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„Je genauer du planst, desto härter trifft dich der Zufall.“

(Peter Rühmkopf )

Was für ein nicht enden wollender Tag, denkt sich Oliver, als er in seiner unordentlichen, kleinen Wohnung die verwaschene Jacke in die Ecke feuert, die Schuhe hinterher schleudert und wie jeden Abend zur Fernbedienung greift. Er zappt gelangweilt durch die Programme, geht zum Schreibtisch und setzt sich in seinen abgewetzten Lederdrehstuhl. Den Rechner hochfahren und sich bei ›Spider.de‹ in den Erotikchat einloggen, gehört ebenfalls zum Ritual.

*

Er chattet nicht, zumindest nicht im Sinne des Wortes. Er betritt den Raum und liest still mit, was sich die anderen Chatter mitzuteilen haben. Eigentlich pervers, denkt er. Ich sitze den ganzen Tag am Computer, und abends habe ich nichts Besseres zu tun, als auf den Monitor zu glotzen.

Ein rotes Blinken am unteren Rand des Eingabefeldes zeigt an, dass jemand einen Privatdialog zu ihm geöffnet hat. Normalerweise klickt er solche Avancen sofort weg.

›Anna-Maria‹ steht dort.

Nicht ›Sweetbitch‹ oder ›Online-Schlampe‹, wie einer von den auf diesem Server üblichen Nicknamen.

Er öffnet das Dialogfeld.

›Guten Abend, magst du mit mir schreiben?‹, steht da. Nicht das übliche ›Hi‹ oder ›Huhu‹.

›Dir auch einen guten Abend‹, tippt er, drückt die Enter-Taste und schickt schnell ›Ja, ich möchte gern mit dir schreiben‹ hinterher, als nicht sofort eine Antwort kommt.

Dreißig Sekunden lang passiert nichts, dann erscheint ein weiterer Satz auf dem Bildschirm: ›Sorry, ich musste eben die Katze rauslassen.‹

Sie mag Katzen, denkt Oliver und erinnert sich an die dicke, alte Katze seiner Großmutter, die den ganzen Tag über faul und mürrisch in ihrem Körbchen gelegen hatte. Er hatte sie gehasst.

›Ich liebe Katzen. Was für eine hast du denn?‹

*

Seit diesem Tag freut er sich jeden Abend auf den Augenblick, in dem er sich einloggen und mit Anna-Maria schreiben kann.

Sie schreiben jeden Abend.

Als sie ihm vor ein paar Tagen Bilder von sich schickte, traf es ihn wie ein Blitz. Sie ist schön, mit blonden Haaren, blauen Augen, der keck geschwungenen Nase und einer Figur, die keine Männerwünsche offen lässt. Doch das Beste an ihr ist ihre frische, freundliche, jugendliche Art, ihre Intelligenz und Eloquenz.

Manchmal blödeln sie nur, manchmal philosophieren sie den ganzen Abend über ernsthafte Themen, und gelegentlich schreiben sie, wie es sich auf einem Erotikportal gehört, über sexuelle Dinge.

*

Er hat in letzter Zeit viel verändert: Er pflegt sich, rasiert sich jeden Morgen. Seine Kleidung ist neu und wird nach dem Waschen gebügelt. Die Wohnung ist ordentlich und er trägt, zum großen Erstaunen seiner Arbeitskollegen, ein fröhliches Dauerlächeln im Gesicht.

Oliver ist verliebt.

*

›Wann schickst du mir Fotos von dir, Oliver?‹

Seit einigen Tagen fragt sie ihn bereits nach Bildern, langsam gehen ihm die Ausreden aus. Er hat im Profil 183 cm, 77 kg, dunkles, volles Haar, athletische Figur, angegeben. In Wahrheit ist er 169 cm groß, mit 94 Kilo nicht annähernd athletisch und sein blonder, schütterer Haarwuchs findet lediglich an den Seiten seines Kopfes statt. Sein Gesicht ist von tiefen Aknenarben entstellt und zu allem Überfluss hat er sich im Chatprofil zehn Jahre jünger gemacht. Im Netz schummelt jeder, dachte er beim Ausfüllen der Eingabefelder.

Irgendetwas muss ich mir einfallen lassen, grübelt Oliver und schreibt zurück.

›Ich bin vielleicht nicht das, was du dir vorstellst‹, und schnell, bevor er es sich anders überlegt, fügt er hinzu: ›Ich hab im Profil ein wenig geschummelt …‹

Seine Finger zittern leicht, als er diese Worte tippt. Umso mehr überrascht ihn Anna-Marias Antwort.

›Das ist nicht schlimm. Ich mag dich so, wie du bist! Und ich würde dich gerne kennenlernen.‹

Oliver bemerkt, wie sich sein Herzschlag beschleunigt.

*

Die Aussicht, diese tolle Frau real zu treffen, lässt ein leichtes Kribbeln durch seine Lenden ziehen.

Sofort wird ihm sein nächstes Problem bewusst: Es gibt keine Fotos von ihm! Im digitalen Zeitalter, in dem jeder jeden und alles fotografiert, gibt es keine Bilder, auf denen er zu sehen ist. Keine Schnappschüsse vom Bowling, Minigolf, Badesee, oder aus der Disco. Es fehlt eine unverzichtbare Zutat: Freunde, die diese Bilder knipsen.

Freunde hat Oliver nicht. Er hat flüchtige Bekannte, Arbeitskollegen. Menschen, die er als Freunde bezeichnen würde, gibt es nicht.

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Bisher gab es keine Notwendigkeit, sichtbare Beweise seiner Existenz zu besitzen. Er hatte nie eins jener peinlichen mit-der-Kamera-in-der-Hand-vor-dem-Spiegel-Fotos von sich gemacht, über die er sich im Chat gern amüsierte. Schmutzige Badezimmerfliesen oder Duschvorhänge im Hintergrund und Oben-ohne-Porträts mit Kloschüssel im Bild sind in Chatprofilen nicht selten.

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Ein teurer Spaß, denkt er, als er mit dem Umschlag das Fotoatelier verlässt. Vierzig Euro für den Friseur und ein Hunderter für die Bilder. Trotzdem ist er zufrieden. Der Fotograf hat sein Bestes getan, um Olivers Problemzonen zu kaschieren.

So schnell es die öffentlichen Verkehrsmittel erlauben, eilt er nach Hause, fährt den Rechner hoch, legt die CD-ROM mit den Aufnahmen ins Laufwerk und lädt die Kunstwerke auf ›Spider.de‹ hoch.

Er hat Glück. Einige Minuten später erhält er eine Mail vom Support mit der Mitteilung über die Freischaltung. Anna-Maria ist offline. Er packt die Bilder schnell in eine Mail und schickt sie ihr, um sie damit zu überraschen. Anschließend ändert er seinen Status in ›versteckt online‹ und wartet.

*

Auf MTV läuft Johnny Cash – Hurt. Ohne die Musik zu registrieren, starrt er auf die rechte untere Ecke des Bildschirms, dorthin, wo jeden Moment die Meldung: ›Anna-Maria ist jetzt online‹, erscheinen muss.

I wear this crown of thorns, Upon my liar's chair, tönt es aus dem Fernseher, als das ersehnte Pop-up-Fenster erscheint. Kurze Zeit später sagt ihm ein erneutes Pop-up: ›Anna-Maria hat dir eine neue Mail geschickt‹.

Oliver öffnet die Nachricht, seine Finger vibrieren leicht auf der Maus.

›Huhu Oliver, danke für die tollen Bilder. Du hast dir ja richtig Mühe gegeben für mich. -lächel-‹, steht da und sein Herz schlägt höher. Mit steigender Erregung liest er weiter: ›Ich würde dich gerne persönlich kennenlernen, wäre es dir recht, wenn ich dich am kommenden Wochenende besuche? Erwartungsvolle Grüße, Anna‹.

Eine Mischung aus Vorfreude, Angst, sexueller Erregung und Unsicherheit verwirbelt seine Gedärme, und seine Fantasie zaubert Bilder von dem, was zwischen ihm und Anna-Maria passieren wird.

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In Olivers Kopf entstehen seit drei Tagen surreale Gemälde, die als Hauptinhalt eine sich ihm hingebende Anna-Maria haben. In schillernden Farben malt er sich aus, was er mit ihr anstellen wird. All jene Fantasien, die sich in den letzten Jahren bei ihm aufgestaut haben, schreien nach Verwirklichung.

*

Noch 24 Stunden. Oliver ist vorbereitet. Er beschließt, seine Vorfreude richtig auszukosten, loggt sich bei ›Spider.de‹ ein, um Anna-Marias Bilder anzusehen. Er klickt auf ihr Profil.

›Benutzer 'Anna-Maria' ist unbekannt‹, steht da. Eine schlichte schwarze Zeile in einem weißen Feld. Das muss ein Irrtum sein, vermutlich spinnt der Server, denkt Oliver und versucht es erneut, mit demselben Ergebnis. Nach dem dritten Versuch lehnt er sich im Stuhl zurück, um das Gedankenkarussell in seinem Kopf zu beruhigen, und lässt sich alle plausiblen Möglichkeiten durch den Kopf gehen – ohne befriedigendes Ergebnis. Verwirrt schreibt er eine Mail an den Chat-Support, schildert die Situation und fragt nach den möglichen Gründen für das Verschwinden von Anna-Marias Profil.

Um die Zeit bis zu einer Antwort zu überbrücken, öffnet er eine Flasche Wein und setzt sich vor den Fernseher. Einen Film und drei Gläser Wein später blinkt am Monitor des PCs die Benachrichtigung, dass er eine Mail vom Support hat.

›Hallo, der Benutzer 'Anna-Maria' hat heute seinen Account ohne Angabe von Gründen gelöscht. Bitte habe Verständnis dafür, dass wir Dir aus Datenschutzgründen keine weiteren Auskünfte geben können.‹

Oliver starrt in den Fernseher und öffnet eine zweite Flasche Wein. Er diagnostiziert bei sich eine schwere Störung seines Traum-Wunsch-Kontinuums und schläft mit zurückgelegtem Kopf laut schnarchend ein.

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Der erste Eindruck dieses Tages ist schmerzhafte Helligkeit, die ihn weckt. Der Zweite ist das presslufthammerartige Dröhnen in seinem Kopf, als er versucht, die Augen zu öffnen. Sein Hals fühlt sich an wie mit brennenden Streichhölzern ausgekleidet; viel zu schwach, um den riesenhaften Kopf zu tragen.

Gut, dass ich Urlaub habe, denkt Oliver, schleppt sich ins Bad, übergießt sein Gesicht ausgiebig mit kaltem Wasser und schluckt drei Aspirin. Anschließend legt er sich ins Bett und schläft, bis ihn Hunger und Durst am späten Nachmittag wecken.

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Drei Spiegeleier mit Schinken und ein Tetrapack Orangensaft sorgen dafür, dass er sich besser fühlt. Er fängt an, die Lage zu durchdenken. Anna-Maria – falls sie so heißt – hat ihn aufs Übelste verarscht.

»Wenn es eine Möglichkeit gäbe, die Weiber so weit zu bringen, sich mir mit Leib und Seele hinzugeben …«, brummelt er gedankenverloren vor sich hin. »… so wie Hypnose«, spinnt er den Faden weiter, »sodass sie nicht mehr in der Lage sind, Nein zu sagen, wenn ich befehle.«

Er beschließt, bei einem Glas Orangensaft darüber nachzudenken. Dieser Gedanke will ihn nicht mehr loslassen.

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Oliver hat es sich mit einer Packung Erdnussflips, einer Kanne Kaffee und einem Big-Pack Marlboro vor dem Rechner gemütlich gemacht. Gelangweilt surft er durch verschiedene Homepages. Ein Werbefenster springt auf. Reflexartig klickt er auf das ›X‹ oben rechts, ohne den Inhalt des Fensters wahrzunehmen. Trotzdem hat er registriert, dass es sich um eine Werbung für eine Versicherung gehandelt hat.

Erstaunlich, was Auge und Gehirn zu leisten in der Lage sind, denkt er.

Während er diesem Gedanken nachhängt, erinnert er sich an einen Artikel, den er vor Kurzem gelesen hat. Schnell gibt er die Begriffe ›unterschwellig‹, ›Wahrnehmung‹ und ›Werbung‹ bei der Suchmaschine ein und vertieft sich in die Ergebnisse.

Die Ellenbogen links und rechts der Tastatur aufgestützt, liest er gebannt zuerst eine Abhandlung über subliminale Werbung, anschließend verschlingt er die Studie über die Iss-Popcorn-trink-Cola-Studie von 1957 und weitere Artikel zu diesem Thema. Diese Artikel und Experimente sind älteren Datums und er findet keinen positiven Bericht, der jünger als zwanzig Jahre ist. Das bestärkt ihn in der Annahme, dass an dem Thema etwas Wahres ist. Logischerweise sind diejenigen, die unterschwellige Werbung erfolgreich betreiben, nicht daran interessiert, ihre Erfolge publik zu machen. Es würde kein gutes Licht auf sie werfen.

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So gut hat Oliver lange nicht mehr geschlafen. Die Gewissheit, seinem Ziel nähergekommen zu sein, war ein sanftes Ruhekissen. Er weiß jetzt, was zu tun ist. Er muss es schaffen, mehrere kurze Nachrichten unter eine Oberfläche zu setzen, die das Bewusstsein des Betrachters fesseln. Oliver versucht, verschiedene kurze Botschaften zu entwerfen, die in der Lage sind, in den Spalt zwischen oberflächlichem und unbewusstem Denken einzudringen.

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Er beschließt, das Prinzip zu testen. Zu diesem Zweck montiert er einige Bilder moderner Architektur auf einen Song von ›Lady Gaga‹ und hinterlegt beides mit vier kurzen Stimulatoren: Zwei, um einen hypnotischen Impuls auszulösen, und zwei, die dem Betrachter suggerieren, sich am Hinterkopf zu kratzen. Er meldet sich voller Vorfreude bei MSN an und öffnet einen Dialog zu seinem Bruder Samuel.

›Hallo Brüderchen, mach bitte die Cam an, ich will dir was zeigen‹, schreibt er, und Sekunden später öffnet sich das Bildfenster.

›Was gibt es Wichtiges?‹, fragt Samuel und blinzelt in die Kamera.

›Ich möchte dir kurz was zeigen und wissen, was du darüber denkst.‹

Er sendet die Montage. Gebannt starrt Oliver auf das Fenster mit dem Livebild. Er verfolgt, wie sich Samuels Arm mit der Maus bewegt und die Augen über den Bildschirm wandern. Oliver stützt sich auf den Ellenbogen und legt sein Gesicht in die Handfläche. Das Lied ist zu Ende, nichts passiert. Auf das Bild starrend, überlegt er, was falsch gelaufen sein könnte, als sich die Hand seines Bruders an den Hinterkopf hebt und dort ausgiebig zu kratzen beginnt.

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Oliver muss sich zusammenreißen, um nicht vor Freude brüllend im Zimmer auf und ab zu hüpfen. Die Mieter unter ihm hätten keinerlei Verständnis dafür. In Samuels Dialogfeld schreibt er: ›Ich muss ausloggen. Ich erzähle dir morgen, was es damit auf sich hat.‹

Er schließt den Messenger und lächelt, als er sich vorstellt, wie ratlos sein Bruder jetzt vor dem PC sitzt, das sinnlose Machwerk betrachtet und sich am Kopf kratzt. Sofort macht er sich daran, Formulierungen auszuarbeiten, die den Impuls auslösen sollen, ihn in seiner Wohnung zu besuchen. Nach langem Überlegen entscheidet er sich für eine Impulskette von mehreren Botschaften. Als er davon überzeugt ist, die richtige Kombination gefunden zu haben, ist es weit nach Mitternacht. Mit müden, rotgeränderten Augen und Durchblutungsstörungen in den Pobacken trollt er sich in sein Bett.

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Hämmernde Rhythmen wecken ihn.

… das Sonnenlicht den Geist verwirrt, ein blindes Kind, das vorwärts kriecht, weil es seine Mutter riecht …

Ach, 'Rammstein', denkt Oliver träge und ihm wird bewusst, dass heute sein erster Arbeitstag nach dem Urlaub ist und die Musik aus dem Wecker kommt. Langsam steigt er aus dem Bett und schlurft Richtung Badezimmer.

Du riechst so gut, du riechst so gut, ich geh dir hinterher, du riechst so gut, ich finde dich …, begleitet ihn die Stimme aus dem Radiowecker.

Ja, geht es ihm durch den Kopf, ich werde dich kriegen, du Dreckstück!

*

Die U-Bahn ist verspätet und Oliver schafft es gerade noch, pünktlich zu sein. Lustlos beginnt er zu arbeiten. Das Programm, das er heute schreibt, ist keine Herausforderung für ihn. In der Mittagspause sucht er gezielt den Kontakt zu seinem Kollegen Terkan. Er setzt sich in dem kleinen, gemütlichen Bistro, in welchem die meisten Mitarbeiter der Firma ihre Pause verbringen, zu ihm an den Tisch. Nach einigen belanglosen Floskeln über das Wetter und den vergangenen Urlaub kommt Oliver zur Sache.

»Sag mal Terkan, du hattest doch die Programmierung für ›Spider.de‹ auf dem Schreibtisch …«

Mit einem Blick über seinen Brillenrand hinweg kommentiert Terkan diese Ansprache: »Und?«

Oliver fühlt sich, als säße er mit dem Wagen in einem Schlammloch fest. Kein Zurück!

»Ich brauche die Sicherheitseinstellungen der Datenbank«, erklärt er.

Terkan sieht ihn auf diese Art an, die er nicht zu deuten weiß, und erwidert: »Ich frag jetzt nicht wofür, Oliver. Ich kenne dich als vernünftigen Menschen. Ich hoffe, dass du nichts Unüberlegtes tun wirst.«

Oliver schweigt verlegen.

»Es kostet dich 'nen Fuffi, ich schick's dir heute Abend.«

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Es ist ein wunderschöner Sommertag und Oliver entschließt sich, zu Fuß nach Hause zu gehen. Er wählt den Weg durch den Park. In seinen Gedanken jagen sich Pläne und Programmschritte in rasender Geschwindigkeit, sodass er keinen Blick für die blühenden, duftenden Beete und die grünen Rasenflächen hat. Das Knirschen seiner Schritte auf dem Kiesweg gibt seinem Denken den Takt, und als er den Schlüssel in das Schloss der Haustür steckt, hat sein Plan Gestalt angenommen.

*

Nachdem er sich eine Packung Miracoli einverleibt und Kaffee gekocht hat, fährt er den Rechner hoch und ruft die Adminseite von ›Spider.de‹ auf. Terkans Mail ist angekommen. Ein leiser Schauer rinnt über seinen Rücken, als er den Code auf dem Monitor sieht. Seine Finger rattern über die Tastatur und zwei Minuten später hat er Zugang. Seine Erregung steigert sich, als er die zu dem Nickname ›Anna-Maria‹ gehörende Datei vor sich hat. Schnell kopiert er die E-Mail-Adresse.

Hab ich dich, du kleines Miststück!

Er öffnet den Tor-Browser, wählt eine IP-Adresse in Österreich aus und legt damit einen neuen E-Mail-Account an. Anschließend packt er seine Power-Point-Präsentation mit den sorgfältig eingebetteten Befehlen in eine Mail und schickt sie an Anna-Maria.

»Jetzt heißt es warten«, murmelt er leise, »bis das Häschen in die Falle geht.«

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Die Falle ist vorbereitet. Er hat eine große Packung Schlafmittel, desweiteren zwei Paar Handschellen und zwanzig Meter Bondageseil. Vier Schwerlastdübel, mit kräftigen Haken darin, warten in der Zimmerdecke, sowie eine stabile Lederpeitsche und eine Reitgerte.

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Miriam streckt sich, dehnt den Rücken und die Schultern, dreht den Oberkörper hin und her und schüttelt die Finger gründlich aus.

»Oh nein, nicht jetzt noch!«, schimpft sie, als ein Pling ihr den Eingang einer E-Mail anzeigt. »Hoffentlich nicht noch mehr Arbeit, es ist genug für heute!«

Stundenlang hat sie an dem neuen Online-Rollenspiel gearbeitet. Viermal an diesem Tag erreichte sie eine Mail mit Aktualisierungen, die sie sofort umsetzen sollte.

»Was glauben die, wer ich bin?«, fragt sie sich. »Eine japanisch-indische Programmiererkreuzung mit acht Armen?«

Zu allem Überfluss hat sie sich heute einen Virus eingefangen, den die Antivirensoftware nicht erkannte. Es scheint ein harmloser Virus zu sein, er behindert lediglich das Öffnen von Bilddateien und das stört ihre Arbeit nicht.

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Ihre Gedanken schweifen ab. Wer wohl der nächste Vollidiot ist, der bei ›Spider.de‹ auf meine Nummer reinfällt?

Sie muss grinsen bei dem Gedanken, was für virtuelle Verrenkungen die notgeilen Typen machen, um sie rumzukriegen. Zwar ist es aufwendig, sich alle paar Monate ein neues Profil zu basteln und sich eine neue Lebensgeschichte auszudenken, aber der Spaß ist ihr diese Anstrengung wert. Ihre Gedanken gleiten kurz zu Oliver. Was hatten sie und ihre Freundinnen gelacht, als sie ihn nach intimen Details ausgefragt und er jede Frage wahrheitsgemäß beantwortet hatte. Amüsantes Kerlchen und schrecklich naiv, konstatiert Miriam, bevor sie ihn wieder vergisst und sich widerstrebend weiter der Arbeit widmet.

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Wer zur Hölle ist Helmut Kaiser aus Wien? Da sie selbstständige Spieleentwicklerin ist, muss sie mit neuen Kunden rechnen, und deshalb klickt sie mit einer Mischung aus Widerwillen und Neugierde auf den Anhang der Mail. Dort, wo eine Power-Point-Präsentation erscheinen sollte, zeigt sich eine Seite mit Programmcodes.

»Scheiß Virus!«, flucht Miriam, und als sie verärgert die Seite schließen will, fällt ihr etwas auf.

Sie rückt ihre Brille zurecht und überprüft die Zeilen – eine nach der anderen – gründlich. Ihre Gedanken jagen sich, ein Gefühl der Beklemmung macht sich breit und sie beschließt, sich eine Pause zum Nachdenken und einen kleinen Cognac zu gönnen.

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Die wohlige Wärme, die der Weinbrand in ihrem Bauch auslöst, entspannt sie und so macht sie sich daran, zu ergründen, was diese Mail für ein Geheimnis birgt. Eine Sequenz zwischen den Bildern kann sie nicht zuordnen. Sie kramt ihr altes Handbuch aus der Schreibtischschublade und schlägt nach. Zuerst versteht sie nicht, was es für Zusammenhänge zwischen Einblendungen von drei Millisekunden Dauer und kurzen Textfragmenten geben soll – doch dann versteht sie …

»Du mieser kleiner Bastard!«, ruft sie laut. Ihre Katze verlässt fluchtartig den Raum. Miriam weiß sofort, wem sie diese Überraschung zu verdanken hat. »Was der kann, kann ich schon lange!«

Sie beginnt, mit einem zynischen Lächeln auf den Lippen, Olivers Programmierung zu bearbeiten.

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Oliver öffnet die E-Mail.

›Ich habe grenzenlose Sehnsucht nach Dir und halte es nicht mehr ohne Dich aus! Ich komme morgen Nachmittag um 16 Uhr am Bahnhof an, holst mich bitte ab? Ich liebe Dich, Deine Anna-Maria.‹

Sie hat ein kleines Filmchen von dreißig Sekunden Länge mitgeschickt, in dem sie sich lasziv in Dessous auf dem Bett rekelt.

»Hab ich dich, du verlogene Schlampe!«, flüstert Oliver und verspürt plötzlich das dringende Bedürfnis auf den Balkon zu gehen.

Glücklich lächelnd steigt er über das Geländer und lässt sich aus dem fünften Stock nach unten fallen.