Nächster Halt …

„Beachte immer, dass nichts bleibt, wie es ist, und denke daran, dass die Natur immer wieder ihre Formen wechselt.“

(Marc Aurel)

Endlich war er frei. Ein jahrelanger Kampf lag hinter ihm. Endlose, sinnlose Gespräche mit Psychologen und Gutachtern, die schwer davon zu überzeugen waren, dass er sich geändert hatte.

Seine Einstellung zu gewissen Denkweisen hatte sich tatsächlich im Laufe der Zeit verändert. Mit seiner ausgeprägten Vorstellungskraft fiel es ihm nicht schwer, der Umwelt vorzugaukeln, er hätte an grundlegenden und für die Gesellschaft wichtigen Verhaltensalternativen gearbeitet.

Wichtig war im Moment nur die Freiheit. Er gönnte sich ein ausgedehntes Essen in einem feinen Lokal, schlenderte genüsslich durch die Stuttgarter Innenstadt und schaffte es gerade noch, den letzten Zug nach Heilbronn zu erreichen. Das Abteil war leer, bis auf einen Betrunkenen, der in der hintersten Sitzreihe lag und schlief. Ihm war das recht, so konnte er seinen Gedanken nachhängen und planen, wie die nächsten Tage aussehen sollten.

In Bietigheim-Bissingen stieg ein Mädchen in den Zug und setzte sich leicht schräg vor ihm ins Abteil. Hatte sie ihn angelächelt? Deutlich sah er ihr Spiegelbild in der Scheibe, während er so tat, als würde er in die Dunkelheit starren. Sie mochte achtzehn Jahre alt sein, mittelgroß und schlank. Ihre Beine steckten in schwarzen, knielangen Strümpfen und die Hotpants ließen eine großzügige Ansicht ihrer wohlgeformten Oberschenkel zu. Ihr Oberteil endete knapp über dem Bauchnabel, von wo aus ein silbernes Piercing blitzte. Die obersten beiden Knöpfe waren geöffnet und er hätte gewettet, dass sie keinen BH trug. Deutlich zeichneten sich die festen, kleinen Brüste unter dem Stoff ab. Wie nannte man das? Emostyle? Egal.

Sie nahm ihr Handy aus der Handtasche und tippte darauf herum. Das schien eine Lieblingsbeschäftigung der Teenager geworden zu sein. Überall hatte er das beobachten können. Was sie sich zu schreiben hatten, heutzutage?

Er bemerkte, dass ihr Telefon vibrierte. Sie sah kurz zu ihm herüber, als wolle sie ihn auffordern, zuzusehen, dann steckte sie das Gerät zwischen ihre Schenkel. Ihre Zunge glitt aus dem Mund und leckte über die Oberlippe, der Brustkorb hob sich deutlich und ihr leises, schnurrendes Stöhnen drang an sein Ohr.

Nächster Halt Besigheim. Ausstieg in Fahrtrichtung links.

Er öffnete die Lider. Sie machte keine Anstalten aufzustehen, was ihn ausnehmend zufriedenstellte. Sein Blick huschte über ihr Spiegelbild und blieb an ihren feingliedrigen Fingern hängen, die noch – oder wieder – über die Tastatur des Handys flogen. Der Zug fuhr an.

*

Der Mann erhob sich, überquerte den Durchgang und setzte sich neben sie. Sie sah zu ihm auf und ihre Pupillen verhakten sich ineinander. Ihre Augen leuchteten in einem strahlenden Blau und forderten ihn stumm auf, das zu tun, was er tun wollte. Er hob die Hand und strich ihr über das halblange, wild geschnittene, blonde Haar, das von schmalen blauen und rötlichen Strähnen durchzogen war. Seine Hand strich abwärts über ihren Hals und die Schulter. Die Linke fand den Bund ihres Strumpfes, zog ihn hoch und ließ ihn mit einem Schnalzen zurückschnellen. Ihre Lippen zuckten kurz, dann lächelte sie.

Nächster Halt Walheim. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.

Das Licht der kleinen Bahnstation verwischte das Spiegelbild und er vergewisserte sich mit einem Seitenblick, dass es noch keine Anzeichen gab, dass sie aussteigen wollte. Sie sah hinaus auf den Bahnsteig und in der schwachen Reflexion begegneten sich ihre Augen. Registrierte sie ihn? Unwichtig. Er sah sie. Der Zugbegleiter ließ schrill seine Trillerpfeife ertönen und die Regionalbahn setzte sich in Bewegung.

*

Ihr Lächeln sagte: »Tu mir weh!«

Er zog das Schnappmesser aus der Hosentasche und öffnete die übrigen Knöpfe ihres Tops. Sie trug tatsächlich keinen BH. Als er ihre Brust streichelte, sprangen ihm ihre Nippel entgegen. Seine Finger massierten einen und zogen ihn in die Länge. Das Klicken der aufspringenden Messerklinge ließ sie kurz schaudern, aber außer einem scharfen Zischen gab sie keinen Laut von sich, als er die Brustwarze mit einem schnellen Schnitt abtrennte. Blut spritzte an die Lehne des vorderen Sitzes und rann ihr in den Schoß.

Nächster Halt Kirchheim am Neckar. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.

Er erschrak. Beinahe wäre er eingeschlafen. Das Mädchen stand auf, zog ihre Kleidung zurecht, hängte sich ihr Täschchen über den Unterarm und ging zum Ausgang. Er folgte ihr.

***

Mit zitternden Knien stieg Sandy aus dem Zug. Ihre Gedanken jagten wild durcheinander. Im Gegensatz zu dem, was sie empfunden hatte, als sie Marcel Müller erkannte, war es jedoch beinahe ein Ruhezustand. Erst als sie ihn fotografiert und das Bild ihrer Schwester Carmen geschickt hatte, wurde es Gewissheit: Der Mann, der keine drei Meter von ihr entfernt saß, war jener, der ihre Mutter vor neun Jahren vergewaltigt und gequält hatte. Mama hatte den Überfall nie überwunden und sich elf Monate danach mit Schlaftabletten das Leben genommen. Die Schwestern waren bei einer Tante untergekommen, die gut für sie sorgte. Ihren Vater kannten die beiden nicht, und ohne Carmen, die drei Jahre älter war, wäre es für Sandy unmöglich gewesen, den Verlust der Mutter zu verwinden.

*

›Steig in Kirchheim aus, geh über den Parkplatz Richtung Betonwerk, alles andere erledige ich!‹, hatte Carmen geschrieben und Sandy vertraute ihr. Ihre große Schwester wusste immer, was zu tun war.

*

Deutlich waren die Schritte des Mannes hinter ihr zu hören, als sie den unbeleuchteten Parkplatz entlang ging. Lediglich ein schwarzer Kastenwagen stand kurz vor der Treppe, die zum Betonwerk hinunterführte. Dichtes Gebüsch, hinter dem das Ufer des Neckar lag, umsäumte die mit Kies bestreute Fläche. Die knirschenden Schritte kamen näher. Bevor sie den Transporter erreichte, verschmolz ihr schwacher Schatten mit seinem. Seine Hand legte sich schwer auf ihre Schulter. Sandy blieb stehen und drehte sich um. In ihr regierte jetzt eine seltsame Kälte.

»Guten Abend, Herr Müller.«

Der Angesprochene ließ sie los und trat einen halben Schritt zurück. »Kennen wir uns?«

Hinter ihm löste sich ein Schatten lautlos aus dem Gebüsch. Sandy bemühte sich, ihm ins Gesicht zu sehen, um ihn nicht zu warnen.

»Sag schon, woher kennst du mich, du kleine Nutte?«

Vor seinem Hals blitzte es auf. In der Messerklinge spiegelte sich der Mond, bevor sie sich senkte und einen tiefen Schnitt über seine Kehle zog. Er riss die Augen auf und versuchte sich umzudrehen, kippte bei dem Versuch aber nach links weg und ging zu Boden. Er röchelte. Blut strömte aus der klaffenden Wunde und seinem Mund. Sandy und Carmen sahen sich über den Sterbenden hinweg in die Augen. Carmen klappte das Messer zu und steckte es in die Tasche ihrer schwarzen Kapuzenjacke.

»Lass uns gehen.«