Xande
„Es ist sinnlos, sich verrückt zu machen, indem man versucht, sich davor zu bewahren, verrückt zu werden. Da könnte man genauso gut einfach klein beigeben und sich die Vernunft für später aufheben.“
(Douglas Adams)
Seit ich nicht mehr trinke, geht es mir gut. Ein langer, steiniger Weg liegt hinter mir. Vom Frauenwohnheim bis dorthin, wo ich jetzt bin. Und ohne Xande wäre es unmöglich gewesen, soweit zu kommen. Ich bin ihm unendlich dankbar. Ich habe vier Wände, eine Arbeit und fühle mich beschützt und gut aufgehoben.
*
Xande erschien fünf Monate nach Beendigung der Therapie bei mir. Ich stand knapp vor einem Rückfall und die regelmäßigen Gespräche mit meiner Therapeutin Anja gestalteten sich zunehmend schwierig.
»Jenny, du musst für dich sorgen«, war einer ihrer Lieblingssprüche.
»Das versuche ich doch!«, eine meiner Lieblingsantworten.
Ich sollte auf meine Gefühle achten. Lernen, sie zu benennen und Unterscheidungen zu treffen, was ich möchte und was nicht. Keine leichte Aufgabe, wenn man sein Leben damit zugebracht hat, jede Gefühlsregung mit Alkohol zu unterdrücken. Unter Anjas Anleitung brachte ich Woche um Woche damit zu, aus »Mir geht es schlecht« herauszufiltern, ob Enttäuschung, Neid, Frustration, Traurigkeit, Angst, Wut, Unsicherheit oder eines der vielen anderen negativen Gefühle dahintersteckte.
Die Aussage »Es geht mir gut« lernte ich in Freude, Gelassenheit, positive Erregung, Mut, Tatendrang, Neugierde, Euphorie, Ausgeglichenheit, Verliebtheit, Vorfreude, Bewunderung, Glücksgefühl oder Zufriedenheit aufzuschlüsseln.
Ich übte intensiv, die verschiedenen Kombinationen zu erkennen und zu verstehen. Diese ersten Lernschritte fielen mir leicht und ich fühlte mich gut mit der Tatsache, auf dem richtigen Weg zu sein. Bis zu der Therapiesitzung, in der ich Anja erzählte, dass ich aufgrund eines bevorstehenden Bewerbungsgesprächs Angst, Nervosität und Unsicherheit verspürte. Ein Anflug von Stolz mischte sich in meine Gefühlsmelange, weil ich in der Lage war, die herrschenden Empfindungen detailliert darzustellen.
»Und was tust du? Was tust du dafür, dass es dir besser geht?« Anjas Frage irritierte mich.
Wie eine Seifenblase, die mit einem Rosenbusch kollidiert, zerplatzte die Aufwallung von Stolz und machte Ratlosigkeit Platz. »Was soll ich denn tun?«
»Höre auf deine Gefühle, die Antwort steckt tief in dir, du musst sie nur finden. Das meine ich, wenn ich dir sage, dass du für dich sorgen sollst, Jenny!«
Für mich sorgen … für mich sorgen … fiel dieser Fachfrau, die Sucht einzig aus Büchern kannte, nichts Besseres ein, als mir ständig diese undurchschaubare Weisheit mit auf den Weg zu geben? An diesem Tag war ich froh, als die Sitzung zu Ende war.
*
Die Erkenntnis, an diesem Nachmittag noch einkaufen zu müssen, kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt.
Im Supermarkt schlug ich einen weiten Bogen um die Regale mit den alkoholischen Getränken, mir bewusst, dass sich die Konfrontation spätestens an der Kasse nicht vermeiden lassen würde. »Los! Kauf mich!«, flüsterte das Wodkafläschchen. »Hey Jenny, du weißt doch, wie gut ich mit Cola schmecke!«, wisperte der Cognacflachmann.
Ich lenkte mich ab, indem ich mich krampfhaft darauf konzentrierte, die Markennamen der Lockangebote auf der anderen Seite zu entziffern und Reime daraus zu bilden.
Plötzlich hieß ›Raider‹ ›Twix‹, ja das ging recht fix.
›Mars‹ bringt die Energie zurück, da reicht schon ein kleines Stück.
Sind sie zu stark, bist du zu schwach, mit ›Red Bull Shot‹, da wirst du wach.
Fünf Klingen sind besser als drei, ich hab keinen Bart – mir einerlei.
»Sechzehn Euro siebenundsechzig bitte!« Die Stimme der mürrischen Kassiererin unterbrach meine hochlyrischen Gedankengänge. Bei dem Versuch, gleichzeitig zu bezahlen und meine Einkäufe einzupacken, rasselte ein Teil des Wechselgelds zu Boden. Ich ließ es liegen. Egal! Nur schnell raus hier!
Ich hastete nach Hause. Dort war ich sicher vor den Fallen, die hinterlistige Werbefachleute überall für mich aufgestellt hatten. Die Wohnungstür knallte ins Schloss, ich legte die Sicherheitskette vor und lehnte mich mit dem Rücken an das Türblatt. Eine feuchte Schweißspur hinterlassend, rutschte ich an ihm hinunter, bis ich mich in einer hockenden Stellung wiederfand. In einem hilflosen Ansinnen, mich selbst festzuhalten, umschlang ich meine Knie mit den Armen. Ich kann nicht mehr! Warum ist es so verdammt schwierig, trocken zu bleiben? Lohnt sich dieser, nicht enden wollende Kampf überhaupt? Kämpfen, widerstehen, stark sein … ständig dieselben Scharmützel mit meiner Sucht ausfechten. Es wäre das Einfachste, aufzugeben, nachzugeben, mich fallenzulassen.
Das war der Moment, in dem Xande in mein Leben trat. Ein leises Geräusch ließ mich zur Decke sehen. Dort schwebte ein rotblau gestreifter Luftballon und schwang sanft, wie von einem leisen Windhauch bewegt, hin und her. Ich rieb mir die Augen. Wurde ich Opfer einer Halluzination? Hatte jemand in meine Wohnung eingebrochen und verspottete mich mit einem zynischen Gruß? Verfiel ich in ein verspätetes Delirium tremens?
»Keine Angst, ich bin hier, um dir zu helfen.«
Das ging zu weit! Ich sprang auf, streckte mich und schob den Luftballon zur Seite. Nichts! Nachdem ich sämtliche Jacken von der Garderobe gerissen und das Gestänge abgesucht hatte, wandte ich mich zur Küche, um dort weiter nach dem versteckten Lautsprecher zu suchen. Hoffentlich hatte der Witzbold – wer immer es gewesen sein mochte – keine Kamera installiert. Mir ging es schlecht genug. Ich wollte auf keinen Fall zusätzlich zur Witzfigur werden. Womöglich auf Youtube zweifelhafte Berühmtheit erlangen, als die Irre, die mit Luftballons spricht.
»Was machst du da?«
Ich schoss herum. Der Ballon schwebte in Augenhöhe vor meinem Gesicht und schien mich anzusehen.
»Hör zu, du Vollpfosten, ich werde dich anzeigen! Ich finde heraus, wie du das anstellst und dann gehe ich zur Polizei!«
Die Tatsache, dass ich nicht wusste, mit wem ich sprach, machte mich erst recht wütend.
»Anzeigen? Mich? Ich habe dir nichts getan. Im Gegenteil, ich will dir helfen.« Die Stimme kam direkt aus dem Inneren des gestreiften Ballons.
»Ich bin weder verrückt, noch leichtgläubig, halt jetzt deine Fresse!«, donnerte ich und riss die Besteckschublade auf. Mit dem langen, scharfen Filetiermesser in der Hand näherte ich mich dem Teil, das – wie ich erstaunt feststellte – in die hinterste Ecke zurückwich. »Bitte … lass mich erst reden. Wenn du mir dann nicht glaubst, kannst du mich zerstechen … aber bitte, hör mir erst zu.«
Ich beschloss, das Spiel mitzuspielen. Vielleicht konnte ich auf diese Art herausfinden, welcher Möchtegern-Spaßvogel hinter der Sache steckte. »Gut, dann fang an. Wer bist du? Woher kommst du? Was willst du? Und wer hat dich geschickt?«
Er löste sich langsam aus der Ecke und schwebte auf mich zu. Undeutlich erkannte ich Buchstaben auf der Hülle. Während ich beschäftigt war, sie zu entziffern, begann er zu erzählen: »Ich heiße Xande. Eigentlich Alexander, aber mit der Zeit sind die anderen Buchstaben verwischt – das viele Umarmen und Knuddeln, du verstehst?«
»Und weiter?«, verlangte ich. Die Sache fing an, mir Spaß zu machen. Ich war gespannt, wie sich der oder die Hintermänner dieses verunglückten Ulks aus der Affäre ziehen würden.
»Ich bin ein Ich-sorge-für-mich-Helfer. Wir suchen Menschen auf, die nicht gut für sich sorgen und helfen ihnen, Wege zu finden, auf andere Menschen angemessen zu reagieren.«
»Toll«, antwortete ich, »und wie sollte ich deiner Meinung nach auf einen sprechenden Luftballon reagieren?«
»Ich an deiner Stelle würde ihm zuhören. Ich mache dir einen Vorschlag: Gib mir einen Tag, um dich zu überzeugen. Ich werde die Luft aus mir entweichen lassen, du steckst dir die Haare zu einem Knoten hoch und ich verstecke mich darin. Ich werde dir einen Tag lang Tipps geben und Tricks verraten, wie du für dich sorgen kannst. Wenn dich diese vierundzwanzig Stunden nicht zufriedenstellen, verlasse ich dich und werde dich nie wieder belästigen.«
Ich spürte Unsicherheit in mir schwingen. Wurde ich tatsächlich verrückt? Das Ding sprach laut und deutlich, nicht in meinem Kopf, und es bewegte sich scheinbar selbstständig. Sicher, es gab technische Möglichkeiten, um derartige Effekte vorzutäuschen, aber wer sollte sich die Mühe machen, mit mir dieses Spiel zu spielen? Ich kannte niemanden, der sich ausreichend für mich interessierte, um einen solchen Aufwand zu betreiben. Oder steckte Anja hinter der Sache? Nein, keine Krankenkasse der Welt wäre bereit, eine solche Therapie zu finanzieren.
»Gut«, willigte ich ein, noch immer mit der festen Absicht, zu ergründen, wer oder was dahinter steckte. »Ich gebe dir diese Chance. In einer Stunde muss ich los zur Selbsthilfegruppe. Und du kommst mit.«
Ich erwärmte den Rest des Bohneneintopfs vom Vortag in der Mikrowelle, und während ich aß, platzierte sich Xande über der Lehne des zweiten Küchenstuhls und sah mir schweigend zu. Als ich mein Mahl beendet hatte, ging ich ins Bad und steckte mir verabredungsgemäß die Haare zu einem Knoten an den Hinterkopf. Ein leises Zischen ertönte und der zu einem schlapprigen Latexstückchen geschrumpfte Luftballon schlüpfte zwischen die Strähnen.
»Kannst du mich hören?«, vergewisserte er sich.
»Roger, Houston, wir verstehen Sie laut und klar«, erwiderte ich in einem Anflug von Humor, den ich mir nicht erklären konnte.
Xandes erste Bewährungsprobe kam schneller als erwartet. Der Linienbus platzte aus allen Nähten, der Feierabendverkehr war in vollem Gange. Eingezwängt stand ich im Mittelgang, unfähig, mich zu bewegen, als ich ein leises Keuchen vernahm. Ich vermutete, es käme von meinem Begleiter im Haarknoten, doch der Luftzug an meinem Ohr belehrte mich eines Besseren.
Der Mann hinter mir rieb sich an mir! Ich fühlte sein erigiertes Glied an meiner Pobacke und er bewegte den Unterleib hin und her. Scham und Hilflosigkeit überschwemmten mich und ließen meinen Körper erstarren. Meine Hand verkrampfte sich um den Haltegriff, die Fingerknöchel traten weiß hervor. Angst und Scham wanderten aus meinem Magen in meine Kehle, als ein Flüstern mein Trommelfell erreichte. Xande!
Was er mir vorschlug, klang so ungeheuerlich, dass ich leise nachfragte: »Ist das dein Ernst?«
»Tu es! Du wirst sehen, es geht dir danach viel besser!«
Ich weiß bis heute nicht, woher ich den Mut nahm, aber ich gehorchte. Ich drehte mich zu dem Kerl um. »Such dir eine andere Arschbacke, an der du deinen dreckigen Schwanz rubbeln kannst, du perverser kleiner Hurensohn!«, brüllte ich ihn an.
Seine Gesichtsfarbe wechselte von einem sanften Rotton sexueller Erregung in ein tiefes Violett. Er wandte sich ab und drängelte sich fluchtartig durch die Fahrgäste zur Tür. Für einen Moment herrschte absolute Stille im Bus, dann fing eine ältere Dame neben mir an, zu klatschen. Innerhalb weniger Sekunden fielen die meisten der Umstehenden ein. Schnell verflog die aufkeimende Verlegenheit, Triumph und Selbstzufriedenheit quollen in mir hoch und ich wisperte ein leises: »Danke, Xande!«
Herrlich! Ich hatte mich durchgesetzt. Anja wäre stolz auf mich.
*
Das Treffen der Selbsthilfegruppe verlief wie viele Treffen davor. Man bewunderte meine neue Frisur und ich fragte mich, ob diese Bewunderung ausgesprochen worden wäre, hätte man gewusst, warum ich die Haare hochgesteckt hatte. Ich erzählte von meiner Woche, meinem Besuch bei der Therapeutin, meinem Anfall von Suchtdruck, und wie ich ihn überwunden hatte. Xande und die Szene im Bus verschwieg ich.
*
Am nächsten Morgen erwachte ich erfrischt und fühlte mich ausgeruht, wie lange nicht mehr. Fröhlich ›Stairway to heaven‹ vor mich hin pfeifend, bereitete ich mir ein Frühstück. Meine gute Laune war schlagartig dahin, als ich die Zeitung aus dem Briefkasten holen wollte. Sie war verschwunden. Im regelmäßigen Verschwinden meines Tageblatts lag nichts geheimnisvolles. Ich wusste seit Langem, dass mein Nachbar aus der dritten Etage sie nahm, wann immer ihn nach einer Morgenlektüre gelüstete. Er stahl bei allen Nachbarn abwechselnd, jedoch traute sich kaum jemand im Haus, dem aggressiven alten Mann mit dem auf Frauenhintern und Brüste fixierten Starren die Meinung zu sagen.
Innerlich vor Wut kochend ließ ich mich auf den Küchenstuhl fallen und begann, hektisch in meinem lauwarm gewordenen Kaffee zu rühren.
»Guten Morgen, meine kleine Amazone.« Ich sah zu Xande auf, der in der Küchentür schwebte.
»Hey, hey … was ist dir denn über die Leber gelaufen?« Er schien in mich hineinsehen zu können. Der Schriftzug auf seiner Oberfläche sah aus, als würde er grinsen.
»Du weißt es bereits, oder?«, fragte ich unnötigerweise.
»Natürlich weiß ich es. Wie sollte ich dir helfen können, wenn ich nicht spüre, was in dir vorgeht?«
»Und was rätst du mir? Soll ich zu ihm hochgehen und ihn anschreien, wie den Kerl gestern?« Gespannt wartete ich auf die Antwort. Hätte Xande einen Bart besessen, er würde ihn sich jetzt gekratzt haben. Es dauerte einige Sekunden, bis er antwortete.
»Ich weiß etwas Besseres …«
Was er mir erklärte, bewirkte, dass ich kräftig schlucken und tief durchatmen musste.
»Und du glaubst, dass das funktioniert?«
»Ja, das glaube ich«, sagte er schlicht.
*
Zehn Minuten später fand ich mich vor der Tür im dritten Stock wieder und drückte auf die Klingel. Der Alte schien im Flur gelauert zu haben, so schnell öffnete er.
»Guten Morgen, junge Frau.« Seine Stimme triefte vor falscher Freundlichkeit und der Blick aus seinen wässrig-blauen Augen rutschte augenblicklich eine Etage tiefer.
Ich befolgte buchstabengetreu Xandes Anordnungen. »Schau mir gefälligst ins Gesicht, wenn ich mit dir rede, du notgeiler alter Bock!«
Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch. »Nana, wer wird denn ...«
Weiter kam er nicht. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, packte ihn im Nacken und donnerte ihm meine Stirn auf die Nase. Das Brechen des Nasenbeins hallte durchs Treppenhaus. Er schrie auf, ein Blutschwall schoss aus seinen Nasenlöchern und färbte sein T-Shirt rot. Er streckte abwehrend die Hände vor sich. Ich trat einen Schritt zurück und setzte ihm schwungvoll meinen Fuß zwischen die Beine. Aus dem Schrei wurde ein Gurgeln. Er knickte in die Knie. Mit beiden Händen griff ich an den Ausschnitt meiner Bluse und zerriss sie. Knöpfe flogen. Von meinem Hinterkopf glaubte ich ein leises Kichern zu vernehmen, bevor ich losbrüllte.
»Hilfe! Vergewaltigung! Hilfe!«
*
Ich befürchtete, man könnte unser Lachen im gesamten Haus hören, als Xande und ich die Situation und deren Nachspiel rekapitulierten, uns Szenen daraus gegenseitig vorspielten und der Freude darüber Ausdruck verliehen, dass der alte Sack endlich bekommen hatte, was er verdiente.
»Üch habe schon immer gewüsst, dass mit döm Körl was nücht stümmt …«, imitierte Xande die Nachbarin aus dem zweiten Stock.
»Und das Gesicht der Polizisten, als sie die Kinderpornosammlung in seiner Wohnung fanden … göttlich!«, fiel ich ein.
Der würde mir nie wieder meine Zeitung klauen! Ich hatte für mich gesorgt, Wut und Verärgerung hatten sich in Euphorie und Ausgelassenheit verwandelt. Ich war Xande unendlich dankbar. Wozu meine Therapeutin noch Monate gebraucht hätte, hatte er in wenigen Stunden geschafft: Aus einer unbeholfenen, unsicheren Person war eine Frau erwachsen, die sich wehrte, sich nichts gefallen ließ. Keine winzigen, hart erarbeiteten Erfolgserlebnisse mehr, die regelmäßig die Frage aufwarfen, ob sich der Aufwand für den kleinen Fortschritt lohnte. Triumphe waren angesagt!
*
Mit tief empfundener Befriedigung schlug ich am folgenden Morgen meine Zeitung auf. Xande sah mir ruhig zu, wie ich mein Nutella-Brot aß und den Kaffee schlürfte.
»Und … wer ist als Nächstes dran?«, beendete ich das gemeinsame Schweigen.
»Das musst du mir sagen, Jenny«, antwortete er. »Es geht um deine Befindlichkeiten.«
Eine schwierige Frage. Es gab einige Menschen, die mich im Laufe meines Lebens ungerecht behandelt, betrogen oder verletzt hatten. Die Reihe der ungerupften Hühnchen war lang. Angefangen bei den katholischen Nonnen im Kindergarten, die mich regelrecht schikanierten, über die Lehrer in der Schule, die das Wort ›Dyskalkulie‹ nicht kannten, bis hin zu …
»Mein Ex!«, rief ich, mir plötzlich im Klaren darüber, dass dieser Mann Schuld an meiner Sucht trug und dafür verantwortlich war, dass ich diesen schweren, entbehrungsreichen Weg gehen musste. »Erich, das versoffene Schwein!«, fügte ich hinzu.
Ich hasste ihn. Nicht, weil er mich regelmäßig verprügelt hatte. Nicht für die Erniedrigungen und das ständige Fremdgehen mit irgendwelchen Schlampen aus seiner Säuferclique. Ich hasste ihn abgrundtief dafür, dass er mich in seine Abhängigkeit mit hineingezogen hatte.
»Nun«, sagte Xande ruhig, »lass uns überlegen, wie wir deine Gefühlslage ihm gegenüber in die Waage bekommen.«
Schnell entstand ein Plan, dessen Ausführung damit begann, dass ich Erich anrief.
»Hallo Erich … ich … es tut mir leid, dass ich weggerannt bin. Ich will zurück zu dir. Ich vermisse dich sehr«, hauchte ich, Unsicherheit und Reue spielend, in mein Handy. Ich schaffte es, ein leichtes Lallen einzubauen, das ihm das Gefühl geben sollte, es mit der leicht zu beeinflussenden, naiven Jenny von früher zu tun zu haben. Er schwieg einige Sekunden.
»Jaaaa … dann komm am Besten vorbei, dass wir reden können. Ich bin den ganzen Tag über zu Hause. Und bring Bier mit!« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, legte er auf.
Ich ahnte, was in seinen Gedanken vorging: Ha! Klar, dass das Miststück zurückkommt! Der werde ich es erst mal richtig besorgen!
Hätte er gewusst, wie vollständig er sich irrte …
*
Kurz nach vierzehn Uhr stand ich vor der Tür seiner Wohnung. Er teilte sie sich mit einem Freund, der um diese Zeit seinem Minijob im Supermarkt nachging. Wir würden ungestört sein. Als ich die Hand zur Klingel hob, klimperten die Bierflaschen in der Umhängetasche leise. Es war aufregend gewesen, nach einer gefühlten Ewigkeit wieder Alkohol zu kaufen, und noch aufregender war es, mir den Mund gründlich mit dem Zeug auszuspülen und ein paar Tropfen davon in die Haare und auf das Shirt zu verteilen. Erich dadurch in Sicherheit zu wiegen, gehörte zum Plan.
»Ah, da bist du ja. Hast du Bier dabei?« Seine Worte klangen verwaschen, und als er zur Seite trat, um den Eingang freizugeben, wirkten seine Bewegungen unsicher. Nichts anderes hatte ich erwartet.
»Natürlich hab ich Bier mitgebracht«, versicherte ich, während ich mich an ihm vorbei in den muffigen Flur drückte. Sein Hemd hing ihm halb aus der Hose und er roch säuerlich nach Schweiß und alkoholischen Ausdünstungen.
Im Wohnzimmer stellte ich die Tasche mit den Flaschen auf den schmierigen Tisch und drehte mich zu ihm um. Er trat dicht an mich heran, seine Fahne wirkte wie eine Ohrfeige.
»Machst mir eins auf, bevor …?«, lallte er und griff mir an die Brust.
»Natürlich, Schatz«, erwiderte ich.
Xande kicherte leise in seinem Versteck. Ich fasste eine Bierflasche fest am Hals, schlug an der Tischkante den Boden ab und rammte sie Erich in den Magen. Schaum spritzte durch den Raum. Eine Mischung aus Gerstensaft und Blut tränkte sein Hemd. Er riss die Augen auf, keuchte gurgelnd und versuchte nach meinem Hals zu greifen. Ich hob die Flasche und zog sie durch sein Gesicht. Für einen Augenblick blitzte weißer Knochen in den klaffenden Schnitten an der Stirn und am rechten Nasenflügel, dann färbten sie sich rot. Er schlug die Hände vors Gesicht. Was folgte, erfüllte mich mit vollkommener Zufriedenheit. Xande lachte ausgelassen und wurde umso fröhlicher, je weiter ich mein Spiel trieb. So funktioniert das also, ›für sich sorgen‹. Endlich habe ich das begriffen.
*
Ein Schlüsselbund rasselt und ein groß gewachsener Mann öffnet die Tür zu meinem Zimmer.
»Es ist Zeit für die Arbeitstherapie, Frau Bremer. Sind Sie fertig?«, fragt er freundlich.
Die Aufseher hier sind sehr nett und immer adrett gekleidet, nicht wie die im Gefängnis. Hier in der Forensik versteht man Menschen wie mich. Seit ich nicht mehr trinke, geht es mir gut. Ich habe vier Wände, eine Arbeit und fühle mich beschützt und gut aufgehoben.