Sommergewitter
Jens saß im Schatten der schmalen, vermüllten Gasse in einem Hauseingang und wartete. Heute war einer dieser Tage, an denen es der Luft zu heiß war, um zu flirren. Kein Windhauch regte sich. Er blickte mit Unbehagen dorthin, wo sich die Gasse zur Hauptstraße öffnete. Dort knallte die Sonne auf die Häuser und Menschen herunter, als wäre das Wort ›unbarmherzig‹ für sie erfunden worden.
Ein Schmetterling flog an ihm vorbei. Jens sah ihm nach und bewunderte das Farbenspiel auf den Flügeln. Das Insekt flatterte auf die Zone gleißender Helligkeit zu und Jens erwartete, dass es bei Erreichen des Sonnenlichts mit einem Zischen verdampfen würde. Er wurde enttäuscht. Der Flattermann flog ungehindert weiter, als würde ihm die Hitze nichts anhaben können. Schmetterling müsste man sein, dachte er.
Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass er noch zehn Minuten zu warten hatte. Falls – ja falls – der Dealer pünktlich erscheinen würde.
Eine dumme Entscheidung, den Stoff auf der Straße zu kaufen. Doch wie konnte er die Chance, Daniela herumzukriegen, sausen lassen, als sie ihm verriet, dass sie für eine Tasse Kaffee alles tun würde? Seit Jahren war er scharf auf sie und hatte im Laufe der Zeit einige Körbe einstecken müssen. Alles! Sie hatte »Alles« gesagt! Und einen Teil von diesem »Alles« hatte sie gestern eingelöst, als sie sich hinreißen ließ, seiner Einladung zu folgen.
Seit vor vier Jahren die ›Ökologische Nationale Alternative‹ vom Großteil der unzufriedenen Bürger gewählt und an die Macht gekommen war, war nichts mehr wie zuvor. Als eine ihrer ersten Gesetzesänderungen stellten sie Drogenkonsum und -besitz unter hohe Strafen. Die nächste Maßnahme war das komplette Verbot von Alkohol. Bei der Verabschiedung der Prohibitionsverordnung kam es zu Massenprotesten, die mit militärischer Gewalt niedergeschlagen wurden. Hunderte Menschen landeten in Gefängnissen und Umerziehungslagern. Eine Unzahl von hauptamtlichen und nebenberuflichen “Informanten“ sorgte dafür, dass es genügend zum Umerziehen gab. Sechs Monate später erklärte man Koffein und Nikotin für illegal. Niemand demonstrierte mehr, der Widerstand verlagerte sich in den Untergrund.
Es hatte nicht lange gedauert und Jens konnte entsprechende Kontakte knüpfen. Nichts Großartiges, keine Großdealer, aber es reichte aus, um gelegentlich eine Flasche Wodka, ein paar Zigaretten oder ein Päckchen seines geliebten brasilianischen Kaffees zu ergattern. Alkohol zu trinken war relativ ungefährlich, weil man nur zu Hause bleiben musste, bis die Fahne verschwunden war. Bei Tabak oder Kaffee sah das anders aus. Speziell ausgebildete Teams mit auf Gerüche trainierten Suchhunden patrouillierten durch die Wohngebiete. Wer erwischt wurde, konnte vor einem Schnellgericht mit bis zu zehn Jahren Haft oder zu Lager auf unbestimmte Zeit verurteilt werden.
Jens wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Hand zitterte. Nicht nur die Angst wegen seines illegalen Tuns, sondern auch die Vorfreude auf Danielas schlanken, wohlgeformten Körper und ihre warmen, weichen Lippen begründeten seine Nervosität. Der zusammengeknüllte Fünfzig-Euro-Schein in seiner Faust war inzwischen von seinem Schweiß durchtränkt. Er strich ihn glatt und legte ihn neben sich. Sekunden später war die Banknote getrocknet. Er faltete sie sorgfältig und steckte sie in die Tasche seiner Jeans.
Ein dumpfes Grollen aus weiter Ferne kündigte das heraufziehende Gewitter an, auf das die Stadt seit Tagen sehnsüchtig wartete. Jens war froh, seinen Keller ausgebaut zu haben. Nicht nur, weil er dadurch im Sommer ein kühles Plätzchen hatte, sondern auch, weil es dort sicherer war, unerlaubten Genüssen zu frönen. Der Raum neben dem Heizungskeller war hermetisch abgeschlossen und rund um die Uhr reinigten mit Aktivkohle bestückte Filter die Luft von allen Gerüchen. Er hatte seinen Rückzugsort bequem eingerichtet und gelegentlich schlief er dort, wenn es ihm nach einer Flasche Wodka zu weit erschien, nach oben zu gehen. Heute würde der Raum zum ersten Mal als Liebeslaube dienen. Daniela – das Bild ihres nackten, sich wild unter ihm windenden Leibes geisterte durch sein Hirn und löste unmittelbar die dazugehörige körperliche Reaktion aus.
Ein Geräusch unterbrach seine erotischen Fantasien. Aus einem Eingang drei Häuser weiter, löste sich eine Gestalt. Der graue Staubmantel, der den massigen Mann trotz der Hitze einhüllte, ließ ihn im städtischen Grau beinahe unsichtbar werden. Jens beugte sich leicht nach vorne, um seine Erektion zu verstecken. Der Dicke ging direkt auf ihn zu und blieb vor ihm stehen.
»Ein ziemlich heißer Tag heute, nicht wahr? Können Sie mir sagen, wie ich zum Maximiliansplatz komme?«, sprach er die Erkennungsworte, die Jens mit dem Barkeeper im ›Saftladen‹ vereinbart hatte.
»Ich finde es gar nicht heiß«, antwortete er verabredungsgemäß. »Zum Maximiliansplatz gehen Sie da vorne links und dann die Dritte rechts, schon sind Sie da.«
Der Bote nickte zufrieden, öffnete seinen Mantel und kramte in der Innentasche. Er zauberte mit großer Geste einen Plastikbeutel hervor, der mit grünem Draht verschlossen war. Jens wunderte sich darüber, dass der Kerl trotz der Kleidung nicht zu schwitzen schien.
»Einhundertfünfzig Gramm, wie verabredet.«
»Ich hatte zweihundert bestellt, für fünfzig Euro!«
Der Mann beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte: »Ich muss auch von etwas leben, Sie verstehen?«
Er verstand. Es war eine äußerst dumme Idee gewesen, nicht bei seinem Stammdealer zu kaufen. Dieser hatte ihn wissen lassen, dass er sich die nächsten Tage nicht in der Stadt befinden würde und Jens gefragt, ob er Nachschub bräuchte. Er hatte verneint. Dass sich eine solche Gelegenheit bieten würde, hatte er nicht vorausahnen können. Jetzt den Empörten spielen und auf eine Liebesnacht mit dieser tollen Frau verzichten? Nein. Definitiv nicht!
»Ja, ich verstehe«, sagte er resignierend und nestelte das Geld aus der Hosentasche.
Das Kaffeepulver und der Schein wechselten den Besitzer. Zufrieden lächelnd zog der Dicke ab und ließ einen mit sich hadernden Kunden zurück.
Scheiße, verdammt! Um fünfzig Gramm beschissen! Ich hätte dem Kerl … Ach was soll's. Ich habe bekommen, was ich wollte und werde heute Abend bekommen, was ich will.
Er stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. Das Knacken seines linken Knies ignorierte er. Ein unwilliger Blick in Richtung der Hauptstraße. Die Sonne brannte nach wie vor in voller Kraft. Ob er warten sollte, bis das Gewitter losbrach, das sich inzwischen deutlich hörbar ankündigte? Nein, er hatte Vorbereitungen zu treffen, schließlich sollte sich Daniela wohlfühlen bei ihm. Daniela! Der Gedanke verursachte ein Kribbeln in seinen Lenden. Er steckte sich den Beutel in den Hosenbund, vergewisserte sich, dass das Hemd locker darüber fiel, und machte sich widerstrebend auf den Weg in die gleißende Helligkeit einer unter der Sommerglut stöhnenden Stadt. Er ging langsam. Einerseits, um nicht aufzufallen – jemand, der rannte, war verdächtig und eine Kontrolle wollte er nicht herausfordern – andererseits, weil es viel zu heiß war, um eine schnellere Gangart anzuschlagen. Trotz der schonenden Geschwindigkeit war er nass geschwitzt, als er zu Hause eintraf.
Dort begab sich Jens ohne Umwege in den Keller, entriegelte das Zahlenschloss an der Stahltür und betrat sein verstecktes Reich. Nirgends fühlte er sich so daheim wie hier. Das war sein Domizil, sein Rückzugsort aus einer vollkommen überwachten Öffentlichkeit. Er begann damit, Ordnung zu schaffen, fegte den Boden, wischte Tisch und Sitzgelegenheiten ab und bezog das Klappsofa mit einem frischen Überzug. Zufrieden betrachtete er sein Werk.
Die Türklingel schellte. Ein Blick zur Uhr verriet ihm, dass es fünfzig Minuten zu früh war für Daniela. Hatte sie solche Sehnsucht nach ihm? Oder nach dem Kaffee? Ihm war egal, wem oder was ihre Sehnsucht galt – das Ergebnis zählte. Jens ging die Treppe hinauf zur Haustür und öffnete.
Vor ihm standen zwei Männer in den Uniformen der Drogenpatrouille. Der Kleinere der beiden führte einen Schäferhund an einer kurzen Leine.
»Jens Wußmann?!« Es klang eher wie eine Feststellung als nach einer Frage.
»Ja, der bin ich. Was kann ich für Sie tun?«
Zwei Männer in Zivilkleidung, die neben der Tür gestanden haben mussten, traten in sein Blickfeld.
»Sie sind festgenommen!«
Was dann passierte, ging rasend schnell, und erschien ihm so irreal, dass sich sein Verstand weigerte, es zu erfassen. Er wurde gegen die Flurwand gestoßen, mit Hand- und Fußschellen gefesselt, durchsucht und zu Boden gedrückt. Die beiden Uniformträger stiegen zielsicher die Treppe hinunter und Sekunden später erklang der Ruf: »Alles klar! Wir sind hier richtig, eine richtige Drogenhöhle und Stoff gibt es auch!«
*
Jens' Denken befand sich noch immer außerhalb jeder Realität. Innerhalb einer Stunde war er ins Schnellgericht gefahren, zu sechs Jahren Haft verurteilt und – weiterhin in Handschellen – in den Keller des Gebäudes verfrachtet worden. Dort saß er und wartete. Worauf, wusste er selbst nicht. Draußen wütete das Sommergewitter. An einer der Wände befand sich direkt unter der Decke ein winziges Fenster. Es war mit einem Gitter gesichert und schepperte bei jedem Donnerschlag.
Ein Schlüssel klirrte, die Tür öffnete sich. Daniela trat ein. Er musste zugeben, dass ihr die Uniform ausgesprochen gut stand.