Blitzlicht
Jan Kamphuis saß auf dem harten Klinikstuhl und blickte durch das hohe Fenster auf den Park hinaus. Sechs Wochen war er nun hier, und noch immer nicht an den Anblick der Gitterstäbe gewöhnt. Er hatte Fadenbündel aus der Matratzenbespannung gezupft und flocht sie zu einem stabilen Zopf – eine Beschäftigung, wenn auch nicht anspruchsvoll genug, um sein Denken aus der Endlosschleife zu reißen. Er unterbrach seine Tätigkeit und strich über die wulstige Narbe an seiner Schläfe. Sie schmerzte.
Er hatte seine Geschichte allen erzählt: den vernehmenden Beamten, den Ärzten, den Schwestern. Keiner glaubte ihm. Wozu hatte man sein Leben gerettet? Um ihn einzusperren?
*
Die ganze Nacht über hatte das Unwetter gewütet. Hagelschauer, abgelöst von Starkregen und Sturm, teilten sich die Bühne mit Blitzen im Sekundentakt. Zweimal warf sich Jan Kamphuis in dieser Nacht den Friesennerz über und sah nach dem Rechten.
Jetzt am Morgen jagte der Wind Wolkenfetzen in allen erdenklichen Grau- und Schwarztönen über den Himmel. Das Schlimmste war überstanden.
Jan begann seinen Kontrollgang an der hinteren Scheune. Er besah sich Dachränder, Giebel und Fenster. Bis auf ein paar gelockerte Dachpfannen war alles intakt. Er erreichte das Fahrsilo, in dem er die Überreste aus der Biogasanlage lagerte, und stutzte.
Eine Ecke der Umrandung war weggebrochen, die Betonwand eingestürzt. Jan fluchte. Das grau-braune Gemenge, das übrig blieb, wenn der Mist aus seinem Stall zu Energie verarbeitet war, quoll über den Hof. Ein Blitz hatte das angerichtet, das bewiesen die Brandspuren.
Er ging zum Schuppen, besorgte sich Pfähle, Bretter und Werkzeug. Provisorisch verschloss er die Lücke. Zufrieden mit seinem Werk, begann er, die feuchte Masse in eine Schubkarre zu schaufeln und sie am Eingang des Silos aufzuschütten. Acht Schubkarrenladungen später war er damit fertig.
Mit einem Seufzer der Erleichterung stieß er die Schaufel in den Haufen. Zeit für ein Frühstück, dachte er und betrachtete den Schaufelstiel, der nachfedern sollte. Doch der Stiel federte nicht. Er bewegte sich hin und her. Die Schaufel wurde aus der Masse gestoßen und landete mit einem satten Scheppern auf dem Hofboden. Staunend hob Jan das Arbeitsgerät auf. Vom Schaufelblatt fehlte ein Stück, als hätten es riesige Zähne abgebissen.
Die ramponierte Schaufel in beiden Händen haltend, näherte er sich vorsichtig dem Rand der Anhäufung. Nichts war zu hören oder zu sehen. Er holte aus und rammte das Metall in die stinkende Masse. Der Stiel zuckte und schlug ihm mit Wucht gegen den Brustkorb. Jan stolperte rückwärts und rang nach Luft.
»Jesus Christus …!?«
Etwas Langes, Schlangenähnliches wand sich aus dem Haufen und griff nach ihm. Fasziniert starrte er es an. Es kam näher. Angst schoss durch Jans Gedärme. Über sein Rückgrat rieselte ein Schauer. Er versuchte, die Panikstarre abzuschütteln. Gelähmt vor Entsetzen musste er zusehen, wie sich der tastende Auswuchs bis auf wenige Zentimeter seinem Gesicht näherte. Deutlich konnte er schleimüberzogene Saugnäpfe an der Spitze erkennen.
Endlich gelang es ihm, sich zu bewegen. Er rannte ins Haus und kam mit seiner Pistole zurück. Zitternd zielte er auf die Stelle, an der sich das Ding gezeigt hatte, und drückte ab. Drei Kugeln jagte er hinein. Drei Einschlagkrater blieben zurück, die sich mit rieselnden Krümeln füllten, bis beinahe nichts mehr von ihnen zu sehen war.
»Was ist denn los?« Seine Frau stand im Hintereingang und sah ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Besorgnis an. An den Schößen ihrer blauen Kittelschürze klammerte sich seine vierjährige Tochter Janina fest.
Bevor Jan Kamphuis antworten konnte, schoss ein Tentakel auf ihn zu. Er wollte ausweichen, die Pistole hochreißen … vergebens. Der Fangarm traf ihn an der Schläfe und saugte sich daran fest. Verblüfft registrierte Jan, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Sein Körper war von seinem Verstand losgelöst. Hilflos musste er zusehen, wie sich sein Arm mit der Waffe hob. Eine übermächtige Kraft zog die Hand höher, bis der Lauf auf seine Frau zeigte. Jan versuchte verzweifelt seine Muskeln daran zu hindern, den Zeigefinger zu krümmen, doch sein Gehirn schoss die Befehle ins Leere. Zwei Schüsse peitschten über den Hof. In Ediths Kopf klaffte ein faustgroßes Loch. Sie brach zusammen.
»Mama?!«
Janinas Schrei gellte zu ihm herüber. Entsetzen stand in ihrem Gesicht, Blut und Gehirnfetzen sprenkelten ihre Haare. Ein weiterer Knall. Auf Janinas Stirn blühte ein roter Punkt auf.
Wie in Zeitlupe sah Jan die Bilder. Sein Arm hob sich, die Hand mit der Waffe drehte sich. Er sah die schwarze Mündung vor seinem Gesicht.
Vom Gartentor her ertönte ein Klappern. Der Briefträger! Jan schöpfte Hoffnung. Das Wesen reagierte ebenfalls darauf, der Fangarm zuckte. Das Donnern des Schusses verdunkelte sein Bewusstsein. Der Tentakel löste sich mit einem leisen ›Plopp‹ und glitt in die Masse zurück.
*
Jan Kamphuis betrachtete sein Flechtwerk. Ein stabiles Seil mit einer Schlinge an einem Ende. Er rückte den Stuhl ans Fenster und öffnete es. Bedächtig kletterte er auf die Sitzfläche, knotete den Strick an die oberste Strebe des Gitters und legte sich die Schlinge um den Hals. Jetzt konnte die Polizei ihn ungehindert weiter des Mordes bezichtigen, die Ärzte ihm ›versuchten erweiterten Selbstmord‹ und eine ›traumabedingte Psychose‹ unterstellen.
Jan zog ein abgegriffenes Foto aus der Tasche. Seine Frau und seine Tochter lächelten ihn glücklich an. Er atmete ein letztes Mal tief durch und trat den Stuhl weg.