Phallische Phase
„Jede Lösung eines Problems ist ein neues Problem.“
(Johann Wolfgang von Goethe)
Wissen Sie, das Verhältnis zu meiner Mutter war von frühester Kindheit an außergewöhnlich. Sie davon zu überzeugen, dass ein Sachverhalt nicht war, wie sie ihn sah, gestaltete sich schwierig bis unmöglich. Ein eigenartiger Mensch mit fest gefügten Meinungen und Ansichten.
In den letzten Jahren verschlimmerte sich das extrem, sodass ich mich darauf beschränkte, ihr zuzustimmen oder ihre Aussagen unkommentiert zu lassen. Zu meinem Leidwesen stachelte sie dieses Verhalten zu noch zynischeren Bemerkungen an, die es mir schwer machten, gelassen zu bleiben.
Meine Mutter ist nicht das eigentliche Problem. Mein Problem ist die Tatsache, dass ich hier sitze und seit Tagen nichts gegessen und getrunken habe; dass es keine Aussicht auf Rettung aus meiner Misere gibt und ich deshalb diese Geschichte für Sie aufschreibe, um festzuhalten, was mir passiert ist. Mein Problem sind diese …
Ich merke, geneigter Leser, ich schweife ab. Um es Ihnen leichter zu machen, mich zu verstehen, erzähle ich alles von Anfang an.
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Seit ich denken kann, wohnt unsere Familie in diesem einsam gelegenen Haus abseits des Dorfes. Mit der Dorfgemeinschaft gab es nie viele Berührungspunkte und die einzigen oberflächlichen Gespräche fanden beim Bäcker oder Metzger statt. Als vor zwanzig Jahren der Supermarkt gebaut wurde, fiel auch dieser Kontakt weg.
Mein Vater, ein Kranführer, an den ich lediglich verschwommene Erinnerungen habe, war kurz nach meiner Einschulung betrunken von seinem Arbeitsgerät gestürzt und gestorben. Seitdem sorgte meine Mutter für mich und später ich für sie. Ihre Rente und mein Hartz IV reichten uns. Wir brauchten keinen Luxus.
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»Michael«, sagte sie erst letzte Woche zu mir, »wozu hast du eine neue Hose nötig? Du hast zwei – eine für die Arbeit im Garten und eine fürs Weggehen – wozu eine dritte? Du kannst stets nur eine tragen, Dummkopf!«
»Mutter!«, donnerte ich. »Du sollst mich nicht immer so nennen!« Das brachte sie zum Schweigen.
Sie ist nicht dumm und weiß, wohin das führen kann. Am Ende muss ich sie wieder schlagen, wie vor sechs Jahren, als mir die Hand ausgerutscht war.
»Wann legst du dir endlich eine Freundin zu?«, war ihre nächste Stichelei.
»Mutter, du weißt, dass ich niemanden mit nach Hause bringen kann, und das ist deine Schuld!«, erklärte ich ihr und zwang mich zur Geduld.
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Sie müssen wissen: Meine Mutter ist tot. Und das schon seit langer Zeit. Genau genommen seit dem Tag, als mir die Hand ausrutschte. Sie war selbst schuld. Warum musste sie mich ständig dermaßen abfällig behandeln? Ich gebe zu, es war nicht die Hand, sondern der Küchenstuhl, der eine längliche Delle in ihrer Schädeldecke hinterließ. Ich hatte keine Wahl, wissen Sie, ich konnte sie nicht anders zum Schweigen bringen.
Damals stand ich vor einem Problem, wie Sie verstehen werden. Eigentlich waren es drei Probleme: Ich wollte Mutter nicht verlieren, nicht ins Gefängnis und ich brauchte das Geld von ihrer Rente. Ohne das könnte ich nicht jeden ersten Donnerstag im Monat in die Stadt fahren und in meinen Lieblingsklub gehen. Ein Mann braucht Abwechslung.
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Es war ein heißer Sommer damals, was mir gelegen kam. Ich setzte Mutter auf die Terrasse in die Sonne, deckte sie mit einem Moskitonetz ab, um die Fliegen fernzuhalten und sah zu, wie sie langsam eintrocknete. Da ihr Körper in den letzten Jahren schon wie ein verschrumpelter Apfel ausgesehen hatte, veränderte sich nicht viel. So konnte sie bei mir sein, kein Staatsanwalt oder Richter interessierte sich für mich und meine Stammdomina freute sich monatlich über vierhundert Euro.
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Als der Herbst nahte, verlagerte ich sie ins Wohnzimmer und wunderte mich, dass sie nicht roch. Geringfügig muffig, aber das war zu ihren Lebzeiten schon so gewesen. Sie spricht weiterhin mit mir und ihr Ton wird von Tag zu Tag ruppiger.
Natürlich ist mir klar, dass diese Gespräche in meiner Einbildung stattfinden. Oder halten Sie mich für verrückt? Weil sie seitdem im übertragenen Sinne in meinem Kopf lebt, weiß sie jetzt Dinge, die sie vor ihrem Ableben nicht wissen konnte.
Sprüche wie: »Na, gehst dich wieder auspeitschen lassen?«, oder: »Ich weiß, dass du beim Wichsen an die kleine Latexhure denkst!«, häuften sich und stellten meine Geduld auf eine harte Probe. Ich habe wirklich alles versucht: Ihr den Mund zugeklebt, mir Ohropax in die Gehörgänge gesteckt oder eine Plane über sie geworfen. Nichts half.
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Vor Kurzem kam ich dahinter, dass ich sie nur hören kann, wenn ich sie sehe. Das war die Lösung. Wenn ich Mutter ins Schlafzimmer verfrachten und künftig im Wohnzimmer auf der Couch schlafen würde, hätte ich Ruhe. Ich vermauerte das Schlafzimmerfenster, damit sie mich nicht stören konnte, wenn ich auf der Terrasse saß oder im Garten beschäftigt war.
Sie aus dem Sessel zu heben, bereitete mir keine Mühe. Als ich sie durch die Tür bugsieren wollte, motzte sie los: »Wo bringst du mich hin, Dummkopf? Glaubst du, dass du mich so los wirst? Ich werde ewig bei dir sein!«
Das lenkte mich einen Moment ab und aus Versehen donnerte ihr Schädel gegen den Türrahmen. Es knirschte. Am Hals zeigte sich ein Riss, der Kopf neigte sich bedenklich nach unten und brach ab. Mit einem dumpfen Geräusch schlug er auf dem Holzboden auf. Bevor ich mich entschuldigen konnte, quoll ein schwarzer Schwall aus ihrem Halsstumpf. Käfer! Tausende, Hunderttausende von Käfern.
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Ich ekle mich vor Käfern, müssen Sie wissen. Sie ergossen sich über meinen Arm, meine Hüfte und Oberschenkel. Diejenigen, die auf den Boden gefallen waren, steuerten sofort auf meine Beine zu und versuchten an mir hochzuklettern. Mit einem Aufschrei ließ ich Mutter fallen, stürzte ins Schlafzimmer und knallte die Tür zu. Ich streifte die Insekten von meinem Körper und trampelte sie tot. Jeder Tritt auf die knirschenden, platzenden Leiber jagte mir Schauer des Entsetzens durch die Eingeweide. So gut ich konnte, dichtete ich den Spalt unter der Tür mit dem Bettvorleger ab und stopfte ein Papiertaschentuch ins Schlüsselloch.
Ich kann sie draußen hören. Das Rascheln und Krabbeln ihrer Beinchen und Kiefer, mit denen sie am Holz kratzen, das scharrende Wispern, das entsteht, wenn ihre Körper aneinander schaben, ist allgegenwärtig und lässt nicht nach. Auch nachts nicht. Ich weiß genau, dass sie es auf mich abgesehen haben. Mutter hat sie geschickt, um mir den Penis abzufressen.
Jetzt sitze ich seit drei Tagen hier eingeschlossen. Sehen Sie: Das ist mein Problem.