Blutleer

„Da draußen lauert ein Wolf, er will mein Blut. Wir müssen alle Wölfe töten!“

(Josef Stalin)

Ruth beugt sich vor, packt Christian an den Schultern und zieht seinen Oberkörper vom Rand der Badewanne. Der pulsierende Strom aus den Schnitten an den beiden Seiten des Halses hat sich zu einem Tröpfeln reduziert. Zufrieden begutachtet sie das Ergebnis und gibt fünfzig Gramm ›Polasol‹ – ein Antigerinnungsmittel, das Schlachter für Rinder- und Schweineblut verwenden – zu der rotbraunen Flüssigkeit, bevor sie beginnt, sie in große Plastikbehälter abzufüllen.

Das wird für die nächsten Tage reichen, ihren Bedarf zu befriedigen. Sie verschließt die Behälter und verstaut sie in der Gefriertruhe. Bis auf einen. Diesen nimmt sie mit in die Küche, verdünnt den Inhalt mit einem Drittel Wasser und befüllt die Kaffeemaschine damit. Frisch über einen Sumatra Mandheling schmeckt es am besten!

***

Selbstgezogene Tomaten aus dem eigenen Garten, dazu Frühlingszwiebeln und ein Essig-Öl-Dressing. Ruth freute sich auf diesen sommerlichen Genuss, während sie die grünen Stängel in gleichmäßige Stücke zerschnitt.

»Autsch!« Schnell steckte sie sich den Finger in den Mund. Das hatte wehgetan! Sie fluchte ausgiebig in sich hinein und betrachtete den abstehenden Hautfetzen an der Fingerkuppe. Blut rann am Zeigefinger herab und tropfte vom Fingerknöchel auf die Arbeitsfläche. Zwei Tropfen fanden ihren Weg in die halbvolle Kaffeetasse.

»Mist, verdammter! Und ich hab' wieder vergessen, Pflaster zu kaufen!« Ruth fummelte einhändig ein Papiertaschentuch aus der Packung, wickelte es sich um die Wunde und befestigte es mit Klebeband. Das würde gehen – vorläufig. Sie war kein Weichei und neigte nicht dazu, solche Lappalien überzubewerten. Vor Blut graute ihr nicht – vor allem nicht vor ihrem eigenen. Daher verschwendete sie keinen Gedanken an die beiden Blutstropfen, die in ihren Kaffee getropft waren, als sie die Tasse mit dem inzwischen lauwarmen Getränk an die Lippen hob.

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Es bereitet Ruth wenig Mühe, sich Christians schlaffen Körper über die Schulter zu werfen und ihn in die Garage zu tragen. Dort angekommen verstaut sie ihn im Kofferraum ihres Kombis, wirft eine Decke darüber und achtet sorgfältig darauf, dass von der Leiche nichts mehr zu sehen ist. Er hat seine Schuldigkeit getan, ihr seinen Lebenssaft gespendet, und auf eine seltsame Art ist sie ihm dankbar dafür. Reue oder ein schlechtes Gewissen kennt Ruth seit Jahren nicht mehr. Sie wird ihn heute Abend entsorgen, sobald es dunkel genug ist, um ungesehen über den Zaun der Mülldeponie zu klettern. Dann ist das Kapitel geschlossen. Es ist an der Zeit, sich um einen neuen Spender zu kümmern.

Es gelingt ihr ohne Schwierigkeiten, Männer kennenzulernen. Sie ist jung, sieht hervorragend aus und weiß um die Schlüsselsätze, mit denen sich Kerle mühelos einfangen lassen.

In Gedanken geht Ruth ihre Kandidatenliste durch. Da ist Heinz, der stramme Bodybuilder, den sie vor vier Tagen in einer Cocktailbar in der Innenstadt kennenlernte. Mit ihm könnte sie vorher ein wenig Spaß haben. Und Oliver, der blasse Beamte von der Zulassungsstelle, der so verblüfft war, als sie ihn vorgestern im Biergarten ansprach, dass ihm beinahe das Glas aus der Hand gefallen wäre. Männer sind einfach zu bekommen!

Bei Frauen ist es komplizierter, sogar wenn sie lesbisch sind. Sie scheinen die dunkle Absicht zu spüren oder die Tatsache, dass Ruth ihnen das sexuelle Interesse nur vorspielt.

Sie lächelt in sich hinein, als sie an Ivi denken muss, die Gothic-Lesbe – ihre erste und bisher einzige Frau. Sie war ihr im Park begegnet und hatte ihre Nimm-mich-jetzt-und-hier-Ausstrahlung wie ein großes, beleuchtetes Schild vor sich hergetragen. Ein Lächeln genügte und eine Stunde später saß Ivi in Ruths Wohnzimmer und trank brav ihren Orangensaft mit Sekt und Sonderzutat. Aber Ivi war eine Enttäuschung gewesen. Sie hatte das Schlafmittel nicht vertragen und kippte, mit einem dümmlichen Grinsen im Gesicht um. Tot. Die Ausbeute an Lebenssaft war lächerlich gering gewesen – nach einem halben Liter hörte der Blutfluss auf. Das Grinsen schien in die Züge der Lesbe graviert zu sein. Selbst als Ruth den schlaffen Körper in das Loch auf der Deponie warf, blitzten Ivis Vorderzähne in die kalte Nachtluft.

Seitdem achtete Ruth darauf, dass die Dosis individuell angepasst war. Das Opfer durfte nur bewusstlos sein, damit das Herz weiterschlug und das Blut aus den geöffneten Adern pumpte.

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Es schmeckte … anders … besser … viel besser! Der Muntermacher durchströmte Mund und Hals mit einem sanften Prickeln, hinterließ ein warmes Gefühl, das sich im Magen noch steigerte und sich von dort aus in ihren gesamten Körper ergoss. Sie trank viel Kaffee und schätzte seine belebende Wirkung, doch eine derartige Explosion von Wohlbefinden war ihr neu.

»Wow!«

Sie legte die Tasse schräg und betrachtete den Rest der braunen Flüssigkeit. Sie roch daran, stellte aber weder am Aussehen noch am Geruch etwas Außergewöhnliches fest. Eine Erinnerung kitzelte ihr Gehirn. Das Blut – konnte es wirklich daran liegen? Quatsch! Sie hatte schon oft ihr eigenes Blut im Mund geschmeckt und nie hatte es annähernd dieses Resultat gehabt. Genau genommen hatte es keinerlei Resultat gehabt.

Es war der gleiche Kaffee wie heute Morgen, der gleiche Zucker und das gleiche Wasser aus derselben Leitung.

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Ruth kehrt in ihr Badezimmer zurück und beginnt sauber zu machen. Routiniert putzt sie die Badewanne und den Fußboden mit bleichmittelhaltigem Reiniger, achtet peinlich darauf, keine Ritzen und Fugen zu übersehen und wirft die Putzlappen und Schwämme anschließend in eine Tüte. Diese wird sie zusammen mit dem ausgebluteten Körper entsorgen. Alles, was sie verwendet, ist Massenware, wie es sie millionenfach zu kaufen gibt. Falls man ihre Hinterlassenschaften eines Tages finden sollte, wird nichts davon Rückschlüsse auf sie zulassen.

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Lange grübelte Ruth darüber nach, wie zwei kleine Tropfen Blut, gemischt mit Kaffee, eine derartige Wirkung erzielen konnten. Es musste an dieser Kombination liegen. Eine andere Möglichkeit kam nicht in Betracht, wenn man unwahrscheinliche Lösungsansätze, die in den Bereich der Esoterik gehörten, wegließ. Sie beschloss, am nächsten Morgen zu überprüfen, ob der Vorgang wiederholbar war, und setzte sich, mit diesem Entschluss zufrieden, an ihren Computer, um zu arbeiten. Als sie das nächste Mal auf die Uhr sah, war es vier Uhr dreißig und sie hatte die Arbeit von eineinhalb Tagen erledigt. In dieser Nacht schlief Ruth nicht.

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Die Tagesthemen sind langweilig und nichtssagend, wie gewöhnlich. Es ist ausreichend dunkel geworden draußen. Ruth schaltet den Fernseher aus und zieht sich um. Sie ist nun völlig schwarz gekleidet und damit in der Nacht beinahe unsichtbar. An ihren linken Unterarm schnallt sie die Scheide mit dem Stilett für Notfälle, das sie noch nie benutzen musste. Es gibt ihr Sicherheit, zu wissen, dass sie sich verteidigen könnte, wenn es nötig werden sollte. Sie vergewissert sich, dass alle Taschen leer sind, bindet die Schuhbänder doppelt und kramt ihre Autoschlüssel aus der Handtasche. Das Beseitigen der Überreste ist der unangenehmste Teil ihrer Nahrungsbeschaffung. Das Suchen und Finden der Spender ist aufregend und der Moment, in dem es sich entscheidet, ob der Auserkorene auf ihr Angebot, mitzukommen, eingeht, ist ein spannendes Erlebnis. Die Minuten bis das Schlafmittel im Getränk wirkt, sind angefüllt mit kribbelnder Nervosität, und der Augenblick, in dem sie endlich die Längsschnitte an den Halsschlagadern setzen darf, hat etwas Orgastisches.

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Am nächsten Tag bemerkte Ruth beim Frühstück überrascht, dass der Schnitt an ihrem Finger bis auf eine kleine rosafarbene Narbe verschwunden war. Sie hatte die ganze Nacht durchgearbeitet und erst jetzt schlichen sich erste Ermüdungserscheinungen ein. Wenn sie den Vorgang von gestern wiederholen könnte?

Keine Frage, einen Versuch war es wert. Sie befüllte die Kaffeemaschine und wartete ungeduldig, bis die braune Flüssigkeit die Kanne füllte. Anschließend goss sie ihre Lieblingstasse voll und stellte sie vor sich auf den Tisch. Ruth entnahm ihrem Nähzeug eine große Nadel, stach sich schwungvoll in den Zeigefinger und drückte einige Tropfen Blut in die Tasse. Sanft schillernde Schlieren bildeten sich und es sah aus, als würden die beiden Flüssigkeiten in spiralförmigen Tanzfiguren verschmelzen. Sie trank. Die aufwühlende Wärme, die ihren Körper ergriff, ähnelte dem Gefühl vom ersten Mal, doch dieses erfüllende Wohlbefinden – dieses jede Zelle kitzelnde Phänomen – fehlte. Erst als sie sich einen weiteren Stich beibrachte und mehr von ihrem Blut in die Tasse tropfen ließ, wurde das Erlebnis annähernd vollkommen wie bei der Premiere.

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Bevor Ruth das Garagentor öffnet, überprüft sie, ob der Körper im Kofferraum des Kombis vollständig abgedeckt ist und ob der Klappspaten an seinem Platz liegt. Anschließend macht sie sich, peinlich die Verkehrsregeln beachtend, auf den Weg zur Müllhalde. Ein leichtes Nieseln setzt ein, als sie den Wagen unter den alten Eichen abstellt und Christians sterbliche Überreste aus der Heckklappe wuchtet. Ohne sichtbare Kraftanstrengung trägt sie die Leiche bis zum Zaun und ebenso mühelos schleudert sie diese auf die andere Seite. Mit behänden Bewegungen klettert sie hinüber. Dieser Teil der Deponie wird seit Jahren nicht mehr benutzt. Gras, kleine Büsche und Bäume wachsen hier. Am Rand eines Birkenwäldchens wirft sie den Körper achtlos zu Boden, klappt den Spaten auf und beginnt, ein flaches Grab auszuheben.

Ein Rascheln. Ruth duckt sich blitzschnell und späht in die Runde. Nichts. Sie versucht sich einzureden, dass ein Tier das Geräusch verursacht hat, aber ihr Instinkt ist anderer Meinung. Als sie sich vorsichtig wieder aufrichtet, lässt sie eine Berührung an der Schulter zusammenzucken. Sie schnellt herum, stolpert, fällt und schlägt hart auf.

Das Grinsen in Ivis Gesicht wirkt auch heute wie eingemeißelt. Nur, dass es breiter ist und zwei auffällige Eckzähne freilegt, deren Schimmern die Dunkelheit durchdringt. »Hallo Ruth! Ich wusste, dass du wiederkommst …«