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Die Leichen der neun Thaumaturgen von Sodan setzten sich auf und blickten höhnisch auf Tralgan Vorner nieder.
Vorner suchte mit einer Hand am scharfkantigen Altarrand Halt, während er sich ruckartig in alle Richtungen drehte. Sein Kopf fuhr herum, als er nach einem Fluchtweg suchte. Vergeblich. Das wußte er. So wie er mit der gleichen tödlichen Gewißheit wußte, daß er in den tiefsten Pfuhl einer unvorstellbaren Hölle verdammt worden war.
Eine übelkeiterregende Wolke widerwärtiger Verwesung hüllte ihn ein. Diese toten Kreaturen stanken! Tralgans Füße schienen mit dem Marmorboden verwurzelt zu sein. Er konnte sich nicht von der Stelle bewegen, hinaus aus dem Schnittpunkt der augenlosen Blicke.
Er wollte schlucken und konnte nicht. Ein Pesthauch legte sich auf seine weitaufgerissenen Augen. Die Kaotim, die Untoten, verharrten völlig reglos. Der einzige Laut in der Kammer war Tralgans heiseres, stockendes Atmen, während sein Mund weit offen stand und er nach Luft rang.
Er schaffte es, einmal zu schlucken. Seine Augen huschten von einer Seite zur anderen. Verzweifelt und erfolglos suchte er nach einem Ausweg. Er war verloren. Soviel zu seinem wilden Verlangen nach Rache, soviel zu dem Haß, dessen er sich gerühmt hatte.
Tralgan konnte sich nicht rühren, gleichgültig, wie sehr er sich auch bemühte. Er starrte die Kaotim voller Entsetzen an. Gesetzt den Fall, er hätte sich doch rühren können, so gab es doch keinen Fluchtweg.
Winzige züngelnde Flammen krochen aus den Steinsärgen. In allen Farben des Spektrums wirbelten sie auf den Boden. Dort begannen sie einen makabren Tanz über den Marmor, sprangen in die Höhe und wiegten sich hin und her. Ein lästerlicher Tanz des Verderbens.
Dann erreichten die tänzelnden Flämmchen Vorner. Sie wanden sich an seinen Beinen hoch, umkreisten seine Hüften und krochen die Brust hinauf. Dann schmiegten sie sich wie ein Ring um seinen Kopf. Er fühlte keine Wärme. Statt dessen verspürte er eine Schwingung, die sich in die Tiefen seines Geistes bohrte. Sein Ib zuckte vor dem zauberischen Eindringen in seine Persönlichkeit zurück. Der Tanz der Flammen legte sein ganzes Wesen, alles, was er je gewesen war, gewaltsam bloß.
Ein gewaltiger Lärm erscholl. Wie Hammerschläge dröhnte er in ihm in den Ohren; er schien allen Richtungen dieses schrecklichen Ortes zu entspringen. Der Aufruhr verschmolz zu Worten, zu zusammenhängenden Sätzen. Tralgan begriff, daß er einer einzelnen Stimme lauschte, die hundertfach verstärkt wie unzählige Echos durch das Innere seines Schädels hallte.
»Ich bin Rafan-Ymet!« Die vielfältigen Echos erstarben zu einem durchdringenden Flüstern, das heiser und bedrohlich klang und Tralgan eine Gänsehaut über den Rücken jagte. »Vergiß das nie! Ich bin Rafan-Ymet, den man den Unentrinnbaren nennt. Ich spreche für alle – für den Augenblick.« Tralgan krümmte sich zusammen, drückte die Hände gegen die Ohren und zitterte am ganzen Leib. Die okkulte Stimme brannte sich in seinen Geist wie ein glühendes Brandzeichen in die Haut eines Sklaven.
Tiefe Seufzer hallten durch die Kammer, als die restlichen acht Leichen die Worte ihres Sprechers bestätigten.
Die augenlosen Gesichter der Untoten veränderten sich. Funken blitzten. Lichter glommen in der Finsternis auf. Rotweiße Augäpfel traten in Erscheinung, und es sah so aus, als würden sie ohne Halt in den knochigen Augenhöhlen schweben.
»Haß beherrscht deine Gedanken. Was weißt du schon über Haß? Hast du Jahrhunderte verbracht, eingesperrt in eine finstere Gruft? Dein lächerlicher Verrat ist wie das Wimmern eines Woflo angesichts des Brüllens eines Leem!«
Vorner wollte sprechen und konnte es nicht. Er wollte hinausschreien, daß er wußte, was Haß war. Der zersetzende Aufruhr in seinen Gedärmen, die Qual in seinen Gedanken. »Ich kenne mich mit Haß aus!« Er brüllte es hinaus, über sich selbst entsetzt, im Bann der leidenschaftlichen Gefühle, die ihn quälten. »Ich weiß Bescheid!« Er keuchte vor Anstrengung, die Worte auszusprechen; er hatte den Bann der Furcht gebrochen, die auf ihm lastete. »Wenn es euch nach Haß und Rache verlangt, da kenne ich mich aus!«
»O ja, Tralgan Vorner, rechtmäßiger Elten von Culvensax. Wir verstehen. Dein Haß hat uns Leben verliehen.«
Rafan-Ymets Stimme veränderte sich plötzlich; nun sprach er auf eine glatte, hochgebildete Weise wie ein hochrangiger Adliger, der sich an eine Versammlung von Ebenbürtigen wandte.
»Wir sind hier seit so vielen Jahrhunderten ungerechterweise eingesperrt, daß der Abgrund der Zeit Felsen abgetragen hat. Doch du hast uns den Anstoß zur Wiederauferstehung gegeben.« Die Stimme liebkoste Vorner nahezu. »Vielleicht schulden wir dir eine Belohnung.«
»Nein, nein!« stammelte Tralgan. »Ich ...«
»Du wirst uns von Nutzen sein. Deine Rache wird unsere sein.«
»Ja ... ja ...«
»Ich der Unentrinnbare werde dich leiten. Du sollst deine Rache bekommen.« Der Groll und die tiefsitzende Wut, die in dieser so sanften Stimme bebten, überwältigten Tralgan Vorner. »O ja, Sterblicher, du wirst deine Rache bekommen. Aber die Rache an unseren Feinden wird viel größer sein, als du es dir in deiner Beschränktheit vorstellen kannst, wie die unwiderstehliche Macht der Gezeiten Kregens im Vergleich mit einem Kind, das das Wasser einer Pfütze aufwirbelt.«
»Ja, ja«, stieß Tralgan hervor, außer sich vor Angst. »O ja, ich bin einverstanden. Auf jeden Fall! O ja, was immer du sagst!«
»Gut. Du wirst unsere Befehle befolgen, ohne sie in Frage zu stellen. Ich werde bei dir sein, Tag und Nacht.«
Tralgan blickte mit geröteten Augen in die Höhe, als die schreckliche Kreatur aus dem Sarkophag schwebte. Zerfallene Gewandteile und verfaulte Hautstreifen hinter sich herschleifend, blieb sie über ihm schweben. Augen voller Bosheit, die aus den leeren Höhlen starrten, blickten auf ihn nieder.
Die tanzenden, funkensprühenden Flämmchen erstarben. Tralgan wußte, wohin sie verschwunden waren. Sie waren in sein innerstes Wesen eingedrungen.
Seine Furcht ließ nach. Ihm wurde klar, welches Verderben ihn ereilt hatte. Er befeuchtete sich die Lippen. Nun, bei allen Namen! Er hieß sein Schicksal willkommen; er riß es an sich mit dem Verlangen eines Liebhabers, der seine Geliebte in gestohlenen Augenblicken heimlicher Leidenschaft umarmt. Er würde seine Rache bekommen! Die Geister der toten Zauberer würden ihm zur Seite stehen. Er war der rechtmäßige Elten von Culvensax, und er würde sein Erbe antreten, mochte kommen, was da wollte!
Das verdorbene Blut des Hauses Vorner stieg voller Verlangen zwingend in ihm auf und überlagerte alle anderen Gefühle. Rache!
Aber da war noch mehr!
O ja, Vorners Rache hatte seinen Preis. Daß es der übliche Preis war, ließ ihn keinen Augenblick lang zögern.
Rafan-Ymet weitete den lippenlosen Mund, in dem bröckelnde Zähne an hölzerne, vom Meer zernagte Wellenbrecher erinnerten. »Du verstehst? Du bist bereit – aye, willens –, dein Ib, deinen Geist, deiner Rache zu widmen?«
Vorner nickte wild.
»Du willst dein Ib verkaufen?«
»Aye.«
»So soll es sein. Dann werde ich dir von nun an zur Seite stehen.«
Die farbigen tanzenden Flammen, die Tralgan liebkost hatten und in seinen Körper und seinen Geist eingedrungen waren, führten die unheilvolle Gegenwart des Thaumaturgen Rafan-Ymet des Unentrinnbaren mit sich. Jetzt war er ein Teil von Tralgan Vorner. Und dennoch ... »Ich werde in Erscheinung treten, wenn es notwendig wird. Du wirst meinen Befehlen gehorchen. Zusammen werden wir die Rache verüben, die uns zusteht, jawohl, bei den Neun Arkaden von Sodan!«
Tralgan hatte gehört, daß Zauberer bei den Sieben Arkaden schwörten. Diese schrecklichen Überbleibsel eines längst vergessenen Zeitalters besaßen vielleicht ein umfassenderes Wissen.
Rafan-Ymet schwebte mit baumelnden Stoffetzen zu seinem Sarkophag zurück. »Von dem Schatz kannst du dir nehmen, was du willst. Aber den Smaragd läßt du an Ort und Stelle!« Die Leiche sank in ihren Steinsarg zurück. »Dein Fluchtweg ist frei. Vergiß nicht, ich bin immer bei dir!«
Der Sargdeckel schloß sich geräuschlos. Die anderen acht Deckel klappten ebenfalls zu.
Dann knallten die neun Sarkophagplatten mit dem hallenden Lärm von Trommelschlägen des Verderbens zu, in kurzen Abständen, eine nach der anderen. Tralgan dröhnten die Ohren.
Er nahm den Smaragd und legte ihn zurück auf den Altar. Dann betrachtete er den unermeßlichen Schatz. Er würde ein unfaßbar reicher Mann sein. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Das war der Beginn seiner Rache!