Leichenfresser

„Gott ist ein Komödiant, der vor einem Publikum spielt, das zu ängstlich zum Lachen ist.“

(Voltaire)

»Verdammte Arschlöcher! Euch sollte man …«

Mit diesen Worten knallte Stefan die Klappe seines Laptops zu. Die Intensität seines Wutausbruchs überraschte ihn. Vorsichtig öffnete er das Display und ließ den Rechner hochfahren. Alles funktionierte noch. Der Browser lud die zuletzt geöffneten Fenster neu und da waren sie wieder, die Bilder, die ihn so aufgeregt hatten. Die lange Reihe getöteter Grindwale. Die Bucht, deren Wasser blutrot leuchtete, wie dem Gemälde eines surrealen Künstlers entsprungen. Die Männer, die mit ihren Grindwal-Messern die Halsschlagader und das Rückgrat der Tiere durchtrennten, sie an Land zerrten und dort viereckige Öffnungen in die Leiber schnitten, aus denen die Innereien quollen. Auf Youtube gab es ein Video, das zeigte, wie die Mörder mit dem Ruf »Grindaboð!« ins Wasser stürmten und ihre martialischen Haken schwangen. Diese rammten sie den mit Booten in Richtung Land getriebenen Walen in die Blaslöcher und schleppten sie damit ans Ufer. Grauenvoll!

Er war Veganer geworden, weil er nicht mitverantwortlich sein wollte, dass Tiere eingepfercht, gequält und getötet wurden. Es machte ihn traurig und wütend, dass der Großteil der Menschheit nicht verstand, dass es Mitgeschöpfe mit Würde, Empfindungen und dem Recht auf Leben waren, wie der Homo sapiens.

Wut, Unverständnis, Trauer und Hilflosigkeit kumulierten täglich ein bisschen mehr zu einem Gefühl der Verzweiflung, das nach Abhilfe schrie.

Wie sollte er etwas ändern? Konnte er etwas ändern? Reichte es nicht, dass er sich vegan ernährte und kleidete, dass er demonstrierte und spendete? Wie viele aufrüttelnde Statements und Bilder sollte er auf Facebook noch posten, damit von diesen verbohrten Betonköpfen da draußen endlich jemand zu denken anfing? Auf wie vielen Demonstrationen würde er noch die Aufmerksamkeit der Leichenfresser erregen müssen, bis sie verstanden? Mitgefühl schien sich beim Menschen auf seine eigene Rasse zu beschränken. Fühlte ein Mensch psychischen oder körperlichen Schmerz, bekam er Zuspruch, Anteilnahme und Hilfe – wurden Hunderte Tiere bestialisch abgeschlachtet, gab es höchstens ein Achselzucken oder den Hinweis, dass es eben so sei und man es nicht ändern könne. Der Mensch sei schließlich ein Allesfresser und müsse, um sich ausgewogen zu ernähren, Fleisch essen, das ohne Tiere zu töten, nicht zu bekommen sei.

Werbesprüche wie: »Fleisch ist ein Stück Lebenskraft« oder »Die Milch macht's« ließen seine Nackenhaare aufstehen. Wer von den gehirngewaschenen, der Lebensmittelindustrie hörigen Vollidioten machte sich Gedanken darum, wie viel Leid in jedem Schnitzel, in jedem Liter Milch steckte? Er tat es. Von Tag zu Tag intensiver.

Je mehr er sich für Tierschutz und veganes Leben einsetzte, desto geringer wurde die Anzahl seiner Freunde. Er wusste, dass diese Leute, die Oberflächlichkeit und Empathielosigkeit zu ihrem Lebensmotto gemacht hatten, sich von ihm distanzierten, weil er ihnen ein schlechtes Gewissen machte. Weil ihnen bewusst war, dass er Recht hatte und sie sich nicht länger mit der paradoxen Philosophie, die sie lebten, auseinandersetzen wollten.

Er vermisste solche Freunde nicht. Im Gegenteil – in seinem Leben hatten sie keinen Platz mehr. Er hatte viele Menschen kennengelernt, die ähnlich dachten und fühlten wie er. Diese Gemeinschaft vergrößerte sich ständig. Das tröstete ihn ein wenig. Einige von diesen Gesinnungsgenossen vertraten extreme Meinungen und schreckten vor Gewaltanwendung nicht zurück, wenn sie auf ein besonders schlimmes Beispiel von Tierquälerei stießen. Bisher hatte sich Stefan von ihnen distanziert. Aber je mehr seine Hilflosigkeit sich in Wut verwandelte, desto näher kam ihm der Gedanke daran, es den Tierquälern und Massenmördern heimzuzahlen. Doch wie? Sollte er auf die Färöer fliegen und die Walkiller finden und zusammenschlagen?

Es war spät geworden und er beschloss, schlafen zu gehen. Es dauerte lange, bis seine wild rotierenden Gedanken sich beruhigten und ein tiefrotes Rauschen ihren Platz einnahm. Auf die Färöer fliegen …

*

Der Gedanke zu handeln, ließ ihn auch am nächsten Morgen nicht los. Während er sein Müsli mit Sojamilch verzehrte, huschten seine Finger über die Tastatur und innerhalb weniger Minuten wusste Stefan, dass die Bilder der toten Wale in der Nähe von Sorvagur entstanden waren. Ein paar Nachfragen bei gut informierten Mitgliedern der Tierschützerszene später hatte er herausgefunden, dass die für das Massaker verantwortliche Flotte zwei Herren mit den Namen Jákub Poulson und Brandur Hanusson gehörte.

Soweit, so gut. Nur, was anfangen mit diesen Informationen? Sollte er wirklich? Zehn Tage Urlaub lagen noch vor ihm und eigentlich …

Noch während er das dachte, gab sein Gehirn den Händen den Befehl, sich zu bewegen. Tatsächlich gab es einen günstigen Hinflug am Mittwoch und einen Rückflug am Donnerstag. Er buchte beide.

*

Den Dienstag verbrachte er damit, sich wichtige Begriffe und Worte in der Landessprache sowie auf Dänisch einzuprägen und seinen Koffer zu packen. Die Kleidungsstücke mit den Sea-Shepherd-Aufdrucken blieben im Schrank – er wollte unauffällig bleiben, um sich in Ruhe umsehen zu können. Und dann? Was würde er tun, wenn er Jákub Poulson und Brandur Hanusson gefunden hatte? Tief in seinem Inneren versteckte sich eine heimliche Gewissheit und er kicherte leise. Sich das unvermeidliche Ende seiner Aktion eingestehen oder es gar aussprechen, konnte er noch nicht.

*

Der Matsch war knöcheltief. Nur er steckte darin, der Rest des Demonstrationszuges kam mühelos voran. Menschen mit Transparenten, Schildern und Fahnen zogen an ihm vorbei, während er immer tiefer einsank.

»Rettet die Wale!«, versuchte er in den Chor der Marschierenden einzustimmen – seine Stimme versagte. Der Schlamm erreichte seine Oberschenkel. Stefan streckte das Schild mit dem Porträt von Paul Watson hoch in die Luft. Je mehr er sich bemühte, sich aus dem Sumpf zu befreien, desto weiter sank er ein. Er betrachtete die Masse genauer, die ihn förmlich aufzusaugen schien, und sah, dass es Blut war. Blut und Fleischfetzen – Leichenteile ermordeter Wale und Delfine. Links von ihm schwamm ein Auge, groß wie ein Tennisball und sah ihn an. Das Ende des Zuges war jetzt fünfzig Meter von ihm entfernt und er steckte bis zum Brustkorb fest.

»Wartet auf mich!«, schrie er. »Ich will mitkommen, ich gehöre zu euch …«

*

»Geht es Ihnen gut?«

Die sanfte Berührung an der Schulter riss ihn aus seinem Albtraum. Eine Stewardess in ihrer adretten Uniform stand neben ihm und blickte ihn besorgt an. Ihr skandinavischer Akzent gefiel ihm.

»Alles in Ordnung«, beeilte er sich zu versichern. »Ich habe nur schlecht geträumt.«

»Dann sollten Sie besser wach bleiben«, riet ihm die Flugbegleiterin lächelnd. »Wir landen in fünfzehn Minuten auf dem Flughafen Vagar.«

*

Es war kühl. Ein strammer Wind blies den Nieselregen waagerecht über den Vorplatz des Flughafens. Stefan überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Er hatte weder eine Unterkunft gebucht, noch sich um seine weiteren Schritte große Gedanken gemacht. Nach seinen Informationen aus dem Internet waren es zwölf Kilometer bis zu der Bucht, an der die Fotos aufgenommen worden waren. Dort wollte er zuerst hin.

*

Der Regen hatte nachgelassen und blaue Stellen am Himmel ließen die Sonne durch. Er hatte einen Hügel erklommen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Das Wasser des Fjords lag erstaunlich ruhig und klar vor ihm. Keine Spur von Blut. Vereinzelte Holzhäuser lagen weit verstreut in der hügeligen Landschaft und zeichneten das trügerische Bild einer Idylle, in der noch vor wenigen Tagen ein bestialisches Morden stattgefunden hatte.

Wenn Wale schreien könnten, dachte Stefan, dann würdet ihr nicht … Ach was …, korrigierte er sich, ihr würdet trotzdem. Ihr habt keine Skrupel, beruft euch darauf, dass der Mensch ein Raubtier sei. Pah! Raubtiere töten, um zu überleben. Ihr tötet aus wirtschaftlichen Überlegungen, aus Profitgier und häufig einfach aus Spaß. Ihr seid keine Raubtiere, ihr seid Monster! Die angeblich wissenschaftlichen Gründe der Japaner fand er genauso lächerlich wie die Ausrede der Färöer, die sich auf ihre Tradition beriefen.

Wut kochte in ihm hoch. Zielstrebig machte er sich auf den Weg zu dem kleinen Hafen. Dort hoffte er, weitere Informationen zu finden.

Die Adressbücher hatten ihm nicht weiter geholfen und die Einträge im Handels- und Schifffahrtsregister beinhalteten lediglich eine Postfachadresse, die Telefonnummer einer Serviceagentur und die Adresse einer Webseite.

Seine Gedanken irrten durcheinander. War er tatsächlich in der Lage, einen Menschen zu töten? Rein körperlich war er das. Aber psychisch? War es Rechtfertigung genug, dass diese gewissenlosen Mörder jedes Jahr Hunderte von Tieren schlachteten?

Er verlangsamte den Schritt, versuchte sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Auf die Geräusche des Grases unter seinen Stiefeln, den Meeresgeruch in der Luft und den sanften Wind in seinem Gesicht. Natur – sie konnte viel geben.

Er war bereit, den Mördern die Rechnung für ihr Tun zu präsentieren. Sie nahmen der Menschheit ein Stück von dem, was allen gehörte. Auch ihm! Und sie taten es auf eine bestialische, unmenschliche Art.

Stefan erreichte die ersten Gebäude der kleinen Siedlung. Lagerschuppen, Werkstätten und halbverfallene Wohnhäuser, die allesamt aussahen, als wären sie monatelang nicht mehr betreten worden. Je näher er der Anlegestelle kam, desto neuer und gepflegter wirkten die Häuser und die Straßen wurden belebter. Männer mit wettergegerbten Gesichtern, die einfache Kleidung, zumeist Jeans und Rollkragenpullover oder Hemden aus festem Stoff trugen, begegneten ihm. Zwei junge Frauen standen vor einem Gemischtwarenladen und unterhielten sich lebhaft. Bereitwillig, mit einem Lächeln, machten sie ihm Platz und er betrat das kleine Geschäft. Nachdem sich seine Augen an das spärliche Tageslicht, das sich durch ein schmutziges Fenster kämpfte, gewöhnt hatten, erspähte er einen Kühlschrank mit Glastür. Er entnahm ihm eine Literflasche Coca Cola und wandte sich dem Tresen zu, auf dem eine altertümliche Registrierkasse thronte. Niemand war zu sehen.

»Hallo«, rief er leise.

Eine der beiden Frauen, die noch immer in ihre angeregte Unterhaltung vertieft waren, spähte durch die Tür in den Raum. »For et mindre.«

Stefan nickte. Die Frau verabschiedete sich von ihrer Gesprächspartnerin und trat hinter den Verkaufstisch.

»Kun en Coca Cola?«

»Ja tak.«

»Sie sind Deutscher?«

Stefan überraschte diese Frage. Aus einem »Hallo« und zwei einfachen Worten hatte sie das geschlossen? Er nickte.

»Ja, ich komme aus Deutschland«, gab er zu und befürchtete insgeheim weitere unangenehme, neugierige Fragen.

Doch die Verkäuferin schien mit dieser Auskunft zufrieden zu sein. »Einen Euro und vierzig Cent, bitte.« Ihr Deutsch klang ähnlich dem der Stewardess.

War das wirklich erst vier Stunden her? Er bezahlte passend und verkniff sich die Nachfrage, woher sie Deutsch konnte.

»Finde ich hier die Reederei Poulson & Hanusson?«

»Unten am Hafen, das rote Haus mit dem großen …«, sie verzog das Gesicht, weil ihr das Wort nicht einfiel, »… Vordach? Heißt das so: Vordach?«

»Ja, so heißt das«, beeilte sich Stefan zu versichern. »Das werde ich finden. Danke.«

Stefan mochte solche Frauen. Das blonde Haar, die helle Haut mit den Sommersprossen und die natürliche Ausstrahlung zogen ihn an. Heute war keine Zeit zum Flirten. Heute hatte er etwas zu erledigen.

Er verließ den Laden, die hübsche Verkäuferin und die antiquierte Registrierkasse und schlenderte zwischen den heimelig wirkenden Häusern hindurch in Richtung Hafen. In einem Kämmerchen seines Unterbewusstseins stritten die kichernde Gewissheit und ein uralter Zweifel miteinander. Das Wenige, das davon in sein Denken durchschimmerte, verdrängte er. Bedenken konnte er sich jetzt nicht leisten. Um sich abzulenken, rief er sich die Bilder der Flotteneigner ins Gedächtnis. Er musste in der Lage sein, sie zu erkennen, wenn er ihnen begegnete. Stefan hatte nur ältere und durch die Vergrößerung stark verpixelte Aufnahmen gefunden. Trotzdem war er sich sicher, sie identifizieren zu können. Zur Sicherheit hatte er sie auf seinem Handy gespeichert.

Das Gebäude konnte man wirklich nicht übersehen. Ein verwittertes Messingschild brachte letzte Sicherheit: Es war der Firmensitz von Poulson & Hanusson. Er bezog auf einem Bootsanleger Posten, von wo aus er den Eingangsbereich aus den Augenwinkeln heraus gut beobachten konnte. Die Flut hatte ihren Höhepunkt erreicht. Er zog Schuhe und Socken aus und ließ die Füße in das angenehm kühle Wasser gleiten.

Was sollte er tun, wenn sich niemand zeigte? Was, wenn die Mörder ihren unverdienten Urlaub auf den Kanaren genossen, während er hier saß? Was, wenn jemand auf die Idee kam, ihn mehr zu fragen, als die blonde Verkäuferin es getan hatte?

Eine Bewegung unter dem Vordach riss seine Aufmerksamkeit von dem ›Was‹ und ›Wenn‹ los. Jemand war aus der Tür ins Freie getreten. Ein Mann. Groß gewachsen, dunkelblond, das Gesicht durch einen Vollbart und ausgeprägte Koteletten eingerahmt. Der Mann blieb unter dem Rand des Vordachs stehen und blickte über den Hafen auf den Fjord hinaus. Er plante wohl seine nächsten Gräueltaten. Stefan kramte sein Handy aus der Tasche und wählte die Kamerafunktion. Er zoomte auf das Gesicht des Fremden und schoss ein Bild. Der Vergleich mit den gespeicherten Fotos ließ keinen Platz für Ungewissheit: Dort stand der skrupel- und gewissenlose Walkiller Brandur Hanusson. Dieser löste sich aus dem Schatten und ging mit schnellen Schritten auf Stefan zu. Stefan erstarrte. Wusste er Bescheid? Hatte jemand Verdacht geschöpft und ihn gewarnt? Die Blonde aus dem Laden vielleicht? Wenn Hanusson ihn ansprach, was dann? Alles abstreiten? Ihn hier in aller Öffentlichkeit angreifen?

Der Fangflottenbesitzer betrat den Bootssteg, kam auf Stefan zu und … ging an ihm vorbei, ohne ihn eines überflüssigen Blickes zu würdigen. Stefans Beine zitterten heftig und lösten kleine Wellenkringel im Wasser des Fjords aus. Er drehte den Kopf nach links und sah zu, wie Hanusson einen Fischkutter enterte und in einem Deckshäuschen verschwand.

Da war sie, die Gelegenheit! Hektisch stopfte er Schuhe und Socken in den Rucksack. Ein schneller Rundblick verriet ihm, dass sich niemand für die Vorgänge auf dem Steg interessierte. Das potenzielle Publikum bestand aus einem älteren Paar, das in eine angeregte Diskussion vertieft schien.

Stefan warf sich den Rucksack über und schlenderte betont lässig in Richtung des Kutters. Das etwa achtzehn Meter lange Boot mit dem weinrot gestrichenen Rumpf und den weißen Aufbauten dümpelte sanft vor sich hin. Dieses idyllische Bild blieb auf Stefans Netzhaut hängen. Das Adrenalin verhinderte, dass es in sein Bewusstsein drang. Er ging zum Heck, beugte sich zur Reling hinüber und flankte aufs Deck. Dort kauerte er sich zusammen. Drei Meter von ihm entfernt schwang die halb geöffnete Tür, in der Hanusson verschwunden war, leicht mit den Bewegungen des Boots hin und her. Um beweglicher zu sein, nahm er den Rucksack ab und deponierte ihn an der Reling. Vorsichtig schlich er auf den Eingang zu. Metallische Laute und das Licht von Neonröhren drangen die Treppe herauf. Stefan schlüpfte hinein. Seine nackten Füße erzeugten kein Geräusch auf den Stufen. Der Mann stand gebeugt über einem der Motoren und wandte Stefan den Rücken zu. Seine Arme steckten bis zu den Ellenbogen in dem Aggregat und er arbeitete konzentriert.

*

Dieser miese Drecksack! Das gewissenlose Stück Scheiße! Stefan entdeckte eine große Rohrzange auf dem Boden, bückte sich und holte aus. Das Maul der Zange stieß gegen die Decke. Hanusson drehte den Kopf und versuchte, sich aufzurichten. Das Werkzeug sauste herunter und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf Hanussons Schulter ein. Sein Schmerzensschrei vermischte sich mit Stefans Überraschungsruf. Stefan holte erneut aus. Diesmal traf er den Kopf. Der Ton, mit dem der Schädelknochen barst, hallte als hundertfaches Echo in Stefans Kopf wider. Hanusson ging in die Knie, ein rotes, klebriges Rinnsal rann über sein Gesicht. Seine weit aufgerissenen Augen fixierten Stefan, als er versuchte die Hand zu heben und nach ihm zu greifen. Sein Blick erlosch und er fiel aufs Gesicht. Warmes Blut spritzte über Stefans Füße. Er ließ die Rohrzange fallen. Farbige Schlieren schillerten vor seinen Augen, wie Öl auf einer Pfütze. Sein Kreislauf spielte verrückt und er lehnte sich mit dem Rücken an die Holzwand. Er hatte es getan! Er hatte diesem Mörder gezeigt, dass man die Umwelt nicht straflos zerstören durfte!

Jetzt hieß es, ungesehen zurück in die Stadt zu kommen und dort bis zum Rückflug unterzutauchen. Ob er sich Poulson noch vorknöpfen sollte? Wahrscheinlich würde man Hanussons Leiche eher früher als später entdecken und Poulson wäre gewarnt. Das konnte die Angelegenheit unnötig komplizieren. Wozu also ein zusätzliches Risiko eingehen? Er hatte mehr erreicht, als er sich erträumt hatte: Einen der Verbrecher hatte die gerechte Strafe für den vielfachen jahrelangen Mord an den Grindwalen ereilt. Eine unerkannte Flucht zurück nach Deutschland würde die Aktion krönen.

Stefan hob die Rohrzange auf und wischte den Griff gründlich mit einem herumliegenden Fetzen Putzwolle ab. Ebenso verfuhr er mit der Wand, an die er sich gelehnt hatte. Der Türrahmen und die Reling fielen ihm ein, auch dort musste er seine Spuren verwischen. Er wandte sich zur Treppe und wollte den Fuß auf die erste Stufe stellen, aber es funktionierte nicht. Seine Beine schienen wie festgeklebt.

»Du dummer kleiner Junge.« Nur ein Flüstern.

Er versuchte, sich umzudrehen. Es ging nicht. Was zum Teufel …?

»Nein, nicht der. Eher das Gegenteil!« Die Stimme steigerte sich zu einem Raunen, das aus vielen Kehlen zu kommen schien. Und es erklang direkt in seinem Kopf.

»Du hast nichts verstanden. Gar nichts. In deiner überbordenden Selbstgerechtigkeit dachtest du, deine Vorstellung einer Weltordnung, deine Ansichten von Gut und Böse durchsetzen zu müssen.«

Stefan erschauerte innerlich. Aber …?

»Was aber?!« Aus dem Raunen wurde ein Donnern. »Ihr dummen Menschen. Ihr versucht mein Handeln zu interpretieren, mein Denken nachzuvollziehen. Lächerlich! Meine Beweggründe könnt ihr ebenso wenig verstehen, wie eine Ameise die Gedanken eines Menschen begreifen kann. Anstatt euch zu fügen, die geltende Ordnung als gegeben anzuerkennen, steigert ihr euch in einen Wahn des besser machen Wollens hinein und macht alles viel schlimmer!«

Ein warmer, feuchter Fleck breitete sich auf Stefans Hose aus. Panik wühlte in seinen Eingeweiden und arbeitete sich zielsicher in seinen Kopf vor. Er begriff, dass er mit etwas – mit jemandem – sprach, der oder das weit außerhalb dessen lag, was er sich vorstellen konnte.

»Ich erkläre es dir.« Die Stimme klang jetzt freundlicher, fast gütig. »Du denkst an die vielen gequälten Tiere und meinst, ihnen helfen zu müssen. Hast du schon mal einen Gedanken daran verschwendet, dass es mein Plan sein könnte? Was glaubst du, passiert mit den Seelen der Menschen, die Böses tun? Sie kommen nicht in die Hölle. Die existiert nicht. Sie werden wiedergeboren, in Körpern von Tieren, denen es bestimmt ist, Qualen zu erleiden. Das ist mein Plan. Das ist meine Gerechtigkeit! Ihr unwissenden Würmer glaubt, die Welt verbessern zu müssen. Meine Welt kann man nicht verbessern!« Bei den letzten Sätzen wurde der Ton lauter und endete in einem Crescendo, das Stefans Kopf an den Rand seiner Belastbarkeit brachte. Dann wurde es dunkel und still um ihn.

*

Er schwamm um seine Mutter herum und stupste sie mit der Schnauze an, um sie dazu zu bewegen, mit ihm zu spielen. Sie machte keine Anstalten, seiner Aufforderung nachzukommen. Etwas schien sie zu beunruhigen. Aus der Ferne hörte er Geräusche von Booten und Rufe von Menschen, die wie »Grindaboð« klangen.