Nachtbus-Sinfonie
„Wem zu glauben ist, redlicher Freund, das kann ich dir sagen: Glaube dem Leben; es lehrt besser als Redner und Buch.“
(Wilhelm Busch)
Lily hatte Glück. Der Platz am Heizgebläse im hinteren Teil des Busses war frei. Das Gebläse lief rauschend auf Hochtouren und mühte sich redlich, das Innere des Linienbusses zu erwärmen.
Lily öffnete den Reißverschluss ihrer Daunenjacke ein Stück. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt. Das Fernstudium im Fach Kulturwissenschaften war ihr anfangs machbar erschienen – inzwischen sah sie das anders. Es war die Hölle. Regelmäßig saß sie bis in die Morgenstunden über den Unterlagen, kämpfte mit dem Lernstoff und schätzte sich glücklich, wenn am nächsten Tag noch die Hälfte des am Vorabend Gelernten abrufbar war. Ihr Gehirn verhielt sich wie ein schwarzes Loch: Es konnte Lerninhalte auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen. Wie gut, dass der Supermarkt am Bahnhof bis null Uhr geöffnet war, sonst wäre der Kühlschrank häufiger leer geblieben.
Sie nahm den Rucksack vom Rücken, stellte ihn auf den Sitz am Durchgang und ließ sich auf den Fensterplatz fallen. Der Bus präsentierte sich spärlich besetzt. Auf dem vorderen rechten Vierersitz thronte ein Mann in legerem Büroanzug, einen beigefarbenen Kaschmirmantel auf dem Schoß und eine braune Lederaktentasche neben sich. Er schien einen Stock verschluckt zu haben. Seine akkurat gescheitelten, grauen Haare verstärkten die Aura von künstlicher Eleganz, die er ausstrahlte. Der Anzugträger starrte durch die Scheibe nach draußen, als gäbe es nichts Interessanteres als im Nachtdunkel vorbeiziehende Häuser.
Drei Reihen weiter, auf der Fahrerseite, lümmelte sich ein Betrunkener über beide Plätze. Die Kapuze seines schmierigen Parkas war tief ins Gesicht gezogen, sodass nur der struppige Vollbart zu sehen war. Sein Kopf lehnte am Holm zwischen zwei Fenstern. Er verströmte eine indezente Geruchsnote aus altem Schweiß und frischem Alkohol. Und er schnarchte.
Rechts von ihm, in der Sitzreihe dahinter, beschallte ein blondes Mädchen aus ihren überdimensionalen Kopfhörern ihre Umgebung. Stillhalten schien ein Fremdwort für sie zu sein, sie tanzte im Sitzen und befand sich eindeutig außerhalb jeder Realität. Der Aroma-Mix aus ›Mexx Black Woman‹ und Marihuana, der von ihr ausging, mischte sich mit den anderen Gerüchen im Bus.
Zusammen mit den wechselnden Klängen ergab das Ganze eine typische Melange, die Lily für sich Nachtbus-Sinfonie getauft hatte. Zu dieser gehörten auch das Bremsgeräusch und das zischende Öffnen der Türen, das gerade erklang.
*
Der junge Mann, der eintrat, dem Fahrer ein Geldstück hinlegte und seinen Fahrschein entgegennahm, war groß gewachsen und schlank. Er trug komplett schwarze Kleidung. Unter seiner modischen Strickmütze quoll dunkles Haar hervor, das im Emo-Style quer über die Stirn drapiert war. Darunter leuchteten zwei Augen in hellem Blau, die Lily beinahe ein bewunderndes Pfeifen entlockt hätten. Der Bursche schlenderte den Mittelgang entlang. Auf Lilys Höhe angekommen, schenkte er ihr ein behutsames Lächeln und setzte sich auf den Platz ihr gegenüber. Unwillkürlich strich sie sich mit der Hand durch ihre leuchtend roten Haare und schüttelte sie zurecht.
Verstohlen musterte sie ihn. Er war hübsch. Die ebenmäßigen römischen Züge wirkten winterlich blass. Die vollen Lippen standen in Kontrast zu einem Dreitagebart, was ihm eine seltsame jugendlich–verruchte Ausstrahlung verlieh. Wie alt mochte er sein? Das war schwer zu schätzen, er konnte sechzehn sein, aber genauso gut zwei- oder dreiundzwanzig. Er bemerkte ihren Blick und lächelte abermals. Dieses Lächeln war alles andere als behutsam.
»Ich weiß, dass ich dir gefalle!«
Lily fühlte sich ertappt und drehte, peinlich berührt, das Gesicht zum Fenster. Demonstrativ imitierte sie den Anzugträger und täuschte Interesse an vorstädtischer Architektur vor.
*
Der Bus hielt. Zwei Frauen mittleren Alters stiegen zu. Lily kannte die beiden. Es waren die Damen vom Prüfdienst. Sie tastete nach der Monatskarte in der Jackentasche und registrierte beruhigt, dass diese da steckte, wo sie hingehörte.
»Die Fahrscheine, bitte!«, tönte die größere der beiden Frauen und wandte sich an den Mann im Anzug. Dieser ließ sich in seiner Betrachtung der Hauswände und Bürgersteige nicht stören.
»Darf ich bitte Ihren Fahrschein sehen?«, sprach sie ihn direkt an.
Unwillig wie ein Wissenschaftler, den man bei einer bahnbrechenden Erfindung störte, drehte er den Kopf und bedachte die Kontrolleurin mit einem abschätzenden Blick.
»Moment …«, erwiderte er und begann seinen Mantel aufzufalten.
Die Frau lehnte sich mit der Hüfte an die Lehne der gegenüberliegenden Bank. Sie rechnete wohl mit einer längeren Wartezeit.
Die bekiffte Blondine zog eine Seite ihres Kopfhörers vom Ohr und beäugte die Szene. Sie schien auf Abwechslung gewartet zu haben.
Die zweite Kontrolleurin erreichte den Schlafenden und stupste ihn an der Schulter. »Ihren Fahrschein, bitte!«
Ohne den Kopf zu heben, zog der Bärtige eine Klarsichthülle mit einem Schwerbehindertenausweis darin aus den unergründlichen Tiefen seiner Kleidung und streckte ihn der Frau entgegen. Dabei murmelte er etwas Unverständliches, das sich in Lilys Ohren anhörte wie »Anarchie«.
*
Der Anzugträger war jetzt damit fertig, seinen Mantel aufzuklappen, und durchsuchte ihn. Die Kifferin riss sich von der Betrachtung des Geschehens los und zeigte ihre Fahrkarte vor. Mit einem Nicken nahm die Prüferin den Fahrschein zur Kenntnis und schlenderte in den hinteren Teil des Busses. Der blauäugige Junge hatte seine Fahrkarte zu einem Röllchen gedreht und begann sie aufzurollen, während Lily ihre Monatskarte hochhielt.
Die Frau murmelte ein »Danke« und gesellte sich zu ihrer Kollegin, die geduldig dem Grauhaarigen zusah, wie er seine Taschen umdrehte.
»Die haben Sie aber gut versteckt«, bemerkte sie mit einem Lächeln.
Der Angesprochene schien daran nichts Lustiges zu finden.
»Jetzt hetzen Sie mich doch nicht so!« Er legte seinen Mantel zur Seite und öffnete die Aktentasche. Die Frauen warfen sich einen wissenden Blick zu.
»Hören Sie«, begann die kleinere der beiden, »wenn Sie keine Fahrkarte besitzen, ist das nicht weiter schlimm. Sie zahlen vierzig Euro und der Fall ist erledigt.«
Der Mann unterbrach seine Suche. Die Blondine kicherte leise und schob den Kopfhörer in den Nacken.
»Was wollen Sie damit sagen? Halten Sie mich für einen Schwarzfahrer?« Die Stimme des Aktentaschenbesitzers klang gereizt. Er setzte sich noch aufrechter.
Lily spürte, wie Neugierde in ihr aufstieg. Diese Szene wollte sie gern bis zum Ende verfolgen, was unmöglich war. An der nächsten Station musste sie aussteigen. Auch der schwarz gekleidete Junge beobachtete, was dort vorne vorging.
Die Diskussion schien zu entgleisen. Deutlich waren Worte wie »Dienstaufsichtsbeschwerde« und »Willkür« zu verstehen. Die Prüferinnen gaben sich Mühe, beschwichtigend zu wirken, aber das fruchtete nicht.
Der Jüngling glitt leichtfüßig von seinem Platz. Lily befürchtete, er wolle sich einmischen und das Chaos noch vergrößern, doch er steuerte zielsicher den Betrunkenen an und setzte sich geschmeidig neben ihn. Die Blonde hing mit beiden Armen über der Lehne vor ihrem Sitz und gaffte ungeniert. Die Kontrolleurinnen beschäftigten sich mit dem Anzugträger und dieser sich mit ihnen. Der Junge zwinkerte Lily verschwörerisch zu.
»Scheiße, will der den beklauen?«, flüsterte sie, während sie nach dem Halteknopf tastete.
Daran schien er nicht zu denken. Er schob die Kapuze des Trinkers zur Seite, öffnete den Mund, beugte sich über ihn und …
*
Der Bus verlangsamte. Lily schüttelte die Schreckstarre ab und zwang sich aufzustehen. Er hat den Penner gebissen! In den Hals! Sie wollte es hinausschreien, aber ihre Stimme verweigerte den Dienst. Der Bus hielt, zischend öffneten sich die Türen.
»Ich rufe jetzt die Polizei! Sie steigen mit uns an der nächsten Haltestelle aus!« Wie durch eine Watteschicht hindurch drangen die Worte der Streitenden an Lilys Ohren.
Der Junge sah ihr ins Gesicht, seine Augen blitzten. Er grinste breit. Mit der Zungenspitze leckte er sich einen Blutstropfen von der Oberlippe.
Lily riss ihre Einkäufe an sich und stürzte zur Tür. Die Nachtkälte empfing sie. Es schneite. Sie hasste die Kälte. In diesem Augenblick erschien sie ihr jedoch wie eine sichere Zuflucht. Dort drin, in der Wärme, war er … es …
Sie stolperte über die Straße, der Rucksack schlug ihr schmerzhaft gegen die Unterschenkel. Ohne stehen zu bleiben, warf sie ihn über und zwängte die Arme in die Träger. Was zur Hölle war das gewesen? Es gab keine Vampire! Hatte sich der Kerl einen grausamen Scherz erlaubt?
Sie verlangsamte ihr Tempo. Das war die Lösung: Ein schlechter Scherz! Wie hatte sie sich dermaßen erschrecken lassen können? Es war Karneval, da kamen die Leute auf die dümmsten Ideen. Und sie fiel auf so was herein!
»Lily, du bist ein Dummerle!«, schalt sie sich flüsternd.
Ihre Schulter schmerzte. Sie griff zum Tragegurt des Rucksacks und stellte fest, dass er verdreht war. Unter der nächsten Straßenlaterne stoppte sie und versuchte den Gurt gerade zu richten. Leise Schritte knirschten im frisch gefallenen Schnee hinter ihr.
»Kann ich dir helfen?«