Zwei sind Eine zu viel
„Aus den Trümmern unserer Verzweiflung bauen wir unseren Charakter.“
(Ralph Waldo Emerson)
»So wird das heute nichts mit uns, Schätzchen.«
Tinas beißender Spott tat ihm körperlich weh. Was für ein Unterschied zu der sanften, verständnisvollen Vanessa! Hergen steckte in einer Zwickmühle, auf welche die Bezeichnung ›Quetschmühle‹ wesentlich besser gepasst hätte.
Er liebte sie beide. Auf verschiedene Art, jede von ihnen für ihre Vorzüge. Tina, das Klasseweib, mit den vollendeten Formen und dem sinnlichen Mund. Ihr Körper brachte ihn regelmäßig an den Rand des erotischen Wahnsinns, trieb ihn in Gefühlsuniversen, die er früher nicht zu erahnen gewagt hatte.
Leider war er mit siebenundfünfzig Jahren in einem Alter, in dem die Hardware nicht mehr bei jedem Einsatz den Grad an Härte erreichte, der notwendig war, um Tina befriedigen zu können. Und in solchen Momenten zeigte sich ihr wahres Wesen. Vor Sarkasmus triefende Ironie und schneidender Zynismus tropften wie ätzender Geifer von ihren herrlichen, vollen Lippen. Sie warf ihr schwarzes, schimmerndes Haar in den Nacken.
»Ich zieh mich besser mal an und fahr nach Hause.«
Er erwiderte nichts, um sie nicht noch mehr herauszufordern, aber sein Schweigen schien sie erst recht anzustacheln. Sie schlüpfte in die Träger ihres BHs und schloss mit lasziven Bewegungen die Häkchen.
»Heute Abend schicke ich dir den Link zu der Online-Apotheke, bei der es Viagra im Sonderangebot gibt. Wäre doch gelacht, wenn wir dein Schlappschwänzchen nicht zuverlässig zum Stehen bekommen«, spottete Tina.
Sie griff nach ihrer Bluse und ließ den Stoff spielerisch durch sein Gesicht gleiten, bevor sie hineinschlüpfte und sie zuknöpfte. Das sadistische Grinsen wollte nicht aus ihrem Gesicht weichen und störte die feinen Züge, wie das Dröhnen einer Sirene einen Sonntagmorgen. Auf eine abartige Weise erregte ihn ihre Ablehnung, und als sie sich mit einem Griff in seine Weichteile verabschiedete, konnte er ein wohliges Stöhnen nicht unterdrücken.
»Ruf mich an, wenn die kleinen blauen Freunde angekommen sind«, zwitscherte sie in das Geräusch der sich schließenden Tür.
Hergen schlich ins Bad und wusch sich das Gesicht. Als er sich sauber fühlte, sammelte er seine Sachen ein und verließ das Hotelzimmer. Er bezahlte unter den verdutzten Blicken der Angestellten die Rechnung und kehrte dem Hotel den Rücken. Die geplante Nacht war auf eineinhalb Stunden geschrumpft. Als er ins Auto stieg, überlegte er, was er Vanessa erzählen sollte. Er würde ihr irgendeine Geschichte auftischen und sie würde alles glauben.
Vanessa glaubte ihm immer, hatte für alles Verständnis und war für ihn da, wenn er sie brauchte. Freundlichkeit, Optimismus, Hilfsbereitschaft und unerschütterliche Treue kennzeichneten ihr Wesen. Sie beschwerte sich auch nie, wenn sein kleiner Hergen nicht funktionierte, wie er sollte. Ihrem Körper waren die fünfundvierzig Lenze deutlich anzusehen und eine Veranlagung zu schwachem Bindegewebe sorgte dafür, dass die Schwerkraft ihren Tribut nicht nur forderte, sondern auch bekam.
Sie hatte mit ihm zusammen den Gastronomiebetrieb aufgebaut, der inzwischen als einer der besten der Stadt galt. Die jahrelange Arbeit hatte sichtbare Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Hergen liebte Vanessa wie am ersten Tag. Er liebte sie mit derselben Intensität, mit der er Tina begehrte. Er wünschte, es gäbe eine Waage für Gefühle. Dieses Gerät wäre ihm eine große Hilfe gewesen, um herauszufinden, zu welcher der beiden Frauen er sich mehr hingezogen fühlte.
*
Vanessa hatte den Mercedes gehört und öffnete ihm die Haustür. Die Wärme und Geborgenheit, die ihm entgegenströmten, hüllten ihn wie ein warmer Mantel ein und wischten die negativen Gefühle beiseite.
Nachdem sich Hergen seine Lieblings-Jogginghose und ein T-Shirt übergestreift hatte, lümmelte er sich auf die Couch und zappte durch die Fernsehprogramme. Bei der Wiederholung eines älteren Krimis blieb er hängen. Vanessa schnappte sich ihr Kissen und setzte sich auf ihren Stammplatz zu seinen Füßen. Sie schlang den linken Arm um seine Waden und legte den Kopf auf seinen Oberschenkel. Diese Angewohnheit erzeugte ein tiefes Gefühl von Sicherheit. Er streichelte, wie immer, ihr aschblondes Haar, und während sich der Kommissar auf dem Bildschirm eine wilde Verfolgungsjagd mit einem Verbrecher lieferte, drehten sich seine Gedanken im Kreis.
Er würde sich entscheiden müssen. Aber für wen? Oder besser – gegen wen? Entschied er sich gegen Vanessa, würde sie daran zerbrechen. Trotz aller, in ihr wohnender Sanftmut, würde sie den Kampf um den Betrieb aufnehmen. Sein – nein, ihr – gemeinsames Lebenswerk stand auf dem Spiel.
Gab er Tina den Laufpass, konnte er sich gewiss sein, dass sie nicht weinend kapitulieren würde. Zimperlichkeit in der Wahl ihrer Mittel war keiner ihrer Charakterzüge, das war ihm klar. Sie würde ihn verraten, öffentlich demütigen, ihm die Hölle auf Erden bereiten. In einem Winkel seines Gehirns flüsterte eine leise Stimme ›Egoist!‹
Ja, das war er. Das musste er sein. Wenn er aus dieser Nummer nicht herauskam, ohne jemand anderen zu verletzen, wollte wenigstens er dieses Dilemma weitgehend unbeschadet überstehen.
Der Kommissar prügelte sich jetzt mit zwei düster aussehenden Kerlen und es wäre eine ungewöhnliche Folge des Filmes gewesen, wenn er nicht gesiegt hätte. Vanessa atmete gleichmäßig, sie war eingeschlafen. In Hergen reifte eine Entscheidung. Bevor er zu Bett ging, suchte er die Garage auf und lud alles, was er brauchte, in den Kofferraum.
*
Am nächsten Tag verließ er pünktlich zur Mittagszeit sein Büro, fuhr an den Stadtrand zu einer Telefonzelle und wählte mit zitternden Fingern die Nummer, die er auswendig kannte.
»Ich muss mit dir reden. Kannst du zum Waldparkplatz kommen? Du weißt schon, dort wo wir den Wagen abstellen, wenn wir ungestört spazieren gehen wollen.« Er wartete die Antwort nicht ab. Er war sich hundertprozentig sicher, dass sie erscheinen würde.
Sich wie ein Fahrschüler peinlich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen haltend, steuerte er den Wagen zu dem Ort, an dem sich alles entscheiden würde. Sein Verstand zog sich in ein Schneckenhaus zurück und überließ dem Instinkt das Ruder.
Am Rand der Lichtung, die den Parkplatz bildete, gab es einen überdachten, nach drei Seiten offenen Unterstand mit einem Grillplatz in der Mitte und einfachen Sitzgelegenheiten aus rohen Baumstämmen drum herum. Hergen nahm den mitgebrachten Klappspaten aus dem Kofferraum, deponierte ihn hinter dem Vorderrad des Mercedes und begann, langsam auf und ab zu gehen.
Sein Herz setzte einen Schlag aus und Atmen schien vorrübergehend unnötig geworden zu sein, als Motorengeräusch die Ruhe des Waldes durchbrach. Ihr roter Wagen erschien zwischen dem dichten Bewuchs aus Büschen und Bäumen. Der Kies unter den Reifen gab ein scharfes Knirschen von sich, als sie abbremste und, ohne den Motor abzustellen, ausstieg. »Was soll das Hergen, warum muss ich hierher kommen?«
»Lass uns dort drüben hinsetzen«, erwiderte er und machte eine einladende Geste in Richtung des Unterstands.
Sie sah ihm einen Moment lang starr ins Gesicht, dann wendete sie sich ab und machte einen Schritt in die vorgeschlagene Richtung. Er bückte sich, riss den Spaten unter dem Auto hervor, richtete sich auf und schlug, einen Satz nach vorn machend, zu. Durch das ungewöhnliche Geräusch überrascht, wirbelte sie herum, wodurch die Kante des Spatenblatts nicht wie geplant ihren Hinterkopf, sondern ihr Gesicht traf.
Die Stirn, die er so gerne geküsst hatte, wurde bis zur Nasenwurzel gespalten, Blut spritzte in sein Gesicht. Angeekelt ließ er den Griff los und sprang zurück. Bebend vor Angst, Abscheu und Triumph stieß er gegen die Wagentür. Er versuchte Halt zu finden, während sie ihn mit weit aufgerissen Augen anstarrte. Ein leises, grollendes Gurgeln drang an seine Ohren, von dem er nicht sagen konnte, ob es von ihm oder von ihr kam.
Begleitet von einem Blutschwall löste sich der Klappspaten aus der klaffenden Wunde und fiel scheppernd zu Boden. Sie brach in die Knie, kippte langsam nach vorne und landete auf ihrem Gesicht.
Eine gefühlte Ewigkeit später schaffte es Hergen, sich wieder kontrolliert zu bewegen. Er beugte sich hinunter und prüfte an der Halsschlagader den Puls. Sie war tot. So schnell er konnte, zerrte er den leblosen Körper hinter den Unterstand und begrub ihn dort. Anschließend beseitigte er sämtliche Blutspuren und packte den Spaten in eine Plastiktüte. Ihn würde er im nahegelegenen Stausee versenken.
Er gönnte sich zwei Minuten, um seinen Atem zu beruhigen und sein Denken auf eine annähernd gerade Linie zu bekommen. Dann fischte er sein Handy aus der Jackentasche und drückte die altbekannte Kurzwahltaste. Als würde sie neben ihm stehen, zog er unwillkürlich den Kopf leicht ein, als sie abhob.
»Hallo, ich hab' eine Überraschung für dich. Ich hab' Viagra bestellt.«