Komplikation
„Nicht ein Atom des Körpers wird vergehen und nicht ein Hauch von Seele. Sobald der Nordwind den Saum des Geistes zusammenrafft, wird sich der Ostwind erheben und ihn entfalten.“
(Khalil Gibran)
Dr. Denkscherz warf einen Blick durch die schwer vergitterten Fenster. Draußen schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel. Hätte ihr während des Medizinstudiums jemand gesagt, dass sie ihre Kenntnisse später in einem Gefängniskrankenhaus anwenden würde – sie wäre in schallendes Lachen ausgebrochen.
Der Mann, der vor ihr lag, würde in den nächsten Minuten seinen letzten Atemzug tun. Sie verurteilte sich selbst für den Gedanken, aber insgeheim fand sie, dass er verdient hatte, zu sterben. Vierzehn junge Frauen hatte Dietmar Brächtken bestialisch ermordet, sich an den toten Körpern vergangen und sie anschließend zerstückelt. Seine letzten Opfer waren Zwillinge gewesen, siebzehn Jahre alt und als kommende Stars der Modelszene gefeiert worden.
Noch im Gerichtssaal stieß er unflätige Beleidigungen aus und beschimpfte seine Opfer als dreckige Schlampen, die es nicht anders verdient hatten. Für das Leid und die Trauer der Angehörigen hatte er nur Häme und Spott übrig. Am zweiten Verhandlungstag hatte ihn der Richter bis zur Urteilsverkündung von der Verhandlung ausgeschlossen.
»Sandra …« Ein kaum zu vernehmendes Flüstern.
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich es nicht mag, wenn Sie mich beim Vornamen nennen!«
Dr. Denkscherz zügelte ihre Wut und mahnte sich zur Professionalität. Sie beschloss, es als letzten Wunsch eines Sterbenden zu sehen, sie zu duzen. Außerdem führte es zu nichts, es ihm zu verbieten – er würde es trotzdem tun.
Dietmar Brächtken winkte sie mit dem Zeigefinger zu sich heran. Unwillig beugte sie sich zu ihm hinunter. Wollte ihr der Verbrecher sein Vermächtnis mitteilen, eine letzte Nachricht an die Menschheit?
»Näher«, krächzte er.
Sie führte ihr Ohr bis auf wenige Zentimeter an seinen Mund heran. Der Wachmann an der Tür räusperte sich und machte einen Schritt vorwärts.
Dr. Denkscherz winkte ihn zurück. »Ist gut Werner, der kann mir nichts mehr tun.«
Sie fühlte Brächtkens Atem an ihrer Wange. Er roch nach Fäulnis. Ein Schauer rann über ihren Rücken.
»Hör zu, Sandra. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich möchte dir sagen, dass es mir leidtut, dass ich den Frauen die Brüste abgeschnitten habe.«
Er atmete schwer und zischend.
Diese Reue passte in keiner Weise zu dem Bild, das sich Dr. Denkscherz von ihm gemacht hatte. Er hatte die Brüste seiner Opfer in der Kühltruhe aufbewahrt. Die der Zwillinge waren, mit Sperma und Blut verklebt, in seinem Bett gefunden worden. Gespannt lauschte sie seinen nächsten Worten.
»Ich hätte ihnen die Fotzen rausschneiden sollen, die wären besser zu ficken gewesen.«
Sein schäbiges Lachen ging in ein pfeifendes Husten über, das langsam erstarb.
Dr. Denkscherz richtete sich auf, nahm ein Papiertaschentuch aus dem Spender und wischte sich die Speichelspritzer vom Gesicht. Sie fühlte den Puls, drückte dem Mann die Augen zu, die im Tod noch ein teuflisches Glitzern verschickten, und klingelte nach dem Pfleger. In der Krankenakte notierte sie die Todeszeit: 18:37 Uhr. Erstaunt stellte sie fest, dass ein Organspenderausweis an das Klemmbrett geheftet war. Das folgende Prozedere war gesetzlich vorgeschrieben und die Klinikleitung legte besonderen Wert darauf, dass es buchstabengetreu befolgt wurde.
Man entnahm Dietmar Brächtken beide Nieren, die Hornhäute der Augen und das Pankreas.
*
Ich lebe. Nein, ich bin. Wer bin ich? Wo bin ich? Ich kann meine Augen nicht finden. Ich kann keine Arme und Beine finden. Ich kann mich nicht finden!
***
»Hallo Jana, du bist ja schon richtig wach!« Die Ärztin strahlte über das ganze Gesicht.
»Hallo, Frau Doktor …«
Dr. Glaser unterbrach sie: »Du sollst mich doch Kischa nennen!«
Sie erreichte das Bett, beugte sich über das blonde Mädchen und nahm vorsichtig dessen Nase zwischen Zeige- und Mittelfinger.
»Wie fühlst du dich?«, fragte sie, während sie Janas Kopf sacht hin und her bewegte.
»Ich bin müde.« Ihre Stimme klang leise, aber klar.
»Das ist normal nach so einer langen Operation. Ich habe mir gerade deine ersten Laborwerte angesehen. Es sieht sehr, sehr gut aus«, eröffnete die Ärztin mit einem Seitenblick auf Frau Herbst, Janas Mutter, die an der anderen Seite des Betts saß und die Hand ihrer Tochter hielt.
»Wann darf ich denn nach Hause?« Janas Augen wanderten zwischen ihrer Mutter und Dr. Glaser hin und her.
Der feuchte Schimmer in den Augen von Frau Herbst verstärkte sich. »Ein paar Tage wirst du noch bleiben müssen, Liebling. Aber ich komme dich jeden Tag besuchen, das verspreche ich«, versuchte sie zu trösten.
»Und wenn die Werte weiterhin so hervorragend sind, verlegen wir dich morgen oder übermorgen auf ein normales Zimmer. Zu den anderen Kindern«, fügte Dr. Glaser hinzu und rückte dem Mädchen die Atemmaske zurecht.
Sie stand auf, nahm das Krankenblatt zur Hand und überprüfte die Anzeigen der Monitore. »Es ist …«, sie unterbrach sich und sprach flüsternd weiter, »… nicht nötig, dass Sie länger bleiben, Frau Herbst. Es sieht wirklich gut aus und Sie können hier nichts für Jana tun – zumal sie viel schläft.«
»Ich komme morgen gegen fünfzehn Uhr wieder. Danke, Frau Doktor!« Sie stand auf und strich die Sitzfalten aus dem Rock. Aus ihrem Gesicht sprach Mitgefühl und Kischa glaubte, Schuldgefühle darin lesen zu können.
»Ich werde jede Stunde nach Jana sehen«, versprach Kischa und geleitete die besorgte Frau zur Tür.
*
Ich werde. Ich fühle. Ich habe Grenzen, ein materielles Sein. An meiner Seite ist Schmerz. Es gibt Bahnen, die zu mir führen und von mir weg. Ich verfolge diese Bahnen. Außerhalb ist noch mehr Materie. Ich strecke meine Fühler aus und taste. Es bewegt sich, es atmet. Ich erinnere mich: ICH habe geatmet. In einem früheren Leben? Leben! Das da draußen ist Leben. Ich versuche weiter zu tasten, der Schmerz setzt eine Grenze. Ich habe Zeit. Ich werde warten.
*
»Baby, Baby, Baby, oooh Like, Baby, Baby, Baby noo - oohh Like, Baby, Baby, Baby oooh I thought you always be mine …«
Kischa Glaser zupfte den Ohrhörer aus Janas Gehörgang. »Guten Morgen, junge Dame. Dir scheint es wirklich gut zu gehen. Ich hab dich schon auf dem Flur singen gehört.«
»Das ist Justin Bieber, den finde ich total süß!«, verkündete das Mädchen fröhlich.
»Ich weiß, meine Tochter mag den auch«, lachte Dr. Glaser und hob das weiße Tuch von dem mitgebrachten Tablett. Jana verzog das Gesicht. »Och nöööö, nicht schon wieder Blut abnehmen, ich hab' fast keins mehr!«, protestierte sie.
»Nur noch die beiden Röhrchen, dann ist bis Übermorgen Schluss«, versprach die Ärztin, nahm den Arm des Mädchens und besprühte die Armbeuge mit Desinfektionsmittel. Routiniert fand sie mit der Nadel die Vene und sah zu, wie das dunkle venöse Blut in die Behälter strömte. »Das war's! Ging schnell, oder?« Sie zog die Kanüle zurück und drückte einen Zellstofftupfer auf die Einstichstelle. »Schön fest draufdrücken!«
»Das kenn' ich doch, Doktor Kischa«, beschwerte sich Jana und versuchte tapfer auszusehen, obwohl sie sich mulmig fühlte.
Dr. Glaser etikettierte die Proben und verabschiedete sich von Jana. »Ich bringe die ins Labor und komme später noch einmal zu dir.«
»Duuuhuuu, Doktor Kischa«, hielt das Kind die Ärztin zurück, „ich glaub', da lebt was in mir.«
»Natürlich lebt es, Jana. Es wäre ärgerlich, wenn deine neue Niere nicht leben würde.«
Mit dieser Erklärung verließ sie das Zimmer.
Jana stöpselte sich ihren Kopfhörer zurück in die Ohren und sang, genauso disharmonisch wie zuvor, mit ihrem Idol.
*
Ich kann die Grenze überwinden. Mich hineingleiten lassen, hineinkriechen in das ›Außen‹. Es will mich aufnehmen, zu einem Teil von sich machen. Ich wehre mich, greife um mich, nehme meinerseits ein, assimiliere Gewebe. Ich kann in Nervenbahnen eindringen, Reize aufnehmen und absenden. Ich verbinde mich.
*
Kischa Glaser hob den Kopf. »Herein!«
Eine Schwester mit auffallend roten Haaren steckte den Kopf durch die Tür. »Die Frau Herbst möchte zu Ihnen.«
»Auf die habe ich gewartet, Schwester Sabina. Bitten Sie sie doch herein.«
Dr. Glaser klappte den Ordner zu, in dem sie gelesen hatte, stand auf und ging Ihrer Besucherin entgegen. Sie bot Janas Mutter einen Stuhl am Besprechungstisch an und nahm ihr gegenüber Platz.
»Schön, dass Sie Zeit haben, Frau Herbst. Ich will mit Ihnen über Janas Fortschritte nach der Transplantation sprechen«, eröffnete sie und gab sich Mühe, jedes Wort zu überdenken, bevor sie es aussprach.
»Es gibt doch keine …«, Frau Herbst suchte nach dem Wort, »… Komplikationen?«
Dr. Glaser erzählte ihr lächelnd, dass es keinen Grund zur Besorgnis gäbe. Es sei vielmehr eine äußerst positive Entwicklung im Gange. Keinerlei Abstoßungsreaktion sei zu beobachten, das Immunsystem scheine auf das neue Organ nicht zu reagieren. Das sei zwar ungewöhnlich, doch in keiner Weise bedenklich – im Gegenteil!
Sie zeigte Janas Mutter die Tabellen mit den Laborergebnissen und erklärte ihr die einzelnen Werte ausführlich. Man könne keinen Unterschied zwischen Janas Werten und denen eines gesunden Menschen finden, führte sie aus. Das ergäbe ein verblüffendes Bild, das man sich näher ansehen müsste, um eventuelle Gründe und deren Verwertbarkeit für künftige Transplantationen zu prüfen.
»Ich kann Ihnen versichern, dass ich in meiner ganzen Laufbahn noch nie eine derart hervorragende Rekonvaleszenz erlebt habe. Mein Doktorvater, Professor Schneider von der Charité Berlin, würde sich Jana gern ansehen. Er ist ebenfalls erstaunt über die positive Entwicklung.«
Frau Herbst rutschte auf der vordersten Kante der Sitzfläche hin und her. Sie war keineswegs beruhigt.
»Sie werden aus Jana kein medizinisches Versuchskaninchen machen! Vergessen Sie nicht, dass Sie meine Zustimmung brauchen.«
»Wir haben nicht vor, mit Ihrer Tochter zu experimentieren.« Dr. Glaser lächelte gewinnend. »Es sind keine zusätzlichen Untersuchungen nötig. Alles, was wir wissen wollen, können wir im Rahmen der ohnehin notwendigen Nachuntersuchungen klären.« Um dem Gespräch einen versöhnlichen Abschluss zu geben, eröffnete sie: »Ich habe angeordnet, dass Jana heute von der Intensivstation auf ein normales Zimmer verlegt wird.«
*
Nervenbahnen werden zu meinen. Ich habe Kontakt zum Rückenmark. Ich! Ich bin. Nein, ich lebe! Arme und Beine, ich kann sie wahrnehmen, sie bewegen sich. Die Spur einer Erinnerung. Ich hatte Arme und Beine. Ich war ein Mensch. Ein Mann. Ich werde ein Mensch sein.
*
Schwester Sabina öffnete die Tür und schob das Bett ins Zimmer. »So, da wären wir Jana. Das ist Carola, deine Zimmerkollegin.«
Das etwa vierzehnjährige Mädchen saß im Schneidersitz auf dem Bett, hielt ihren MP3 Player in der Hand und bewegte den Kopf zur Musik, die aus überdimensionalen Kopfhörern schallte.
Jana, die neben der Schwester hergelaufen war, steuerte zielsicher auf Carola zu und streckte ihr die Hand hin. »Hi, ich bin die Jana. Warum bist du hier?«
Unwillig hob die Teenagerin die rechte Seite ihres Kopfhörers an. »Hä?«
»Ich bin die Jana«, wiederholte Jana, »Ich hab' eine neue Niere bekommen. Und warum bist du hier?«
»Ich heiße Carola.« Sie strich sich über das bunte Kopftuch, das sie trug. »Und ich habe Leukämie.«
»Sie bekommt eine Chemotherapie«, mischte sich Schwester Sabina ein. »Deshalb geht es ihr nicht gut im Moment.«
»Wirst du denn wieder ganz gesund?«, wollte Jana wissen. »Ich darf bald nach Hause«, fügte sie hinzu.
»Das will ich schwer hoffen!«, gab Carola zurück und setzte den Kopfhörer wieder auf ihre Ohrmuscheln. Für sie war das Gespräch beendet.
*
Ich sehe! Es war nicht schwer, den Sehnerv zu finden. Starke Impulse leiten mich. Nicht mehr lange, dann kann ich hören und riechen. Ich bin zurück.
*
»Schwester! Hilfe!« Carola kam auf den Flur gestürzt, rannte zum Bereitschaftszimmer und riss die Tür auf. »Schwester, das Mädchen … Jana … sie hat mich angefasst!«
Die Nachtschwester, eine dicke Blondine, auf deren Namensschild Susanne zu lesen war, stand von ihrem Stuhl auf. Sie legte dem Mädchen einen Arm um die Schulter. »Wie meinst du das: Sie hat dich angefasst?«
Stockend erzählte Carola, was ihr widerfahren war.
»Ich bin aufgewacht. Da saß sie auf meinem Bett und … hat mich gestreichelt … sie wissen schon … da unten!«
»Du bleibst erst mal hier«, ordnete die Schwester an und drückte den Teenager sanft auf den roten Plüschsessel, der neben dem Eingang stand. »Ich gehe zu ihr.«
Schwester Susanne erreichte das Krankenzimmer, dessen Tür weit offen stand. Jana lag auf ihrem Bett und hatte den MP3 Player ihrer Zimmerkollegin aufgezogen. »Du riechst so gut, ich geh dir hinterher …«, sang sie laut und misstönend, den Song von Rammstein mit, dessen Rhythmen deutlich zu hören waren. Als sie die Schwester bemerkte, stellte sie die Musik ab.
Schwester Susanne versuchte zu ergründen, was vorgegangen war, doch Jana beantwortete alle ihre Fragen mit einem Kopfschütteln. Um sicherzugehen, dass keine körperliche Komplikation vorlag, maß die Schwester Temperatur, Puls und Blutdruck. Sämtliche Werte lagen im grünen Bereich. Eine seltsame Geschichte. Ob Carola geträumt hat?
Susanne konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Jana sie unsittlich berührt haben sollte. Sie beschloss, das Mädchen für diese Nacht auf ein anderes Zimmer zu verlegen und am nächsten Morgen Dr. Glaser zu benachrichtigen.
*
Wie gut sich das anfühlt. Wie aufregend das riecht. Ein junges, frisches Fötzchen. Ich will mehr davon! Ich hole mir mehr davon!
*
Das Licht des Vollmondes und der Sterne glitzerte von einem nachtklaren Himmel und erleuchtete die zugezogenen Vorhänge des Krankenzimmers. Durch das gekippte Fenster erscholl das erste Vogelgezwitscher des erwachenden Morgens.
Unter dem Bett erklang das leise Plitschen fallender Blutstropfen. Carolas Leiche lag nackt auf dem Rücken, Arme und Beine mit Klebeband ans Bettgestell gefesselt, der Mund zugeklebt. Die Augen waren weit aufgerissen, der Leib vom Schambein bis zum Brustbein aufgeschnitten und ausgeweidet. Ihre Organe lagen im Zimmer verstreut, über dem Triangelgriff hingen die Gedärme, wie zum Trocknen aufgehängte Strümpfe. Die Brüste fehlten. Der markerschütternde Schrei einer Frau ließ die Vögel in den Bäumen verstummen.
*
Das hat gut getan! Die dreckige kleine Schlampe! Wie sie gewimmert hat. Mehr! Jetzt!
*
Die junge Studentin, die sich ihr Geld mit Taxifahren im Nachtdienst verdiente, musterte das Mädchen neugierig. Es trug eine Tüte bei sich und hatte eine Hand tief in der Tasche ihrer zu großen Jeans versenkt.
»Wo soll es denn hingehen, junge Dame?«, erkundigte sie sich fröhlich.
Jana umklammerte das in einer Plastikhülle steckende Einwegskalpell fest mit der Rechten. »Ins Industriegebiet bitte.«