19
Die Entladung elementarer Energien brachte die Luft zum Kochen. Massive Feuertropfen spritzten gegen die Häuserwände. Ohrenbetäubender Lärm toste wie eine Horde geistesgestörter Giganten, die mit Eisenhämmern auf Granitberge einschlugen. Das Donnern, die Hitze und das Licht hüllten mich ein wie in einen erstickenden Schleier.
»Deb-Lu!« schrie ich, als ich mich in den nächstbesten Hauseingang warf. »Deb-Lu! Zieh dich zurück. Sofort!«
Mein Freund hielt sich zwar nur in Form einer Illusion hier auf, eines geisterhaften Abbildes seines wahren Körpers; doch die entfesselten Mächte konnten durch die magische Projektion hindurchgreifen und ihn töten, als stünde er tatsächlich dort. Zumindest glaubte ich das. Ich prallte mit dem Rücken gegen die Tür, als ich in den Eingang hineinrollte, und ich mußte den Hals verdrehen, um zur Straße blicken zu können.
Die funkensprühende Scheibe der Königin von Gramarye flackerte unstet. In dem einen Augenblick neigte sie sich der grausigen Gestalt des Phantoms zu, im nächsten raste sie wieder Deb-Lu entgegen. Die okkulte Macht, die sich hier auf so ungezügelte Weise manifestierte, repräsentierte ein magisches Wissen, dessen Ursprung im Dunkel der Zeit verschollen war. Ich öffnete den Mund, um Deb-Lu zuzubrüllen, er solle sich in Sicherheit bringen, da explodierte die Königin von Gramarye mit einem Laut, als würde der Himmel in die Hölle stürzen.
Die von einem Turban gekrönte Gestalt Deb-Lus stand einen Herzschlag lang in gelbes Feuer getaucht. Statt zu rufen, bekam ich nur ein entsetztes Keuchen zustande.
Deb-Lu! Mein geschätzter alter Kamerad, der Zauberer! War er ...?
In der nächsten Sekunde verschwand das blaue Licht. Der fauchende Flammenschwall des Phantoms traf nur Luft.
Mein Kopf fühlte sich an, als würde er zwischen zwei heißen Pfannen festklemmen, die einen wahnsinnigen Rhythmus in meinen Schädel hineintrommelten. Die Augen tränten mir. In diesen gefahrbeladenen Augenblicken geriet die ganze Welt Kregens in kreisende Bewegung.
Die grelle Weißglut erstarb. Feuer, Rauch und Flammenzungen kamen zum Erliegen. Die Straße kehrte zu einer gewissen Normalität zurück. Und das Phantom stand auf der Kreuzung und hielt nach einem Opfer Ausschau.
Die Tür in meinem Rücken war fest verschlossen. Ich krümmte mich zu einem Ball zusammen und starrte mit wütend schmerzenden Augen auf das verdammte Phantom.
Wo die Lanze aus okkultem Feuer die Straße getroffen hatte, war eine lange schwarze Furche zurückgeblieben. Ich sah im Geist noch immer, wie die Pflastersteine von der Macht des gewaltigen Blitzes aus dem Boden gesprengt und wie eine Kartätsche in alle Richtungen katapultiert worden waren. Das Phantom konnte das ohne Mühe wiederholen, und diesmal würde es mich im Visier haben.
Die untote Kreatur schwankte. Sie setzte sich in Bewegung, der Schädel fuhr wieder von rechts nach links, und dem Blick jener unmenschlichen roten Augen, die aus den finsteren Augenhöhlen starrten, entging nichts. Die krallenähnlichen Knochenfinger hoben sich.
Das Phantom schwankte erneut und blieb stehen. In diesem gefahrvollen Augenblick fiel mir nur ein Vergleich von der Erde ein. Der Totenschädel und die vom Wahnsinn umnachteten Augen schwankten von einer Seite zur anderen wie das Radar auf dem Mast eines Kriegsschiffes. Falls dieses schreckliche Ding den Kopf wie eine Radarantenne um dreihundertsechzig Grad gedreht hätte – bei Zair, es hätte mich nicht überrascht!
Wieder bröckelten ein paar Fleischbrocken aus dem Phantom. Es beugte sich vor, hielt inne und schwankte zurück. Sein linker Zeigefinger, der nur aus gelbem Knochen bestand, fiel ab und landete klappernd auf dem Straßenpflaster. Streifen verwesten Fleisches rutschten aus dem Brustkorb.
In diesem Moment kam es mir vor, als hielte ganz Kregen den Atem an. Alle Geräusche verstummten. Ich wagte kaum Luft zu holen. Und genau in diesem Augenblick gesteigerter Wahrnehmung erblickte ich ein kleines Kind, das die Straße entlangkam – und ein Entsetzen überkam mich, daß ich wie ein grüner Junge in seiner ersten Schlacht erzitterte.
Es handelte sich um ein kleines Mädchen, in einem hübschen rosafarbenen Kleidchen mit weißen Schleifen. In der linken Hand hielt es eine Holzpuppe, mit der rechten ertastete es sich den Weg. Die Kleine war blind. Leise schluchzend rief sie: »Mami! Mami!«
Und ich kauerte dort in dem Hauseingang, ich, Dray Prescot, der sich vor dem Augenblick der Wahrheit versteckte. Ich kann Ihnen sagen, in diesem Moment wußte ich, was Entsetzen ist.
Die starrenden Augen des Phantoms in den leeren Höhlen schienen Funken zu sprühen. Es schwankte, ein weiterer Finger löste sich, und der gelbe Knochen landete mit einem unheimlichen Klappern auf dem Pflaster.
Der Untote drehte sich halb um. Die ungewöhnliche Stille wurde nur von dem kleinen Mädchen gebrochen, das schluchzend nach seiner Mutter rief.
Es war keine Zeit, um Makki-Grodno oder die Heilige Dame von Belschutz anzurufen. Ich riß mein altes Seemannsmesser aus der Scheide und schleuderte es an dem Phantom vorbei. Es landete klirrend auf der Straße.
Im nächsten Augenblick zwang ich mich auf die Füße und schoß förmlich die Straße entlang. Mein Herz raste wie ein durchgegangenes Vove. Ich rang mit keuchenden, tiefen Zügen nach Luft. Ich packte das kleine Mädchen mit dem linken Arm und rannte blindlings davon, in der Erwartung, in der nächsten Sekunde von einem magischen Blitz getroffen und zu heißer Asche verbrannt zu werden.
Beim klirrenden Aufprall des Messers auf dem Pflaster ruckte den Kopf des Phantoms zur Seite. Wenn Opaz mir nur die nötige Muskelkraft und Zeit verlieh!
Mein Körper fühlte sich aufgebläht an, als träte das Blut aus den Adern. Das Mädchen schrie auf, und ich gab besänftigende Laute von mir, während ich lief. Der Schädel des Phantoms schwang zurück, schob sich nach vorn. Ich stürmte weiter. Nur noch ein paar Schritte, nur noch ein paar weitausholende Sätze, und wir waren in den Torbogen des gegenüberliegenden Hauses eingetaucht ...
Ich warf mich zur Seite, stürzte in den Schatten des Torbogens und landete dröhnend auf dem Hinterteil, das Kind im schützenden Arm.
Die unheimliche Stille auf der Straße hielt an, obwohl das Mädchen nur noch erstickt vor sich hinschluchzte. Ich erwartete von der Kreatur, daß sie kreischte und fauchte, daß sie wie ein kaputter Kochtopf zischte. Aber nein, diese grauenvolle Stille hing über uns; man konnte sie fast schon hören.
Konnte ich es wagen, den Kopf um den Rand des Torbogens zu schieben? Konnte ich es wagen, um dann eine flammende Feuerlanze anzulocken, die uns beide verschlänge? Ich setzte die Kleine mit dem Rücken zur Tür, holte tief Luft und riskierte einen schnellen Blick.
Das Phantom bewegte sich schwankend, in entgegengesetzte Richtung, auf die Kreuzung zu. Es hielt die Arme ausgestreckt. Ich stieß lautlos den angehaltenen Atem aus. Der Untote wandte sich nach rechts und verschwand hinter dem Eckhaus.
»Opaz sei Dank!« Die normalen Geräusche kehrten zurück, das Zwitschern der Vögel, das entfernte Bellen eines Hundes, die leichte Brise, die den Straßenstaub aufwirbelte. Ich wandte mich unverzüglich dem Mädchen zu. Es drückte die Holzpuppe an sich, und die blinden Augen starrten an mir vorbei ins Leere. »Alles wieder in Ordnung. Wie heißt du, Kind?«
Es dauerte einen Augenblick, bis die Kleine antwortete; sie schluckte ein paarmal und wischte sich die Tränen aus den glanzlosen Augen. Nach irdischer Rechnung war sie etwa fünf Jahre alt. »Finsi. Wo ist meine Mami?«
Das war eine äußerst wichtige Frage, auf die ich keine Antwort wußte. »Oh, wir werden sie bald finden. Wo wohnst du, Finsi?«
Finsi schüttelte den Kopf, und ich erkannte, wie dumm und unsensibel diese Frage gewesen war. »Einerlei. Das haben wir bald herausgefunden.«
Wie sich herausstellen sollte, löste sich das Problem mit der kleinen Finsi dann doch nicht so schnell. Bis jetzt hatte sich keiner wieder auf die Straße getraut. Das Viertel lag wie ausgestorben da. Ich nahm Finsi auf den Arm und ging zu dem umgestürzten Wagen. Der Mytzer hatte sich schon vor geraumer Zeit aus dem Harnisch befreit und war weggelaufen. Ich hob eine unversehrte Gregarine auf, und Finsi biß mit ihren kleinen weißen Zähnen herzhaft hinein. Noch immer war kein Lebender in Sicht, also mußte ich warten und später zurückkehren, um die Mutter zu finden. Nachdem ich das beschlossen hatte, schlug ich den Weg zur Silbernen Feder und der Verabredung mit meinen neuen Gefährten ein, zu der ich jetzt zu spät kam.
Dabei kam mir der unbehagliche Gedanke, daß die makabre Stille, die die Welt in ihrem Bann gehalten hatte, allein in meinem fiebrigen Verstand existiert hatte.
Plötzlich blockierten drei blauschimmernde Ovale flackernd meinen Weg. In der Art der seltsamen anderen Dimensionen, die von Magiern bevölkert wurden, verfestigten sie sich und gewannen an Substanz, als die Zauberer ihr Kharma benutzten, um sich von ihrem Aufenthaltsort, der sonstwo auf Kregen sein konnte, an diese bestimmte Stelle in Gafarden zu projizieren. Die Umrisse nahmen feste Konturen an. Als ich die vertrauten freundlichen Gesichter von drei meiner Zauberer-Kameraden erblickte, verspürte ich eine riesige Erleichterung. Deb-Lu-Quienyin trat vor. An seiner Seite stand Khe-Hi-Bjanching. An seiner anderen Seite stand Ling-Li-Lwingling.
»Jak!« rief Deb-Lu. »Bist du in Ordnung?«
»So lebendig wie Regen in der Wüste, Deb-Lu. Das Phantom ist fort.«
»Ja«, sagte Khe-Hi ungewöhnlich grimmig. »Das haben wir gespürt. Das Böse hat sich wieder vor uns versteckt.«
»Aber wo ist der Verfluchte der Sieben Arkaden?« fragte Ling-Li.
»Ich danke euch, daß ihr mir zu Hilfe gekommen seid«, sagte ich ernst. »Das Phantom zerfiel in seine Einzelteile.«
»Wir müssen die Gründe für diese Geschehnisse in Erfahrung bringen.« Khe-His harte Züge trugen einen wilden Ausdruck. »Es muß etwas ...«
»Das wir herausfinden werden«, sagte seine Ehefrau Ling-Li. »Nun müssen wir aber gehen.«
»Ja.« Deb-Lus Turban blieb ein Wunder an senkrechter Stabilität. Das erstaunte mich; eine winzige Pause dunklen Humors in der Gefahr des Augenblicks. »Wir werden uns bemühen. Wir werden uns bemühen! Jak, von uns allen ein Remberee.«
Ich hatte den Gruß noch nicht erwidert, da waren sie schon fort.
So gräßlich diese ganze mörderische Phantom-Geschichte auch war, es blieb ein tröstlicher Gedanke, daß meine Freunde, die Zauberer aus Loh, mit allen Kräften an einer Lösung arbeiteten. Doch würden sie eine Methode finden, die untote Kreatur zu bekämpfen, bevor sie noch mehr Opfer forderte? Die übernatürlichen Elemente entfachten in mir eine Besorgnis wie selten zuvor in Auseinandersetzungen mit Zauberern. Warum war das Phantom in letzter Zeit immer ausgerechnet in meiner Nähe erschienen? War ich das Ziel seines rachsüchtigen Grolls? War ich der nächste, der zu Asche verbrannt oder in blutige Stücke gerissen werden sollte?
Ich setzte mir Finsi auf die Schultern, so daß ihre Beine um meinen Hals baumelten, und ging weiter in Richtung Taverne. Eine große Frage, die nach einer unverzüglichen Antwort verlangte, könnte dem armen Teufel, der sie fand, den sofortigen Tod bringen. Und die einfache Frage lautete: Wohin in einer Herrelldrinischen Hölle zog sich das verdammte Phantom zurück, wenn es nicht gerade umging und Leute zerfetzte?
Um die Wahrheit zu sagen, langsam machte mich dieses verfluchte Gespenst richtig ärgerlich – falls dies überhaupt das passende Wort war, bei Vox! Nach Naghan Raerdus und Tobis Nachforschungen zu urteilen, schien es offensichtlich, daß das Phantom Rache üben wollte. Bei dieser Rache schien es um den Adligen Tralgan Vorner zu gehen, dem man ein bitteres Unrecht zugefügt hatte. Er war tot. War das Phantom dann Tralgan Vorner, der sich als blutdürstiger Geist aus seinem Grab erhob? Ein solches okkultes Phänomen hätte ideal zu der geheimnisvollen Welt Kregens gepaßt.
Aber vorausgesetzt, es verhielt sich tatsächlich so, warum sollte die opazverfluchte Kreatur dann nach meinem Blut lechzen?
Es gab noch eine andere bemerkenswerte Tatsache: Als meine drei lohischen Kameraden sich zurückgezogen und ich mir noch einmal die Straße angesehen hatte, waren auf dem Pflaster keine gelben Fingerknochen zu finden. Das Phantom hatte durch seinen Auflösungsprozeß zwei Finger verloren. Das hatte ich gesehen. Doch es waren keine Fingerknochen da.
Es heißt, jeder hat ein Geheimnis. Nun, wenn es bei dem Rätsel um Menschenleben geht, dann, bei Krun, ist es nicht mehr so lustig.
Mittlerweile waren die Straßen wieder zu ihrem üblichen Zustand zurückgekehrt, da sich die Bürger herauswagten. Die Neuigkeit verbreitete sich schneller als der mit acht Schwingen versehene Jutman von Hodan-Set. Auf den Straßen war es sehr still; die Bürger sprachen in gedämpftem Tonfall. Das führte dazu, daß sie ständig über die Schulter zu blicken schienen, um sich zu vergewissern, ob die schreckliche Gestalt des Phantoms nicht hinter ihnen stand, ihnen die Knochenfinger um den Hals legte – und ihnen den Kopf abriß.
Die Silberne Feder war nicht sonderlich gut besucht, und ich setzte mich zu Tobi, der am Fenster einen Tisch für vier in Beschlag genommen hatte. Finsi, die ich auf einen der leeren Stühle setzte, aß ihre Gregarine auf und lauschte mit großer Aufmerksamkeit, die zumindest für den Augenblick ihre Angst in den Hintergrand verdrängte.
Tobi runzelte die Stirn. Nachdem das Ale serviert worden war, erzählte ich ihm, was geschehen war. »Wir werden ihre Mutter finden«, sagte er auf seine freche, selbstbewußte Weise. »Setz den Unscheinbaren darauf an. Er ist unglaublich.«
Ich fragte mich, was wohl Naghan Raerdu von diesem unbedachten Gebrauch seines Beinamens hielte. Auch wenn er zutraf!
Nalgre Nevko kam herein, wünschte allen ein Lahal, setzte sich und sah Finsi an. Wir setzten ihn ins Bild. Er schüttelte den Kopf. »Eine böse Geschichte, die vermutlich noch schlimmer wird, bevor es wieder aufwärts geht.«
»Wo steckt denn Yavnin?« fragte Tobi. »Ich bin am Verhungern. Aber wir können nicht anfangen, bevor er da ist.«
Also tranken wir unser Ale und warteten auf den sich verspätenden Flieger.
Ich erzählte ihnen, wie die Besprechung über das Schicksal von Jodie die Traiky ausgegangen war. Sie nickten bei meiner Bemerkung, daß der Erste Pallan so verschlagen wie ein Leem war. »Er hat sich schnell wieder in den Palast zurückgezogen.« Ich stellte den Becher ab und griff nach der Kanne. »Er konnte es nicht abwarten, wieder in sein Bett zu steigen.«
»Also war Swantram gar nicht im Gefängnis?« Nevko schüttelte den Kopf. »Ich hätte zu gern gesehen, wie er dem Phantom begegnet.«
»Oh, aye«, sagte Tobi. »Und wo bleibt Yavnin? Bei Ling-Loh, mein Magen wird noch schrumpfen.«
Es war nicht zu bestreiten, daß Yavnin sich verspätete und wir alle großen Hunger hatten. Die Leute um uns herum unterhielten sich leise, doch alle Unterhaltungen drehten sich allein um das Phantom. Die Clepshydra ließ gleichmäßig ihr Wasser herabtropfen. Schließlich gaben wir mit stillschweigender Übereinstimmung unsere Bestellung für drei und eine halbe Person auf, dazu bereit, Yavnin willkommen zu heißen, wenn er endlich käme. Finsi haute rein wie ein Jurukker der Wache.
»Wir hätten für unsere junge Finsi hier einen vollen Teller bestellen sollen«, meinte Tobi.
Wir alle lachten und nickten zustimmend. Finsi versenkte ihre weißen Zähne in die Mahlzeit und ging völlig darin auf. Wir mußten ihre Mutter schnell finden, wenn wir das unweigerlich einsetzende Weinen vermeiden wollten.
Natürlich diskutierten wir über den Untoten, und jeder schien völlig ratlos zu sein, was seine Unberechenbarkeit anging. Was stellte das verfluchte Ungeheuer zum Beispiel gerade in diesem Augenblick an?
Nevko sagte: »Ja, genau. Was tut es wohl?«
Tobi sah ihn über den Tisch an. »Alles in Ordnung, Nalgre?«
»Natürlich. Die ganze Angelegenheit ist so ... so unheimlich.«
»Falls«, sagte ich, »falls das Phantom der Geist von Tralgan Vorner ist, dann ist unheimlich erst der Anfang.«
Tobi legte das Messer nieder. »Und dennoch«, meinte er mit einer guten Portion seines ordinären Charmes, »wie sagt San Blarnoi? Schwarze Wolken mögen den Himmel verhüllen, doch die Zwillingssonnen strahlen trotzdem.«
Als wir dieses tiefschürfende Zitat verdauten, sagte Finsi: »Herr? Kann ich noch etwas haben – bitte?« Ich kann Ihnen sagen, ihre blinden Augen wühlten in einem knurrigen alten Kämpfer wie mir wirklich unangebrachte Gefühle auf.
»Aber natürlich!« stießen wir alle drei hervor. Unverzüglich wurde weiteres Essen bestellt, was auch sofort kam. Die scharfen weißen Zähne mahlten glücklich weiter.
Plötzlich sagte Tobi aus heiterem Himmel: »Glaubst du wirklich, daß dieses untote Phantom der Geist von Tralgan Vorner ist?«
»Was das angeht, so hat man von solchen Dingen schon gehört«, erwiderte ich. »Davon abgesehen, aus dem, was wir in Erfahrung gebracht haben, geht eindeutig hervor, daß der arme Vorner von seinem Vetter Lodermair niederträchtig behandelt wurde. Die Morde passen ins Bild. Könntest du es dem armen Teufel verübeln, wenn er sich einen Weg aus seiner Gruft gebahnt hat?«
»Ist das dein Ernst, Jis?« rief Nalgre Nevko aus.
»Eigentlich bin ich Larghos – oder war es Ornol?« Das kam scharf heraus. Es mochte Zuhörer geben.
»Ich glaube, es heißt Kadar die Klinge«, sagte Tobi mit einiger Komik.
»Schön«, sagte Finsi. »Danke, Herr.« Sie legte den Löffel hin. »Können wir jetzt zu meiner Mami gehen – bitte?«
»Ich bitte in aller Form um Entschuldigung, Kadar.« Nevko sah verlegen aus. »Deine Bemerkung hat mich überrascht, das war alles.« Er blickte über die Schulter. »Ich muß sagen, dieser Bursche da gefällt mir nicht.«
Ich dachte gerade an den Kontrast von blinder junger Unschuld mit der harten Wirklichkeit. Wir mußten Finsis Mutter finden, und zwar bald. »Was?« Ich drehte mich um. Kein Zweifel, Nevko hatte recht. Der Polsim, der gerade die Taverne betreten hatte, machte einen entschieden zweifelhaften Eindruck. Er trug zerlumpte Kleidung, und die rechte Hand, die er unter die Tunika geschoben hatte, hielt offensichtlich einen Dolch umklammert.
»Es dauert nicht mehr lange, Finsi«, sagte ich sanft. Nach dem Polsim kam eine kleingewachsene Gestalt herein, die den Hut tief ins Gesicht gezogen und die vier Arme eines Ochs hatte. Der Och flüsterte dem Polsim etwas ins Ohr.
»Zeit zu gehen.« Ich hob Finsi hoch.
»Was ist los?« wollte Nalgre Nevko wissen.
»Oh«, meinte Tobi fröhlich und legte die Hand auf den Schwertgriff, »ich glaube, uns steht etwas Betätigung der rauheren Art bevor.«
»Das ist nicht ganz richtig Tobi.« Die Männer, die durch die offene Tür drängten, trugen nicht das Schwarz der Meuchelmörder. Ihre dunkle Kleidung war ganz gewöhnlich, wenn auch etwas abgerissen. Die breitkrempigen Hüte konnten die stechenden Blicke jedoch nicht verbergen. Sie zogen Rapiere. »Das ist nicht ganz richtig, Tobi. Du nimmst Finsi und verschwindest von hier.«
»Aber ...!«
»Mach schon.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, nahm Tobi das blinde Mädchen und eilte zum Hinterausgang. Nevko sagte: »Ich bin gerade in der richtigen Laune, um ein paar Rasts aufzuspießen.« Er zog das Rapier.
Die anderen Gäste der Silbernen Feder wurden sich der Gefahr des Augenblicks bewußt, fingen an zu schreien und ergriffen kopflos die Flucht. Tobi mußte sich beeilen, um ihnen bei ihrem wilden Lauf zur Hintertür zuvorzukommen. Der Och streckte einen Arm aus – es war niemand anders als Rampas der Ölige. Er zeigte direkt auf mich.
Der Polsim rief den hinter ihm versammelten Stikitches einen häßlichen Befehl zu.
»Das ist der Kitchew! Das ist Dray Prescot! Tötet ihn!«