13

 

 

Erstaunlicherweise hatte das Wurfmesser Lorgon ti Thrandor, den Pallan der Kanäle, nicht getötet. Sein leichter Bootsumhang war von einer verzierten Schnalle gehalten worden, und das Messer hatte sich in die aufwendige goldene Verzierung gebohrt. Nun trug er einen gelben Verband um den Hals, da die Messerspitze seine Haut nur geritzt hatte. Er erzählte jedem, der es hören wollte, er sei in der Tat von Opaz dreifach gesegnet.

Die Untersuchung des Zwischenfalls brachte die bedeutsame Tatsache ans Tageslicht, daß man den neuen Cadade, der den toten Rapa ersetzte, nicht angewiesen hatte, eine zusätzliche Wache für die Rückfahrt zum Palast bereitzustellen.

Er war ein Khibil, hochmütig, mit einem prächtigen Schnurrbart, der einen besseren Sold verlangt und auch bekommen hatte. Jiktar Pranton der Faranto trug den Silberpakmort an der Kehle. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er seine Pflichten als Cadade vernachlässigen würde.

Zu welchem Schluß führte uns das also? Wenn ein General oder ein Politiker einen Feldzug oder einen Wahlkampf planen, so ist eines ihrer wichtigsten Bedürfnisse – wenn nicht sogar das wichtigste überhaupt – die Beschaffung von Informationen. Zutreffende Informationen können die Leben von Tausenden von Soldaten retten, sie können Tausende von Wählerstimmen bringen. Ich erwartete ungeduldig Naghan Raerdus Ankunft. Und in der Zwischenzeit mußte ich eben selbst graben.

Nath Swantram war außer sich vor Wut über den Angriff auf seine Nazabni. Er hatte keine Erklärung dafür, daß es bei den Sicherheitsvorbereitungen eine so ernste Panne gegeben hatte. Ich war nicht dabei, als er den neuen Kapitän der Wache befragte, aber Jiktar Pranton der Faranto verließ das Arbeitsgemach des Pallans mit einem Gesicht, das in seiner Röte dem untergehenden Zim in nichts nachstand.

Man hatte die Leichen der Attentäter durchsucht und nichts gefunden, wie jedem vorher klar gewesen war, der sich mit Kregens Stikitche auskannte.

Da Ulana darauf beharrte, daß der Angriff gegen ihre Person gerichtet gewesen sei, hielt ich die Theorie, daß die Meuchelmörder angeheuert worden waren, um den Herrscher von ganz Paz zu töten, für wenig wahrscheinlich. Was den großen Plan der Herren der Sterne anging, alle Kontinente und Inseln zu vereinen, machten wir nur kleine Fortschritte, das stimmte. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, daß einer der Landesherrscher, die sich nicht daran beteiligen wollten, Stikitche aussenden würde, um den Herrscher von Paz zu töten. Natürlich konnte man das nie ganz ausschließen, bei Krun. Bis jetzt hatte ich noch keinen Herrscher oder ein Land zwingen müssen, sich uns anzuschließen. Das hätte in jeder Weise das gewünschte Ergebnis verhindert, ein Punkt, den ich den Everoinye nur mühsam hatte begreiflich machen können.

Die Befehle, die ich dem Kommandanten der Morgenwache gab, einem Hytak-Deldar namens Nath der verwirrte, waren glasklar. Er sollte diesen Draufgänger Tobi Vingal direkt in mein Arbeitsgemach führen. Ich wollte ehrlich wissen, wie die Sache mit seiner Freundin ausgegangen war. Mir schwante Unheil!

Obwohl dieser unglückliche Angriff auf Ulana eine wichtige Angelegenheit war, war mir bewußt, daß ich das größere Problem nicht aus den Augen lassen durfte. Unter uns verbarg sich ein Serienmörder. Wenn er nicht schnell gefaßt wurde, würden noch mehr arme Teufel mit angstverzerrten Gesichtern in die Eisgletscher von Sicce geschickt werden.

Ich war noch immer davon überzeugt, daß die beiden Fälle – Ulanas Mordanschlag und der Serienmörder, der offenbar beabsichtigte, seine Hauptopfer zu numerieren – nichts miteinander zu tun hatten.

Und dennoch, bei Krun, wie sagte einst ein uralter San aus den Mythen: ›Ein vorsichtiger Mann wird zwei Mäntel anziehen, wenn er in den Schnee hinausgeht.‹ Unter der normalen vallianischen Kleidung trug ich das überragende Kettenhemd, das mir die Herren der Sterne überlassen hatten. Ich fragte mich, ob das ihre Absicht gewesen war, aber dann verwarf ich diesen lächerlichen Gedanken schnell wieder. Die Everoinye hatten mir das Kettenhemd für die Reise ins Land der Dämmerung überlassen. Und dann hatten sie einfach vergessen, es wieder zurückzunehmen.

Davon abgesehen, wie sagte San Blarnoi noch: ›Ein Mann, der wirklich vorsichtig ist, denkt nicht einmal daran, in den Schnee hinauszugehen.‹

Das war alles schön und gut, doch ich mußte mich hinaus in die Gefahr wagen, die diese beiden Fälle mit sich brachten, um mein Versprechen Didi gegenüber zu halten.

Lorgon ti Thrandor, der auffällig an dem Verband um seinen Hals zupfte, hatte in seiner Eigenschaft als Pallan der Kanäle Erkundigungen über den verräterischen Bootsführer eingeholt. Der Bursche hieß Ven Norgad der Langfinger. Man hatte ihn nicht gefunden. Er hatte sich abgesetzt und eine Frau und vier Kinder zurückgelassen, die nun selbst sehen mußten, wie sie in ihrem schmalen Boot zurechtkamen.

»Das Attentat ist gescheitert«, verkündete Lorgon wichtigtuerisch, »und jetzt hat Norgad Angst vor den Leuten, die ihn bezahlten.« Er drückte die Brust heraus und fügte hinzu: »Und vor mir!«

Ich bedauerte gemeinsam mit ihm das traurige Ergebnis seiner Nachforschungen und verließ ihn. Ich hoffte, er werde bald das Versteck von Norgad dem Bootsführer herausbekommen. Mein Arbeitsgemach befand sich auf der anderen Seite des Palastes, und ich mußte auf dem Rückweg an der Vorderseite vorbei. Hinter dem Haupttor mit seiner Wachstube befand sich ein Empfangsraum, und dort drängte sich die übliche Menge. Ich ging daran vorbei und wollte gerade in den Korridor einbiegen, der zu meinem Arbeitsgemach führte, da rief eine heitere Stimme: »Lahal, Dom! Nach dem kleinen Krawall gestern abend bist du bestimmt in guter Form.«

Da kam er heran, ein breites Lächeln auf dem Gesicht mit den grobschlächtigen Zügen, die Hand ausgestreckt. Er trug das traditionelle vallianische braune Leder, und an dem breitkrempigen Hut steckte je eine hübsche rote und gelbe Feder.

»Lahal, Dom«, erwiderte ich und schüttelte ihm die Hand. »Du siehst gut aus.«

»Oh, aye. Von einer solchen kleinen Keilerei darf man sich doch nicht den Appetit aufs Frühstück verderben lassen.«

»Das ist wahr.«

Ein Hytak erschien hinter Tobi Vingals Schulter. Der Kommandant der Morgenwache trug einen Ausdruck auf dem Gesicht, der an die Gewitterwolken über den Pilotus-Bergen erinnerte – geballte finstere Wut. Er packte Tobis Schulter und riß ihn herum.

»Ich habe dir gesagt, du sollst auf mich warten! Warum ...«

»Oh, aye. Aber ich entdeckte den Burschen, den ich besuchen wollte. Alles in Ordnung, Dom.«

Deldar Nath der Verwirrte holte so tief Luft, daß seine Rüstung quietschte. Er wollte einen gewaltigen Deldar-Brüller loslassen.

»Das geht schon in Ordnung, Deldar Nath«, ging ich schnell dazwischen. Ich benutzte diese formelle Anrede, damit er begriff, daß ich es ernst meinte.

Sein Atem rauschte ungebraucht heraus, als er erwiderte: »Aber Majister ...«

Tobis ganze Aufmerksamkeit hatte sich in der Zwischenzeit auf eine außerordentlich wohlgeformte Fristle-Fifi gerichtet, die mit einem obstgefüllten Einkaufskorb vorbeiging. Ihre großen feuchten Augen schenkten Tobi einen aufmerksamen Blick, und ihr Schwanz mit der rosaroten Quaste zuckte frech nach oben. Tobi seufzte. Dann wandte er sich wieder an den Kommandanten der Wache. »Majister? Du sagtest ... ist er hier? Wo? Es wäre mir bereits eine Ehre, nur Lahal zu sagen.«

Deldar Nath des Verwirrten wilde Gesichtszüge verzogen sich zu einem Lächeln – ein wissendes, zufriedenes Lächeln des Triumphs. Er machte das Pappattu mit allem nötigen Zeremoniell.

Als die Vorstellung endlich beendet war, verdrehte Tobi Vingal die Augen. Er nahm Haltung an. »Wirst du meinen Kopf fordern, Majister?«

»Oh, ich glaube, damit lasse ich mir noch Zeit.« Ich wandte mich an den Deldar. »Vielen Dank, Nath. Von hier ab übernehme ich diesen Schurken.«

»Quidang!« brüllte Nath der Verwirrte, drehte sich schneidig um und marschierte mit stampfenden Schritten los. Die Leute gingen ihm vorsichtshalber aus dem Weg.

»Komm mit, Tobi. Laß uns etwas Parclear oder Sazz auftreiben.«

»Sazz«, sagte er sofort. Seine gute Laune kehrte zurück. Blitzgescheit paßte er sich der jeweiligen Situation an, mit der er konfrontiert wurde. Er war ausgesprochen – wie man heute sagt – straßenschlau. Selbstbewußt, leichtsinnig, draufgängerisch – das alles traf auf ihn zu. Unwillkürlich fragte ich mich, wie viele Perioden ihm blieben, bevor ihn seine unbesonnene Art in die Eisgletscher von Sicce brachte.

Der Sazz war von einem leuchtenden Rosa und gerade süß genug, damit er mühelos die Kehle hinunterfloß. Tobi lümmelte sich auf den gegenüber von meinem Schreibtisch stehenden Stuhl und war sofort völlig entspannt. Seine groben Gesichtszüge und die dunkle Tönung seiner Haut standen in seltsamen Gegensatz zu seinem Benehmen und seinem Charakter.

Nun war mein persönliches Wachkorps in letzter Zeit reduziert worden, und da ich mich so oft außer Landes aufhielt, hatte Drak es unter seine Fittiche genommen. Damit hier keine falschen Vorstellungen aufkommen, die Kampeons der SWH und der GJH und der anderen Regimenter waren auf Dray Prescot eingeschworen. Drak und Silda hatten meine Jungs auf ihre Reise durchs südwestliche Vallia mitgenommen, damit sie beschäftigt waren.

Ich deutete Tobi Vingal gegenüber an, daß ich ihm, falls er Neigung verspürte, eine Stellung anbieten könne. Er stürzte sich förmlich auf das Angebot. Er hatte in Loh in der Wache irgendeines Königs gedient, das Land aber verlassen müssen; der Vater des Mädchens hatte ihm eine Schlägerhorde auf den Hals gehetzt. Ich sagte: »Loh ist ein großer Kontinent. Er hätte dich nie gefunden, wenn du vorsichtig gewesen wärst.«

»Das stimmt, Majister. Aber ich hatte auch Heimweh nach Vallia.«

»Das kann ich verstehen. Und nenn mich Jis. Das ist kürzer.«

»Quidang!«

Einer der Palastdiener klopfte, trat ein und meldete, zwei Koter seien da und wollten mich sehen, Yavnin Purvun und Nalgre Nevko. Ich stimmte sofort zu, und ein paar Murs später führte man sie herein. Die Lahals wurden ausgetauscht, man brachte noch mehr Sazz, und dann saßen wir zusammen, die vier Männer, die in der vorherigen Nacht das Leben der Nazabni gerettet hatten.

Nun, beim Bauchnabel der Nymphe, wir verstanden uns großartig. Bevor wir uns zur Stunde des Mid schließlich trennten, hatten wir uns für den Abend verabredet; wir wollten herausfinden, welche Vergnügungen Gafarden einem Flieger und drei Paktuns bieten konnte. Sollten Sie es seltsam finden, daß ein sogenannter Herrscher so tut, als wäre er ein normaler Bürger – nun, die vielen Geschichten und Bühnenstücke, die über Dray Prescot zirkulierten, bereiteten das Volk auf dieses Benehmen vor.

Am Nachmittag leuchtete plötzlich ein blaues Licht in meinem Gemach, und Khe-Hi erschien. Er sah beunruhigt aus. Das Böse, das unsere Zauberer aus Loh spürten, gewann an Macht. Ich bestätigte die Berichte über die Morde, und Khe-Hi neigte dazu, mir zuzustimmen, daß sie ein Teil dessen waren, was er als »Das personifizierte Böse« bezeichnete.

»Aber hinter dieser Teufelei steckt viel mehr als bloß die Morde. Bei den Sieben Arkaden! Wir stochern im dunkeln herum!«

»Bleib in Verbindung, Khe-Hi.« Mehr konnte ich dazu nicht sagen.

Das blaue Licht erlosch, und Khe-Hi würde in Vondium aus dem Lupu treten – falls er sich zur Zeit überhaupt dort aufhielt.

Ich fürchte, ich habe versäumt, in meinem Bericht ein weniger schönes Detail aufzuführen. Als Tobi mich besuchte und wir uns unterhielten, hatte er sich bemüht, etwas seitlich zu sitzen. Meine Neugier über seine Freundin hatte eine eindeutige Antwort erfahren. Er hatte ein prächtiges blaues Auge, es leuchtete in allen Farben, und die Schwellung beanspruchte sein halbes Gesicht. Es hätte mich nicht gewundert, wenn die Dame einen in der Handtasche versteckten Ziegelstein geschwungen hatte. Mein Taktgefühl hatte es mir verboten, auf diese Gesichtszierde anzuspielen, und darum habe ich auch vergessen, es auf diesen Bändern, die Sie hören, zu erwähnen.

Da die menschliche Natur aber beklagenswerterweise nun einmal so ist, wie sie – bei Krun – ist, spürte ich, wie sich in meinem Inneren ein breites Grinsen formte. Armer alter Tobi! Er jagte ihnen hinterher – und sie schlugen ihm aufs Auge!

Da er in Herzensangelegenheiten ein ewiger Optimist war, barst er wohl vor Zuversicht, daß er bei unserem abendlichen Bummel bestimmt die Frau seiner Träume finden würde. Als der zynische alte Taugenichts, der ich nun einmal bin, freute ich mich schon auf Tobis nächstes Zusammentreffen mit dem schwachen Geschlecht.

Als es endlich Abend war, kleidete ich mich in ein ordentliches vallianisches Abendgewand. Ohne bewußt darüber nachzudenken, schnallte ich Rapier und Main-Gauche um. Dann legte ich einen kirschroten Umhang über die Schultern und befestigte ihn mit einer Silberschnalle. Ich hatte den zweiten Korridor fast schon zur Hälfte durchschritten, als ich unvermittelt stehenblieb. Ich rieb mir das Kinn. Hm ... nun ... jawohl. Ich drehte mich um und kehrte noch einmal zurück zu meinen Gemächern. Bei Kurins Klinge, es war einfach besser, wenn man sein kriegerisches Handwerkszeug dabei hatte, nur für den Fall. Also befestigte ich das in einer Scheide steckende Krozair-Schwert unter dem Umhang. Ich muß zugeben, daß ich mich besser fühlte, als ich das vertraute Gewicht auf dem Rücken spürte.

Ich bat meine drei Trinkgefährten, mich Kadar zu nennen. Wenn sie einen Beinamen brauchten, würde Kadar die Klinge reichen. Zwar ist der Name Dray Prescot dank der Bücher und Theaterstücke allgemein bekannt, aber für das Gesicht dieses Schurken trifft das weniger zu. Und das, bei Vox, ist genauso, wie es sein sollte.

Neben seinem Rapier trug Nalgre Nevko ein langes Schwert. Der Clanxer, die alte gerade Hieb- und Stichwaffe Vallias, war größtenteils durch Nachahmungen des havilfarischen Thraxters verdrängt worden, und vor allem durch den Drexer. Bei letzterem handelte es sich um ein überlegenes Schwert, das Naghan die Mücke und ich entwickelt hatten; ich hatte bei der Konstruktion alles verarbeitet, was mir über das Savanti-Schwert bekannt war. Yavnin trug neben seinem Rapier den vorschriftsmäßigen Drexer.

Nevko war derjenige, der Tobi darauf ansprach. »Warum trägst du diese ausländische Klinge, Tobi? Was stört dich an einem Vanxter?« Die Bezeichnung Vanxter galt für all die verschiedenen Modelle von Kampfschwertern, die in Vallia neu entwickelt worden waren.

Wir saßen gemütlich im Roildon und Renang, einem Gasthaus der gehobeneren Klasse, wo der Wein gut, der Boden gefliest statt nur mit Stroh oder Binsen bestreut und die Schankmädchen unbestreitbar hübsch waren. Tobi lachte auf seine unbeschwerte Weise, was die seinen Zügen anhaftende Düsternis Lügen strafte. Er zog die Klinge und ließ sie in der Luft umherwirbeln.

»Mein alter Lynxter? Das Schwert hat mir gut gedient. Als ich mich in Loh verdingte, brach mein Clanxer beim ersten Kampf.« In Erinnerung zog er eine Grimasse. »Ich habe mir den hier von einem Chulik genommen, der verflucht lange Zeit zum Sterben gebraucht hat, bei Vox!«

Yavnin nickte. »Und kein Rapier und Dolch, Tobi?«

»Ich habe nie gelernt, damit umzugehen, Yavnin.«

Ich glaubte eine winzige Spur Unehrlichkeit in Tobis Stimme herausgehört zu haben. Doch das war seine Sache. Also tranken wir und unterhielten uns leise über das Söldnerhandwerk und Waffen. Der Abend nahm seinen Verlauf.

Als mißtrauischer alter Leem-Jäger entging mir nicht, daß wir alle nur wenig tranken und uns lange mit einem Glas aufhielten. Das bestätigte meinen Eindruck, daß meine neuen Gefährten Männer mit Charakter waren. In dem neuen Vallia, das nach der Zeit der Unruhe entstanden war, hatten die von uns geschaffenen Armeen ein leuchtendes Beispiel gegeben, und so war Trunkenheit sehr selten. Oh, sicher, es gab noch immer viele Trunkenbolde, aber sie wurden nicht gern gesehen. Wir wußten, wie man sich amüsieren konnte, ohne sich dabei besinnungslos zu besaufen. Wenn ich sage, Trunkenheit war selten, und trotzdem gab es noch immer viele Trunkenbolde, dann beziehe ich mich natürlich auf das Verhältnis der beiden zueinander.

Wir zogen weiter zum Ausgelassenen Nit, und von dort ging es dann ins Rokveil und Aeilssa. Der Boden war mit Binsen bestreut, der Wein gerade genießbar, und die Schankmädchen waren Herumtreiberinnen.

Mir fiel auf, daß Tobi »Bei Vox!« stets sagte, als sei es ihm erst nachträglich eingefallen. Viel öfter sagte er »Bei Ling-Loh!« oder »Bei Hlo-Hli!«.

Unwillkürlich fragte ich mich, wieviel Zeit er wohl in Loh verbracht hatte. Als ich die Unterhaltung an einen Punkt gesteuert hatte, wo ich ihn unauffällig danach fragen konnte, gab er nur ausweichende Auskunft. »Oh, eine lange Zeit, Kadar, ich war damals noch ein grüner Junge.« Er nahm einen Schluck und fügte noch eine Bemerkung hinzu, die mich verblüffte. »Sie halten dort nicht viel von ihren Zauberern aus Loh – nun ja, eigentlich kommen sie ja auch aus Walfarg. Ich bin mit ihnen zurechtgekommen.«

Eines mußte man Koter Vingal lassen, er ließ sich nicht übermäßig von der Gesellschaft beeindrucken, in der er sich aufhielt. Läßt man allen Prunk beiseite, ist ein Herrscher nicht unbedingt immer eine Person, mit der es sich leicht auskommen läßt. Gut, ich weiß, daß ich kein typischer Herrscher bin. Aber ein Jiktar des vallianischen Luftdienstes gebietet Respekt. Und Nevko war ein Mort-Paktun, während Tobi lediglich den Rang eines Chav-Paktuns innehielt, also gebot auch das Respekt.

Doch der junge Draufgänger lachte und trank auf seine unbeschwerte Weise – immer mit glänzenden Manieren –, als verbrächte er jeden Abend des Jahres mit solch hochrangigen Leuten. Dann entdeckte er ein Schankmädchen, das weitaus begehrenswerter und hübscher als die anderen war, die ihre Tabletts mit Krügen voll Ale und Weinpokale trugen. Er wurde noch munterer. Man sah förmlich, wie er Funken sprühte.

Tobi trank seinen Wein aus und stand auf. »Wenn die Koter mich entschuldigen würden, dringende Geschäfte warten auf mich.«

»Dringende Geschäfte!« spottete Yavnin. »Ich wette, sie hat einen Mann, so groß wie eine Pinie und so breit wie ein Scheunentor.«

»Vermutlich.« Tobi ließ den Hut zwischen den Fingern umherwirbeln. »Aber ich gehe jede Wette ein, Doms, daß er nicht ein Zehntel meines Charmes besitzt.«

Das rief heiteres Gelächter hervor, sogar von mir. »Dann viel Glück, du Schurke«, sagte Nevko, der noch immer lachte. »Ich wette, daß ...« Er verstummte jäh und hob ruckartig den Pokal.

»Was? Was denn, Nalgre?« fragte Yavnin.

»Oh – ich frage mich, wie du dein blaues Auge erklären willst, Tobi.«

Tobi lachte unbeschwert. »Das ist mein Pallan, der unterwegs ist, um die Königin zu fangen.« Die Bemerkung bezog sich auf das Jikaida-Spiel. Auf der Erde hätte man gesagt, es sei sein As im Ärmel. Er blinzelte uns mit dem guten Auge zu. »Ihr Mitleid für mich wird keine Grenzen kennen.«

In diesem Augenblick kam es beim Fenster zu einem wüsten Getümmel. Laute Stimmen ertönten, Fäuste trafen auf Fleisch, Flaschen flogen durch die Luft. Wir blickten alle dorthin. Ein Knäuel kämpfender Männer krachte in Tische und Stühle, Karaffen stürzten um. Yavnin schoß hoch.

»Das sind Flieger! Und die Städter schlagen sie zusammen. Bei Vox! Das werde ich nicht zulassen!«

Er lief los. Männer und Frauen flohen vor der Schlägerei. Das Objekt von Tobis beabsichtigter Zuneigung ließ ihr Tablett fallen, als eine Flasche an ihrem hübschen Kopf vorbeiflog. Tobi schrie auf und rannte auf sie zu. Chaos brach aus.

Nevko schüttelte den Kopf. »Ich muß hier weg. Kadar, wenn du mich entschuldigen würdest.«

Ich schwenkte gleichgültig die Hand. »Aber sicher. Ich habe nicht vor, mir wie Tobi ein blaues Auge zu holen. Ich bleibe hier.« Nevko nickte und ging in Richtung Hintertür.

Die Kämpfenden stolperten unkontrolliert umher. Als Yavnin die Schlägerei erreicht hatte, kam es, wie es kommen mußte; er mischte sich gerade noch rechtzeitig genug ein, um mit den Männern durchs Fenster zu stürzen. Mit dem ohrenbetäubenden Knall zersplitternden Glases und zerbrechenden Holzes durchbrach das Knäuel aus schlagenden und tretenden Leibern die Scheibe.

Ich blieb einfach sitzen und nippte an meinem Wein.

Da sich die Schlägerei nach draußen verlagert hatte, kehrte wieder so etwas wie Ruhe und Frieden ein. Der Wirt rannte umher und rang die Hände. Meine drei Trinkgefährten waren verschwunden. Das durchdringende Aroma vergossenen Ales und Weins bereicherte die stickige Luft um einen neuen Geruch. Die abendliche Unterhaltung kam wieder in Schwung.

Ich leerte den Becher und schenkte nach. In der Taverne beruhigte sich alles wieder. Von Yavnin oder Nevko war keine Spur zu entdecken. Unwillkürlich fing ich wieder an, über die verschiedenen Probleme nachzudenken, die Gafarden heimsuchten. Es wurde nur zweimal erforderlich, die Angebote der jungen Damen abzulehnen, und ich drückte jeder ein Silberstück in die Hand, um Ruhe und Frieden zu bewahren.

Allerdings wurde dieser Friede mit der ihm innewohnenden Ruhe von erneutem Gebrüll zerstört. Diesmal verrieten die Schreie, daß es sich hier um eine ganz andere Situation als vorhin handelte. Von Todesangst getrieben, stürmten Leute in den Schankraum und rannten Hals über Kopf in alle Richtungen. Ich stand auf. Männer und Frauen liefen schreiend auf die Ausgänge zu. Ich blickte an ihnen vorbei.

Ein völlig verängstigter Bursche lief geradewegs in mich hinein; den Kopf rückwärts gewandt, starrte er in die Richtung, aus der er kam. Ich behielt das Gleichgewicht, packte ihn und schwang ihn herum. Sein Gesicht sah aus wie ein ausgewrungenes Spültuch, das man in die Abfalltonne wirft, nachdem man nach dem alljährlichen Festessen der Soldatenunterkünfte alles wieder sauber hat. Er gurgelte ein paar Worte. Der Straßenslang verändert sich im Lauf der Jahre; was heute modisch ist, wird im nächsten Jahr als altmodisch verspottet. Ich werde seine Worte hier nicht wiederholen, da es sich um den typischen, kaum verständlichen Jargon handelte, den die Bewohner der Straße benutzen. Es reicht, wenn ich sage, daß ich alles verstand. Er sprach über einen Schrecken, der so groß gewesen sei, daß er ihn nicht beschreiben könne. Ich stieß ihn von mir.

Die wilde Flucht war vorbei, und ich stand allein in der Mitte der Schenke.

Da kam mir der Gedanke, daß es vielleicht doch klug sei, ebenfalls schnell von hier zu verschwinden. Ich bin ein überzeugter Anhänger des Glaubens, daß es nichts schadet, wegzulaufen – um später mit Verstärkung zurückzukehren.

Zwischen mir und der Flügeltür, durch die die Leute vor Angst schreiend gekommen waren, befand sich nur eine leere Fläche. Vielleicht hätte ich fliehen sollen. Aber ich wollte wissen, was da vor sich ging. Was hatte diese haltlose Panik ausgelöst?

Also ging ich auf die Tür zu, nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam.

Die beiden Türflügel standen weit offen. Ich blickte in den kurzen Korridor, der zu den Nebenräumen des Rokveil und Aeilssa führte.

Und ich sah es, bei Djan-Kadjiryon – ich sah es!

In einem allumfassenden Blick nahm ich das schreckliche Bild in mich auf. Ich sprang sofort zurück und drückte mich jenseits der Tür an die Wand. Ich ließ mich auf ein Knie nieder. Ich schluckte – mühsam! Dann schob ich den Kopf um die Ecke, um das dämonische Bild noch einmal zu betrachten.

Das monströse Ding hätte tot sein müssen, aber es lebte. Sein Gestank drehte mir den Magen um. Verfaulendes Fleisch baumelte herab. Schleim tropfte zu Boden. Braune Knochen bohrten sich durch zerfetzte Hautstreifen. Das abscheuliche Ungeheuer, das einst ein Mensch gewesen war – ein Apim –, wankte durch den Korridor, von einer Seite zur anderen. In der einen Knochenhand hielt es den abgetrennten Schädel eines Mannes. Der Rest von ihm lag verstreut am Boden.

Ich sah die Augen! Zwei feurige Kugeln, die in den leeren Knochenhöhlen glühten. Zwei brennende blutrote Punkte, die ohne erkennbaren Halt in der Dunkelheit schwebten.

Bevor ich wußte, was ich tun sollte, stieß der Untote einen durchdringenden Schrei aus. Ehrlich gesagt wußte ich nicht, was hier zu tun war. Meine Faust schloß sich um den Griff der Krozair-Klinge, und ich zog sie zur Hälfte aus der Scheide. Dann kam mir der Gedanke, daß kalter Stahl dem Ungeheuer vielleicht nichts anhaben würde.

Das Monstrum wand sich so kraftvoll, daß das verwesende Fleisch und die herabbaumelnden, vermoderten Überreste des Gewandes in heftige Bewegungen versetzt wurden, dann verdrehte es sich geschmeidig – und schrumpfte! Es verlor an Substanz. Es wurde zu einem dünnen Strich. Mit wellenförmigen Bewegungen bewegte es sich auf die Tür zu, glitt darunter und quetschte sich durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Boden.

Die grauenvolle untote Schreckgestalt verschwand.

Ich stieß den angehaltenen Atem aus. Ich konnte nur an eines denken – das Geheimnis der Morde in den verschlossenen Räumen war gelöst!