Endzeit
„Man vergisst vielleicht, wo man die Friedenspfeife vergraben hat. Aber man vergisst niemals, wo das Beil liegt.“
(Mark Twain)
Schwer atmend blieb Pascal am Rand des Wäldchens stehen und sondierte die Lage. Das Haus auf dem Hügel schien unbewohnt, alle Fensterläden waren geschlossen, keinerlei Leben war auszumachen. Nur ein hellgrauer Rauchfaden, der sich aus dem Schornstein kringelte, verriet dem Betrachter die Anwesenheit von Menschen.
Pascal steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. Zweimal kurz und einmal lang – das verabredete Zeichen. Die Antwort – ein langer und ein kurzer Pfiff – bewirkte, dass er sich merklich entspannte. Alles in Ordnung!
Er schob den Rucksack auf seinem Rücken zurecht, griff mit beiden Händen an die Träger und setzte den Weg fort. Anne erwartete ihn an der Tür.
»Willkommen zurück, großer Jäger. Was hast du erbeutet?«
»Oh, künftige Mutter der Kinder des Stammes, ich habe viel Beute gemacht«, erwiderte er grinsend.
Sie liebten dieses Ritual. Sie liebten alle ihre Rituale. Sie halfen ihnen, mit der Situation zurechtzukommen. Seit die Welt aus den Fugen geraten war, stellten gegenseitiges Vertrauen und Liebe die wichtigsten Säulen des Überlebens dar.
Überleben – um mehr ging es nicht. Der magnetische Sturm hatte vor einem Jahr die Zivilisation, die zu einer gemütlichen und sicheren Gewohnheit geworden war, mit einem Schlag ausgehebelt. Alles, was mit Strom funktionierte, fiel aus, wurde unbrauchbar. Elektronische Bauteile verschmorten und verloren in stinkenden Rauchwölkchen ihre Bestimmung. Autos fuhren nicht mehr – von einigen uralten Exemplaren abgesehen. Radio, Fernsehen, Internet, Geldautomaten, Fahrstühle und Telefon klangen wie Begriffe aus einer längst vergangenen Epoche. Aufgrund der zusammengebrochenen Kommunikation wusste niemand, was passiert war und die Mutmaßungen reichten von einer kleinen Störung, über einen terroristischen Anschlag, bis hin zu einem Atomkrieg.
Erst als in den Nächten nach dem Vorfall Polarlichter bis nach Nordafrika ihre Farbenspiele zeigten, konnten sich die Menschen ausmalen, was wirklich geschehen war. Die Zahl derer, die es für eine Strafe Gottes hielten, war erstaunlich hoch. Die Selbstmordrate stieg exorbitant. Sektierer und selbst ernannte Gurus, die ›es schon immer gewusst haben‹, scharten ihre Anhänger um sich.
Vier Wochen nach dem Sonnensturm traten die ersten ernsthaften Engpässe bei der Wasser- und Lebensmittelversorgung auf. Plünderungen und Überfälle begannen, Gruppen bildeten sich, das Gemeinwesen mutierte zur Farce. Nach Ethnie, Interessengruppe, Religion oder politischer Ansicht orientierten sich die Leute und schlossen Bündnisse, die alle darauf ausgerichtet waren, der eigenen Gruppe möglichst viel und den anderen Gruppen möglichst wenig von den spärlichen Ressourcen zu sichern. Offiziell gab es noch eine Regierung, die täglich um neunzehn Uhr über Radio die neuesten Notstandsregelungen und Gesetze verkündete. Doch erstens besaß lediglich ein Bruchteil der Bevölkerung ein Notstromaggregat sowie einen mit Röhren betriebenen Empfänger, dem der EMP nichts anhaben konnte, zweitens kümmerte sich niemand tatsächlich um das, was die Damen und Herren in ihrem Bunker in Berlin verlauten ließen. Polizisten und Militärangehörige, die sich ihren Lebensunterhalt mit ›Beschlagnahmungen‹ verdienten, stellten sich als ein denkbar ungeeignetes Werkzeug zur Durchsetzung von Regierungsbeschlüssen heraus.
*
Anne und Pascal gehörten keiner Gruppe an. Sie fühlten sich nicht zugehörig. Als klar wurde, dass sich die Lage auf absehbare Zeit nicht bessern würde, hatten sie beschlossen, ihre eigene Vereinigung zu bilden. ›Autonom und autark zu sein‹, erklärten sie zu ihrem obersten Ziel, und nachdem sie zweimal überfallen, zusammengeschlagen, vergewaltigt und ausgeraubt worden waren, beschlossen sie, dass auch Wehrhaftigkeit zu ihren Grundsätzen gehören sollte.
Die beiden entschieden sich, die kleine Stadt zu verlassen, um sich bei Pascals Eltern einzuquartieren, die eine Landwirtschaft betrieben. Sie fanden das Anwesen auf dem Hügel verlassen vor. Von den alten Leuten fehlte jede Spur, der Hof war geplündert, die Stall- und Wirtschaftsgebäude niedergebrannt. Im Laufe der Zeit richteten sie sich im Wohnhaus ein und verwandelten es in eine gut zu verteidigende Festung.
*
Pascal schloss die Tür hinter sich, legte den schweren Riegel in die Halterungen und schwang den Rucksack auf einen Hocker. Nachdem er ihn geöffnet hatte, zog er ein zylinderförmiges Metallgebilde hervor, an dem zwei Stutzen und ein beweglicher Hebel angebracht waren.
»Schau mal, was ich hier habe«, verkündete er stolz.
»Und was ist das Großartiges?« Annes Blick verriet Neugierde.
»Das, zukünftige Mutter der Kinder des Stammes, ist eine manuelle Ölpumpe. Ich habe sie von einem Heizöltank abmontiert. Wenn ich zwei Schläuche daran befestige, kann ich sie dazu verwenden, die letzten Reste von Treibstoff aus den Vorratstanks der Tankstellen zu pumpen.«
»Das ist eine wahrlich wichtige Beute, großer Jäger. Wir haben nicht mehr viel Benzin für das Notstromaggregat.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und deutete einen Kuss auf seine stoppelige Wange an.
Pascal legte die Pumpe zur Seite und schnupperte übertrieben in Richtung Küche. »Was bekommt der mächtige Krieger zu essen, um seine Kräfte zu erhalten?«
»Tomatensuppe«, antwortete sie mit einem Lächeln, »uuund ...« Seine Ungeduld anstachelnd, zog sie die Kunstpause in die Länge. »… ich habe Brot gebacken!«
Pascals Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Brot? Richtiges, echtes, knuspriges Brot? Wo hast du das Mehl her?«
»Im Krämerwald gibt es eine Lichtung. Dort steht ein verwildertes Weizenfeld. Letzte Woche, als du drei Tage fort warst, bin ich hingegangen und habe geerntet. Das Korn kann man wunderbar mit der alten Kaffeemühle zerkleinern. Ich glaube allerdings, dass es mir nicht gelungen ist, sämtliche Spreu zu entfernen. Das muss ich noch üben.«
Er umfing ihre Taille mit beiden Armen, hob sie hoch, zog sie an sich und drehte sich mehrmals mit ihr um die eigene Achse. »Ich erkläre dich hiermit zur Göttin der Nahrungsmittelzubereitung«, grinste er und küsste sie auf den Mund.
Ihr Körper erschlaffte. »Ich … bitte …«
Pascal stellte sie zurück auf den Boden und trat einen Schritt zurück. »Tut mir leid«, flüsterte er betreten. In seinem Überschwang hatte er ihr Trauma verdrängt. Sie mochte keine Berührungen mehr, keine Zärtlichkeiten, keine Nähe. Bei der kleinsten Andeutung von Sexualität zuckte sie zusammen. Soweit er konnte, nahm Pascal darauf Rücksicht, aber manchmal vergaß er es und das führte zu Schuldgefühlen und grenzenloser Hilflosigkeit. Er konnte ihr nicht helfen, sie nicht wieder zu der Frau machen, die sie früher war. Als Handwerker leistete er Großartiges, seine Gehversuche als Psychologe blieben erfolglos.
Sieben waren es gewesen. Im letzten Herbst hatten sie seine Abwesenheit genutzt und waren ins Haus eingedrungen, als er Pilze sammeln war. Er hatte Anne im Flur vorgefunden. Weggeworfen, wie ein uninteressant gewordenes Spielzeug, aus unzähligen Wunden blutend, mehr tot als lebendig. Nach vier Wochen Pflege hatte sie sich davon erholt – körperlich. Ihre Seele war an diesem Tag gestorben.
»Lass uns essen«, unterbrach Anne die drückende Stille.
Dankbar kam Pascal der Aufforderung nach, zog die Lederjacke aus und folgte ihr in die Küche. Sie stellte zwei Teller auf den Tisch, füllte sie mit Suppe und platzierte das frische, duftende Brot in der Mitte. Pascal schnitt einige Scheiben ab, nahm sich eine und biss herzhaft hinein.
»Lecker! Das hast du toll gemacht«, nuschelte er mit vollem Mund. Sie sah zufrieden zu, wie er kaute, und griff sich ebenfalls eine Scheibe. Bedächtig zerteilte sie diese in mundgerechte Stücke und ließ sie in die Suppe fallen.
»Weißt du, was ich gern mal wieder essen würde?«, fragte sie und gab die Antwort selbst: »Fleisch!«
Er zuckte mit den Schultern. Sein Gesicht nahm einen bedauernden Ausdruck an.
»Die Wälder sind leergejagt. Das bisschen Wild, das es noch gibt, versteckt sich gut. Meine Fallen bleiben seit Monaten leer und die Züchter in den Dörfern geben nichts her. Abgesehen davon haben wir nichts, was wir eintauschen könnten.«
»Ich weiß, großer Jäger. Ich denke nicht, dass du die gefangenen Tiere vor Ort gleich roh verzehrst, um mir nichts abgeben zu müssen.« Sie lachte bei der Vorstellung, wie Pascal im Wald saß und rohes Hasenfleisch in sich hineinstopfte. Er lachte mit ihr. Nicht im Traum würde er daran denken, eine Beute nicht mit ihr zu teilen.
Er hob unvermittelt die Hand und zischte ein leises »Psssst!« Augenblicklich erstarrte jede Bewegung im Raum. Anne wurde blass.
Ein Klopfen erklang von der Haustür her.
»Hallo? Ist jemand zu Hause?«, rief eine Frauenstimme.
Pascal glitt leichtfüßig in den Flur. »Einen Moment!«
Er federte die Treppe in den ersten Stock hinauf. Dort rannte er von Zimmer zu Zimmer und lugte durch die Gucklöcher in den Fensterläden. Außer der jungen, blonden Frau, die vor der Hausfront wartete, war niemand zu sehen.
»Sie ist alleine«, flüsterte er Anne zu, als er wieder neben ihr im Flur stand. Fragend zog er eine Augenbraue hoch.
»Lass sie rein.« Widerstreitende Empfindungen zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab. Die Angst überfallen zu werden, stritt mit dem Mitleid einer Frau gegenüber, die alleine in dieser Welt da draußen ihr Leben fristete. Anne zog sich ins Halbdunkel zurück. Pascal ging zur Tür, entfernte den Riegel und öffnete. Die junge Frau trug ihr Haar zu einem Zopf geflochten und war in derbe Militärkleidung gehüllt, die ihr zwei Nummern zu groß schien. Sie besaß eine großkalibrige Pistole, deren Mündung zwischen Pascals Augenbrauen zielte.
»Scheiße!«, flüsterte er.
»Das kannst du laut sagen, du Arschloch. Los! Zurück ins Haus!«, kommandierte die Fremde.
Wie eine Marionette, deren Fäden jemand durchtrennt hatte, ließ sich Pascal zu Boden fallen.
»Schieß, Anne!«, brüllte er.
Der Sekundenbruchteil, den die Augen der Frau brauchten, um das Dämmerlicht im Flur zu durchdringen und festzustellen, dass er geblufft hatte, reichte ihm. Er trat ihr mit gnadenloser Härte von unten gegen das linke Knie. Sich auf die Zusammenbrechende zu stürzen und ihr die Waffe zu entringen war das Werk von Augenblicken.
»Du dreckiges Miststück! Ich schlag dich tot!« Auf ihren Oberarmen kniend, hämmerte er ihr die Fäuste ins Gesicht, bis ihn Anne an der Schulter rüttelte.
»Hör auf … bitte!«
Ihre Berührung und die Worte holten ihn in die Realität zurück. Er erhob sich, wischte sich die blutenden Fingerknöchel an der Hose ab und begann, die Fremde zu durchsuchen. Zufrieden grinsend präsentierte er Anne eine Packung Munition, zwei scharf geschliffene Kampfmesser, einen Schlagring, vier Pakete Dauerkekse und eine Brieftasche. Auch den Rucksack und die festen Stiefel konfiszierte er. Anschließend fesselte er die Bewusstlose mit Klebeband und verfrachtete sie in den Heizungskeller, den er sorgfältig abschloss. Nachdem er die Umgebung des Hauses abgesucht und sich vergewissert hatte, dass sie alleine gekommen war, kehrte er ins Haus zurück. Eine Streunerin also, eine Einzelgängerin. Davon gab es nicht viele. Man musste hart im Nehmen sein und sich in der Natur zurechtfinden, wenn man diese Lebensweise wählte. Und man durfte keine Skrupel kennen!
*
Als er die Küche betrat, saß Anne am Tisch, zählte die Patronen und untersuchte die anderen Habseligkeiten. Pascal ging zum Schrank, nahm eine Mullbinde heraus und verband sich die linke Hand.
»Einhundertsiebenundvierzig«, verkündete sie.
»Es ist gut, endlich eine Handfeuerwaffe zu haben«, stellte er fest. »Sie lässt sich leichter tragen und verstecken als das Gewehr.«
Anne nickte. Lange saßen sie sich schweigend gegenüber. Es wurde dunkel. Sie stellte den Kerzenständer in die Tischmitte und zündete eine Kerze an.
»Was machen wir mit ihr?«, sprach sie schließlich aus, was beide dachten.
»Ich weiß es nicht. Auf keinen Fall können wir sie lange durchfüttern.
»Du könntest doch …« Sie unterbrach sich und schüttelte den Kopf.
»Ich könnte was?«, hakte er nach.
»Ich meine … du bist … ein Mann. Und ich …« Ihre Augen erforschten sein Gesicht, um herauszufinden, ob er verstanden hatte.
Er hatte.
»Sag mal, spinnst du? Begeben wir uns auf das Niveau des Pöbels da draußen?«, schimpfte er.
»Ich würde es dir gönnen, eine richtige Frau zu haben. Seit ich … seit mir … an mir hast du ja nichts mehr«, sagte sie leise.
Beide schwiegen. Annes Vorschlag löste in Pascal eine Mischung aus Ekel und Erregung aus. Die Blonde war nicht übel, ihr Körper fühlte sich straff und jung an, das hatte er gespürt, als er sie durchsucht hatte. Aber eine Vergewaltigung? Nein! Er war kein Monster! Sicher, er hatte seit Monaten keine Frau mehr gehabt. Nicht, dass es ihm an Gelegenheiten gemangelt hätte. Bei seinen Besuchen im nahegelegenen Dorf, in dem sich eine wehrhafte christliche Freikirchengemeinde niedergelassen hatte, waren ihm die begehrlichen Blicke nicht entgangen. Frauen waren dort deutlich in der Überzahl. Klar, die Eine oder Andere reizte ihn. Aber er liebte Anne und er würde warten, bis sie so weit war, Nähe und Sex zulassen zu können. Und doch … dieses drahtige wilde Weibchen dort unten in seinem Keller, ihm hilflos ausgeliefert, ging ihm nicht aus dem Kopf.
*
Nachdem sie die Kerze ausgeblasen und sich ins Schlafzimmer zurückgezogen hatten, lag er noch lange wach. Gefühle, Gründe, moralische Bedenken und Begierden verglich er und rechnete sie gegeneinander auf. Anne atmete gleichmäßig. Sie schlief. Leise schälte er sich aus der Decke, griff sich den Schlüsselbund vom Nachttisch und verließ den Raum.
*
Der nächste Morgen begann, wie der Abend geendet hatte. Mit Schweigen. Beide aßen andächtig und in sich gekehrt, bis nur noch ein kleines Stück vom Brot übrig war. Anne wischte den Tisch ab und schüttelte die Krümel in den Mülleimer.
»Du warst bei ihr.« Es klang nicht wie eine Frage.
»Du wolltest es so, verdammt!«, donnerte Pascal und hieb die Faust auf den Tisch, was er augenblicklich bereute. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich die Handkante. Seine gesamte Enttäuschung, sein Ekel vor sich selbst und seine Wut über die Unfähigkeit zu widerstehen, hatten sich mit diesem Schlag eine Bahn gebrochen.
»Es sollte kein Vorwurf sein«, beeilte sich Anne zu versichern. »Ich finde es völlig in Ordnung, was du getan hast. Hat es dich denn wenigstens … befriedigt?«
»Es war … seltsam. Aber ja, aus rein sexueller Sicht hat es mich befriedigt.« Er strich sich mit der Hand durchs Haar. »Ich sollte nach ihr sehen.« Er füllte ein Glas mit Wasser, nahm drei Karotten aus dem Vorratsschrank und verschwand in Richtung Kellertreppe.
*
Wenige Augenblicke später kehrte er mit betretenem Gesicht zurück.
»Sie ist tot«, sagte er leise.
Anne starrte in an. Unglauben stand in ihrem Gesicht.
»Tot?«
»Anscheinend konnte sie die Fesseln durchscheuern und hat sich mit einer scharfen Kante des Heizkessels die Pulsadern geöffnet. Alles ist voller Blut.« Pascal ließ sich auf den Stuhl fallen und betrachtete seine gefalteten Hände. Anne sprang auf und rannte die Treppe hinunter. Wie Pascal vor ihr, hinterließ sie auf dem Rückweg blutige Schuhabdrücke.
»So eine dumme Kuh!«, wetterte sie.
Er sah sie mit gesenktem Kopf an. Gewissensbisse plagten ihn. »Sie tut mir leid, ich hätte nicht …«
»Ach Quatsch!«, unterbrach sie ihn. »Wegen so etwas bringt man sich doch nicht gleich um!«
»Wenn man jemanden hat, der für einen da ist, einen auffängt, vielleicht nicht«, widersprach er ihr. Sie diskutierten ausgiebig, konnten aber keinen gemeinsamen Nenner finden.
Pascal fühlte sich schuldig. Anne fühlte sich schuldig, weil er sich schuldig fühlte. Er beschloss, seine Emotionen nicht zu zeigen, um sie nicht zu belasten. Sie beschloss, ihm Zeit zu lassen. Zeit konnte helfen, Wunden zu heilen – oder sie zumindest weniger schmerzhaft erscheinen lassen. Sie kamen überein, das Thema vorerst ruhen zu lassen. Die ausführlichste Diskussion konnte eines nicht: die Fremde wieder lebendig machen. Es war, wie es war. Sie war tot.
*
Pascal erhob sich. «Ich werde sie begraben«, sagte er mit rauer Stimme.
»Warte!«
Anne war aufgesprungen und hielt ihn am Arm fest. »Sie ist … aus Fleisch.«
»Bist du jetzt endgültig wahnsinnig geworden?« Er schüttelte heftig den Kopf. Das durfte nicht wahr sein. Hatten die letzten Stunden ihrer kranken Psyche den Rest gegeben?
»Ich bin bei klarem Verstand!«, bekräftigte sie. »Sie ist tot, verdammt. Was sollte uns hindern, uns mit Fleisch zu versorgen? Es ist Fleisch wie jedes andere.«
»Ich werde das nicht ausdiskutieren!«
Er wurde laut. Ungläubig starrte er Anne an, die mit hochrotem Gesicht und leuchtenden Augen vor ihm stand.
»Hör zu«, ließ sie nicht locker, »was wäre, wenn ich sterben und mir vorher ausdrücklich wünschen würde, dass du mein Fleisch isst. Was würdest du tun?«
Er runzelte die Stirn. Das war typisch für Anne, so einen Vergleich aufzustellen. Er wusste nicht, was er tun würde. Die Oberhand in diesem Gespräch – sofern er sie jemals gehabt hatte – ging ihm nach und nach verloren. Fleisch, ein schönes Steak, ein leckerer Braten, ein paar gegrillte Rippchen, natürlich wünschte er sich das. Ein saftiges Reh in der Falle oder ein junger Hase, das wäre ein Traum. Aber ein Mensch? Nein!
»Ich … würde es vermutlich tun«, antwortete er.
»Na siehst du, ich wusste, dass du es wie ich sehen würdest.« Sie grinste schief.
»Es wie du sehen? Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob es um eine fremde Leiche in unserem Keller oder um dich und deinen Wunsch geht!«
Pascal gratulierte sich zu seinem Argument. Daran kam sie nicht vorbei. Er lenkte die Gedanken zurück zu seinem Vorhaben und ließ geeignete Begräbnisorte vor seinem inneren Auge vorbeiziehen. Das schiefe Grinsen wich nicht von Annes Lippen. Das irritierte ihn. Sie kramte in der Gesäßtasche ihrer Jeans, zog ein in Plastik geschweißtes Stück Papier hervor und hielt es ihm unter die Nase.
»Sie hat es sich gewünscht. Das hier ist ihr Organspenderausweis!«