Akkumulator

„Die Energie, die die Welt erschafft, kann nichts anderes sein als ein Wille, und Wille ist Bewusstsein, das sich in den Dienst eines Wirkens und eines Resultats stellt.“

(Sri Aurobindo, Das Göttliche Leben, Erstes Buch)

Melli hob die Hand an die Wange. Deutlich konnte sie die Schwellung fühlen. Sie drückte sich tiefer in den Sitz und beschloss, darauf zu warten, dass die Tabletten wirkten. Sie wollte nicht zum Zahnarzt. Hilflos, mit weit geöffnetem Mund im Behandlungsstuhl zu liegen – schon vor der Vorstellung graute ihr. An das Sirren des Bohrers mochte sie erst gar nicht denken.

*

Die S-Bahn hielt in Bad Cannstatt und der Wagen füllte sich. Ein großer, dicker Mann ließ sich auf den freien Platz neben ihr fallen. Blonde Strähnen fettigen Haares hingen ihm weit ins Gesicht, verbargen es wie ein Vorhang. Das Kinn und die Wangen hatten längere Zeit keinen Rasierapparat mehr gesehen. Seine Kleidung war abgetragen, an einigen Stellen behelfsmäßig geflickt, die Ärmel und der Saum seines Mantels trugen sichtbare Schmutzspuren. Er verströmte den säuerlichen Geruch alten Schweißes.

*

Ein im Durchgang stehendes Pärchen geriet in Streit, die Alkoholfahne der beiden schwängerte die Luft. Melli sah zu ihnen auf und ihr Blick streifte den Sitznachbarn.

Ihre Augen trafen sich. Kraft sprach aus den seinen, ebenso stark wie Verzweiflung. Mut, genauso wie Angst, Gelassenheit und gleichzeitig Aufgewühltheit. Das Merkwürdigste war jedoch, dass sie nicht in der Lage war, seine Augenfarbe zu bestimmen. Waren sie blau? Oder schwarz? Sie irisierten in Zwischentönen.

»Zahnschmerzen?«

Ihre Überlegungen schrumpften zur Nebensache. Seine Stimme drang in sie ein, erreichte jede Körperzelle, brachte sie zum Schwingen. Bevor sie antworten konnte, hob er seine tellergroße Hand und berührte leicht ihre Wange.

Die Berührung war nicht stärker als die eines Schmetterlingsflügels, fühlte sich aber an, wie der Einschlag eines Kometen. Energie strömte in ihren Kiefer, eroberte ihn, wühlte darin, griff nach den Schmerzen und floss in einer gewaltigen Entladung wieder aus ihr hinaus.

*

Die Bahn verlangsamte, kurz darauf hielt sie am Stuttgarter Hauptbahnhof. Der Fremde stand wortlos auf und verließ den Zug.

Melli tastete mit der Zunge nach ihrem Eckzahn, wackelte daran. Das Hämmern war verschwunden, die Schwellung merklich abgeklungen.

Der Waggon leerte sich und füllte sich mit neuen Fahrgästen. Sie versuchte, durch die hereindrängenden Leute, einen Blick auf den Mann zu erhaschen. Die Bahn ruckte an. Hinter einer Gruppe japanischer Touristen glaubte sie ihn zu sehen, wie er sich in seinem grünen Trenchcoat auf eine Bank zubewegte.

Wer war das? Und vor allem: Was hatte er getan?

Die nächste Station: Stadtmitte. Melli sprang auf, drängelte sich zum Ausgang und gelangte, zwischen den sich schließenden Türen hindurch, auf den Bahnsteig. Dreißig Sekunden später fuhr eine Bahn in Gegenrichtung ein.

*

Die Dunkelheit des Tunnels wich, das hell erleuchtete Tiefgeschoss des Hauptbahnhofs erschien. Melli spähte aus dem abbremsenden Fahrzeug, dorthin, wo sie den Mann zuletzt gesehen hatte. Beim Aussteigen übersah sie einen Kinderwagen, stolperte und fing sich einen wütenden Fluch der zugehörigen Mutter ein. Sie ignorierte die Frau, suchte weiter die Sitzbänke ab.

Da saß er, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das fleischige Gesicht in den riesigen Händen verborgen. Seine massige Gestalt wirkte wie ein Fels inmitten der ihn umbrandenden Menschenmassen. Die Schöße seines Mantels bewegten sich im Luftzug vorbeieilender Samstagseinkäufer. Touristen und Einheimische bedachten ihn mit missbilligenden Blicken.

*

Melli betrachtete ihn forschend. Sie versuchte, in seiner Erscheinung und Ausstrahlung zu lesen. Der Platz links von ihm war frei. Langsam ging sie auf ihn zu und setzte sich neben ihn, so vorsichtig, als könne der Sitz unter ihr abbrechen. Er beachtete sie nicht, schien seine eigene Anwesenheit zu verweigern, so unbeweglich verhielt er sich. Der Kontrast zwischen der Versunkenheit des Mannes und dem geschäftigen Gewimmel wirkte wie ein auf glühender Lava schwimmender Eiswürfel.

*

Sie räusperte sich.

»Hallo … ich …« Eine einfahrende S-Bahn verschluckte ihre Worte.

Der Mann nahm die Hände vom Gesicht und sah sie an. Aus seinen Augen sprachen Müdigkeit und Schmerz.

»Ich wollte mich bedanken«, sagte Melli leise.

Er zog eine Augenbraue hoch.

»Das tun die Wenigsten.« Seine Stimme schickte kleine Schauer über ihren Rücken.

»Ich bin Melli.«

»Ich heiße Patrick«, erwiderte er mit dem Anflug eines Lächelns.

»Wie hast du das gemacht vorhin?«

Er wandte sich ab. »Ich mache nichts, die Kraft macht das.« Mit diesen gemurmelten Worten erhob er sich und ging zur Rolltreppe.

Melli sah ihm nach. Seine geheimnisvolle Antwort stachelte ihre Neugierde mehr an, als dass sie befriedigend wirkte.

»So leicht kommst du mir nicht davon!«, flüsterte sie.

*

Patrick zu folgen, stellte sich als einfach heraus. Er schlurfte mit langsamen Schritten in Richtung Schlosspark. Zielstrebig steuerte er eine abseits stehende Bank an. Ohne zu zögern, ging Melli zu ihm und setzte sich an das freie Ende der Bank.

Er seufzte. »Du bist penetrant neugierig.«

»Na, hör mal«, ereiferte sie sich. »Du machst etwas mit mir, das es eigentlich nicht gibt, und wunderst dich, wenn ich neugierig werde?«

»Und jetzt?« Er lehnte sich zurück. »Dir ist klar, dass es Dinge gibt, die man besser nicht wissen sollte?«

Melli spürte Ungeduld in sich aufsteigen.

»Und dir ist hoffentlich klar, dass du mich mit solchen Aussagen nicht zufriedenstellst?«

Sie schlug die Beine übereinander und blickte ihn erwartungsvoll an. Er schwieg lange. Melli konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.

»Es ist lange her«, begann er, »ich war noch ein kleiner Junge, als meine Mutter schwer krank wurde …«

»Das tut mir …«

Zischend, mit einem Anflug unterdrückter Wut, unterbrach Patrick: »Wenn du was erfahren willst, solltest du zuhören!«

Sie schwieg erschrocken.

Er atmete ein paar Mal tief durch und fuhr fort: »Ich wollte ihr unbedingt helfen, konnte aber nicht. Eines Nachmittags entdeckte ich auf dem Nachhauseweg von der Schule einen angefahrenen Hasen am Straßenrand. Sein Bauch war aufgeplatzt, die Gedärme hingen heraus, doch er lebte noch.« Er sah ihr in die Augen, sich vergewissernd, dass sie noch zuhörte. »Er tat mir unheimlich leid«, erzählte er weiter, »und deshalb nahm ich ihn hoch und brach ihm das Genick.«

Melli nickte, zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte.

Patrick griff sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nase und massierte sie. Er schien sich zu konzentrieren.

»Jetzt wird es etwas schwierig …« Abermals suchte er den Augenkontakt. »In dem Moment, als der Hase in meinen Händen starb, durchflutete mich eine unglaubliche Energie. Meine Handflächen fühlten sich an, als würden sie glühen und der Punkt zwischen meinen Augenbrauen pulsierte heftig. Das Gefühl ließ schnell nach, doch war mir zu jenem Zeitpunkt bewusst, dass eine neue Kraft in mir wohnte. Zu Hause sah ich nach meiner Mutter. Es ging ihr sehr schlecht, sie erkannte mich nicht. Als ich ihr die Haare aus der schweißnassen Stirn streichen wollte, passierte es. Eine gewaltige Entladung schoss aus meiner Hand und breitete sich im Körper meiner Mutter aus. Einen Augenblick später öffnete sie die Augen und sprach mit mir. Sie war absolut klar, hatte keine Schmerzen mehr.«

»Du hast sie geheilt?«

»Nein, das konnte ich nicht. Es verschaffte ihr nur Linderung und selbst diese hielt nicht lange an. Ich begriff schnell, wo meine Heilkraft herkam, und begann, im Schuppen Lebendfallen für Mäuse aufzustellen. Die gefangenen Mäuse tötete ich. Das ging eine ganze Weile gut, aber der Effekt ließ nach. Ich fing an, streunende Katzen und Hunde zu verwenden. Die Tiere vertrauten mir, meine Stimme wirkte beinahe hypnotisch auf sie. Sie wehrten sich nicht. So war es leicht, an Nachschub zu kommen.«

Melli atmete hörbar aus. Sie wollte ihm weiter zuhören. Sie musste ihm weiter zuhören! Eine magische Anziehung ging von seinen Worten aus.

*

Patrick erhob sich. »Lass uns ein Stückchen spazieren gehen.«

Sie folgte seiner Aufforderung ohne zu zögern und trottete neben ihm her, während er weitererzählte: »Nach einigen Jahren reichte es nicht mehr aus, die Kraft aus Kleintieren zu beziehen. Ich bewarb mich in einem Schlachthof und tötete fortan Kühe und Schweine. Inzwischen konnte meine Mutter ein normales Leben führen. Die Ärzte wunderten sich, dass der Krebs sie noch nicht umgebracht hatte.«

Es war dunkel geworden und der Weg, auf dem sie gingen, war nur spärlich beleuchtet. Sie hätte sich alleine nicht getraut, im Dunkeln hier entlangzulaufen, doch Patricks Anwesenheit und vor allem seine Stimme, strömten eine freundliche Ruhe aus, die keine Angst zuließ.

»Das mit den Kühen«, wollte sie wissen, »hat das denn gereicht?«

»Eine gewisse Zeit lang schon«, gab er bereitwillig Auskunft, »doch vor zwei Jahren fiel mir auf, dass auch diese Energiezufuhr zu gering war.«

»Und was hast du dann gemacht?« Melli kicherte. »Hast du Elefanten getötet?«

»Nein.« Er sprach jetzt leise. »Ich habe angefangen, Menschen zu töten.«

Sie hielten an.

Ihre Seele schwang sanft im Nachklang seiner Worte.