf dem Weg zum Auto noch grübelte, ob er nicht etwas vergessen hatte, fiel ihm ein kleines Mädchen auf, das neben einer der elektrischen Schaukelfiguren stand und weinte. Die Figur erinnerte entfernt an ein Pferd und schien aus einer Zeichentrickserie zu stammen. Er setzte sein schönstes Netter-Onkel-Lächeln auf und ging auf das Kind zu.
»Warum weinst du denn?«, fragte er sanft.
Das Kind trug ein verwaschenes rosa Oberteil und ein farblich passendes Röckchen mit ›Hello Kitty‹-Motiven. Die blonden Haare trug es zu Zöpfen geflochten und die blauen Augen wirkten riesig hinter einer stabilen Brille.
»Meine Mama hat gesagt, dass ich hier schaukeln darf, bis sie wieder da ist. Und jetzt ist das Geld alle und Mama ist noch immer da drin«, stieß das Kind atemlos hervor und deutete auf den Eingang des Marktes.
Andrians Herz setzte einen Schlag aus und pochte dann eine Geschwindigkeitsstufe höher weiter.
»Ich habe ganz viele Fünfzig-Cent-Stücke zu Hause«, sagte er. Seine Stimme vibrierte vor Erregung. »Wir können hinfahren und sie holen. Es ist nicht weit.«
Das Mädchen – es mochte sechs Jahre alt sein – sah zweifelnd zu ihm auf. Dann nickte es. Konnte es wirklich so einfach sein? Beinahe hätte er sie darauf aufmerksam gemacht, dass ihre Mutter sie vermissen würde, wenn sie aus dem Laden käme, so perplex war er.
»Na dann komm«, sagte er stattdessen und lächelte. »Damit wir zurück sind, bevor jemand anders mit deinem Pferdchen schaukelt.«
»Das ist ein Einhorn«, erklärte sie stolz, während er sie bei der Hand nahm und zum Wagen führte.
In seinem Bauch regierte ein Gefühl tiefer Verwunderung. In seinen kühnsten Fantasien wäre ihm nicht eingefallen, dass es dermaßen leicht sein könnte, an eine neue Leinwand für ein Kunstwerk zu kommen.
»Wie heißt du denn?«, fragte er.
Seltsam, er hatte noch nie zuvor ein Mädchen nach dem Namen gefragt. Die Namen der kleinen … schmutzigen … Schlampen … Sein Denken stockte. Es erschien ihm plötzlich nicht richtig, diese Worte zu denken.
»Ich bin die Magdalena.«
Unterdessen hielt ihr Andrian die Autotür auf und beobachtete, wie sie einstieg. Ihr Röckchen rutschte hoch und sein Blick huschte zwischen der weißen Haut ihrer Schenkel und der Plastiktüte mit den Großpackungen Kanülen auf der Rücksitzbank hin und her.
*
Ich erinnere mich. Ich bin gestorben. Mein Tod war nicht umsonst, ich habe meine Organe verschenkt. Wo meine Mama wohl ist?
Ich muss mich mehr anstrengen. Das Gift wehrt sich dagegen, von mir gereinigt zu werden. Es bekämpft mich. Ist nicht das Gute stärker als das Böse? Mehr anstrengen!
*
Magdalena zog den Sicherheitsgurt nach vorne und ließ das Schloss einrasten, während Andrian um den Wagen herumging. Er schlüpfte geschmeidig auf den Fahrersitz und startete den Motor.
»Hast du keine Sitzerhöhung? Mama sagt immer, dass es nicht gut ist, wenn Kinder ohne Sitzerhöhung fahren.«
»Es sind nur wenige hundert Meter. Das geht ohne«, bestimmte Andrian und zog einen Gefrierbeutel aus dem Seitenfach der Tür. Ein rascher Rundumblick – niemand befand sich in der Nähe.
Er öffnete den Zippverschluss. Ein süßlicher Geruch breitete sich im Wageninneren aus, als er den Leinenlappen herausnahm, Magdalena in die Haare griff und ihr mit der anderen Hand den Stoff auf den Mund presste. In ihm brodelte ein Cocktail sich widersprechender Gefühle. Der schnell erschlaffende Körper des Mädchens erregte ihn und bereitete ihm Schauer der Vorfreude. Gleichzeitig schien ihm der Vorgang seltsam absurd und abwegig. Sicher, sein Handeln war schmerzhaft für die Objekte und entbehrte nicht einer gewissen Grausamkeit – aber schließlich tat er es für seine Kunst. Eine Kunst, die er beherrschte. Als Einziger! Er war der Meister.
»Was soll daran absurd sein?«, sagte er leise zu sich, als er den Wagen vom Parkplatz steuerte und in den Verkehr einfädelte.
»Alles!«, antwortete eine leise, dünne Stimme aus seinem Inneren. »Alles!«
Ich vertrage die Medikamente nicht, stellte Andrian fest. Mein Gehirn macht Purzelbäume und meine Gefühle schlagen einen Salto nach dem anderen. Gut, dass ich gleich Qualitätszeit mit dem kleinen Luder verbringen kann.
Er legte Magdalena die Hand auf den Schenkel.
»Für dich habe ich eine schöne Vorlage mit Schwalben. Ich hoffe, du magst Schwalben«, flüsterte er und die aufwallende Geilheit zauberte blaue Schlieren vor seine Augen.
Die Erinnerung an das letzte Mal, als er Schwalben gezeichnet hatte, kroch aus einem Winkel seines Gedächtnisses. Nadel für Nadel hatte sich seine Erregung gesteigert, bis sie beim Einstechen der letzten Kanüle in einem gigantischen Orgasmus explodierte. Herrlich!
»Böse! Krank!«, flüsterte – kaum vernehmlich – die dünne Stimme.
*
Ich verliere mich. Ich kann nicht mehr. Es ist zu schwierig, so viel zu reinigen. »Konzentriere dich«, hat Mama immer gesagt, wenn ich eine Aufgabe nicht lösen konnte. Ich muss mich mehr konzentrieren! Ich darf nicht aufgeben! Ich spüre, dass es wichtig ist, was ich tue.
*
Das große Rolltor in der übermannshohen Buchsbaumhecke schloss sich sanft surrend, während Andrian den schlaffen Mädchenkörper aus dem Wagen nahm und ins Haus schaffte. Er trug sie direkt in den Keller, legte sie vor dem Regal auf den Boden und schob es zur Seite. Dann hob er Magdalena auf den Metalltisch und fixierte sie mit Paketband. Er nahm ihr die Brille ab und griff nach der Schere, um ihr die Kleidung vom Leib schneiden zu können.
Die Kanülen! Er hatte die Kanülen im Auto gelassen. Ohne sie konnte er nicht anfangen. Als er mit der Tüte zurückkehrte und die Geheimtür zuzog, war das Mädchen wach. Sie blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, aus denen ihm Angst entgegensprang. Nie zuvor war ihm Derartiges aufgefallen. Er hatte sich immer fest auf das zu schaffende Kunstwerk konzentriert, sodass kein Raum für empathische Ausflüge geblieben war. Magdalena verfolgte jeder seiner Bewegungen, soweit es das Klebeband, das ihren Kopf festhielt, zuließ. Sie sagte nichts, jammerte nicht, beobachtete ihn lediglich.
Seit Langem pflegte er die Angewohnheit, bei seiner Arbeit die Titelmelodie der Kinderserie ›Löwenzahn‹ vor sich hinzupfeifen. Er setzte an und stutzte nach wenigen Tönen. Das war falsch, die Tonfolge stimmte nicht. Andrian versuchte es einige Male, aber es wollte ihm nicht gelingen, die Melodie anzustimmen.
»Dann heute ohne Musik!«, beschloss er missgestimmt, streifte sich den OP-Kittel über und band die Gesichtsmaske über den Mund.
Anschließend stellte er die Kanülenbehälter an ihren angestammten Platz und klebte die handgezeichnete Vorlage mit den Schwalben neben dem Oberkörper des Kindes auf die Platte des Seziertisches. Sonst hatte ihm das Aufschneiden der Kleidung ein aufregendes Gefühl der Vorfreude beschert und seinen Schaffensdrang zu Höchstleistungen getrieben – heute fühlte es sich anders an. Als er die Schere an den Saum des Slips legte, stockte die Bewegung. Es schien nicht richtig zu sein. Andrian mutmaßte, dass seine künstlerische Inspiration diesmal einen anderen Weg gehen wollte. Sollte sie, kein Problem!
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Er nahm eine Nadel zur Hand und riss die Folie auf. Seine Hände zitterten. Nicht vor Erregung – eine unbekannte, aufwühlende Empfindung ergriff ihn. Andrian zwang sich zur Konzentration, suchte den Anfangspunkt am linken Rippenbogen, legte die Nadelspitze an die blasse Haut und … wollte zustechen, doch seine Muskeln weigerten sich, den Befehl auszuführen.
»Was zur Hölle …?«
Die Hand begann heftig zu vibrieren. Das Beben weitete sich auf seinen Unterarm aus und verstärkte sich. Die Nadel fiel auf Magdalenas Bauch. Er drehte sich um, riss sich den Mundschutz ab und übergab sich in den Mülleimer, bis sein Magen den letzten Rest seines Inhalts herausgepresst hatte. Von heftigen Zuckungen geschüttelt, zog er sich an der Kante einer Arbeitsplatte hoch. Ein gelber Faden aus Speichel und Erbrochenem rann ihm aus dem Mundwinkel. Er keuchte, hustete und würgte. In seinem Gesichtsfeld verschwammen die Konturen und Farben seiner Umgebung.
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Ja. So ist es besser. Eine anstrengende aber schöne Aufgabe, alles Schlechte und Böse auszufiltern und auszuscheiden. Ich bin stolz auf mich. Mama, du hattest Recht: Wenn man sich nur genügend anstrengt, kann man alles schaffen.
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Andrian schleppte sich zum Tisch. Mit zuckenden Fingern schnitt er das Paketband von Magdalenas Armen und Beinen. Dann stolperte er zur Regaltür und öffnete sie.
»Es war nur ein Spiel, du kannst nach Hause gehen«, stammelte er und sah zu, wie das Mädchen durch den Eingang flitzte und die Treppe hinauf verschwand. Als die Haustür knallend ins Schloss fiel, lehnte er sich an die Wand, ließ sich langsam zu Boden rutschen und schlang die Arme um die Knie. Lange saß er so, das Gehirn abgeschaltet, zu keiner Regung fähig.
Es ist vorbei, dachte er. Endgültig vorbei. Und daran ist diese Drecksniere schuld! Ich habe von Anfang an gespürt, dass damit was nicht stimmt.
Er stemmte sich hoch, schwankte zum Schrank mit den chirurgischen Werkzeugen und nahm das größte Skalpell heraus, das er besaß. Von weit her klang Sirenengeheul an sein Ohr. Andrian zweifelte keinen Moment daran, dass es ihm galt. Sie waren auf dem Weg, ihn zu holen. Hastig riss er sich den Arztkittel und das Shirt vom Leib.
»Dir werde ich es zeigen!«, rief er, umschloss den Griff des Skalpells mit der Faust und zog einen tiefen Schnitt parallel zur Operationsnarbe.