10
Der Augenblick nahm kein Ende, voller Anspannung durch die Möglichkeit plötzlichen Todes.
Nun war Otto die Lanze, der sich lieber Surrey nannte, ein von den Herren der Sterne erwählter Kregoinye. Die Everoinye treffen ihre Wahl nie leichtfertig – auch wenn sie mir oft genug zu verstehen gegeben haben, für wie fragwürdig sie ihr Urteil in meinem Fall halten –, und die Leute, die ihnen dienen, sind Meister und Meisterinnen ihres Fachs.
Der energische Neuankömmling war in den Schatten nicht mehr als ein dunkler Umriß. Seine Klinge bohrte sich gierig tiefer.
Ich mußte Surrey seine Chance verschaffen. Ich sagte: »Quidang, Notor!« und bückte mich, um Esme abzusetzen, wobei ich mich vergewisserte, daß sie es in ihrer Decke auch bequem hatte.
Surrey reagierte wie ein wahrer Kregoinye. Er nutzte seine Chance.
Seine Bewegungen erfolgten mit geschmeidiger Geschwindigkeit. Das ungewöhnliche Schwert zuckte aus der Scheide, die Klinge des Fremden wurde beiseite geschlagen, und im nächsten Augenblick standen die beiden sich gegenüber, die Waffen erhoben zum Duell.
Der Neuankömmling trat ins Licht, behende und voller Selbstbewußtsein. Er trug rehbraunes Leder mit Fransenbesatz, hochschäftige Stiefel und schwarze Handschuhe. Dann sah ich sein Schwert – o ja, und ob ich es sah.
Es war die tödlichste Klinge auf ganz Kregen, und ich wußte, daß Surrey in einem Kampf keine Chance hatte, ungewöhnliches Schwert oder nicht.
»Haltet ein«, sagte ich in dem altbekannten, knirschenden Tonfall. Ich trat vor und griff dabei auf die volle Macht des Yriums zurück, mit dem ich gesegnet und verflucht bin, setzte jenes übergroße Charisma ein, um meinen Willen einzusetzen, diese dunkle Macht, die der Grund dafür ist, daß die Herren der Sterne mich in ihren Dienst geholt haben und ertragen.
»Nehmt die Schwerter herunter! Wir sind Freunde!«
Sie wandten beide die Köpfe und starrten mich an.
»Du ...!«
»Was ...«
Ich gab nicht nach. »Wir sind hier, um den Kov und seine Familie zu retten. Du, Fremder, bist aus dem gleichen Grund hier. Um des süßen Willen von Martine die Backen, laßt uns von diesem Höllenort verschwinden!«
Nun! Beide waren zum Kampf bereit. Sie bebten vor Leidenschaft, ihr Stolz stand auf dem Spiel, sie waren zum Losschlagen bereit, mochte kommen, was wollte, Tod und Vernichtung oder hochmütiger Sieg.
Wie lange sie so standen, kann ich nicht sagen, es schien eine Ewigkeit zu sein. Ich wollte schon ›Fröhliches Schwingen!‹ sagen und so Geheimnisse verraten, die ich nicht enthüllen wollte, als mich Erleichterung durchflutete, weil sie zurücktraten. Beide hoben ihre Klingen zum Salut und schoben sie mit einem Ruck in die jeweiligen Scheiden.
Dieser Surrey mochte hoch in der Gunst der Herren der Sterne stehen, seinem Verhalten entnahm ich indessen, daß ihm die Existenz der Savanti nicht bekannt war.
Die beiden Kinder weinten, Esme schnappte keuchend nach Luft, Kov Randalt hielt sein Schwert in der Hand, als könne er nicht verstehen, wie es dort hingekommen war. Der Gestank trocknenden Blutes stach uns in die Nasen. Das bedrückende Zwielicht des mit zu vielen Säulen versehenen Gemachs lastete wie ein schwerer Mantel auf uns. Bei Krun, Zeit zu gehen!
Ich hob die Kovneva vom Boden auf und versuchte, sie zu beruhigen und ihr zu versichern, daß alles gut werde. Der Kov steckte den Thraxter ein. Surrey und der Savapim tauschten fragende Blicke aus, dann machte der Savapim eine graziöse Geste, und Otto die Lanze übernahm die Führung. Wir verließen diesen Ort des Todes.
Als wir die Flügeltüren erreicht hatten, die uns nach draußen bringen würden, hatten die beiden miteinander gesprochen und das Pappattu gemacht, denn Surrey sagte: »Das ist Tyr Hangrol ti Ferstheim.« Das war bestimmt nicht der Name, der ihm bei der Geburt verliehen worden war. »Anscheinend hat er schon alles vorbereitet.«
Hangrol nickte. Die Türen stand weit offen; nach dem Durchbruch der Apim hatte sich niemand die Mühe gemacht, sie zu schließen. Wir Flüchtlinge eilten die Stufen hinunter und blickten uns im rosagefärbten Mondlicht der Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln um. Es war niemand zu sehen. Direkt hinter der letzten flackernden Fackel stand eine von zwei Mytzern gezogene Kutsche mit zugezogenen Vorhängen. Saubere Arbeit, bei Vox!
Ohne Zögern öffnete Hangrol die Tür und bedeutete dem Kov, mit seinen Kindern einzusteigen. Er zeigte auf mich, und ich setzte die Kovneva Esme sanft auf dem gepolsterten Sitz ab.
Ich trat zurück und nahm Surrey beiseite. »Was meinst du – das wollten doch die Everoinye, oder?«
Das rosige Mondlicht fiel ihm ins Gesicht und unterstrich den energischen Zug seines Kiefers. Der Schatten seines Schnurrbarts verhüllte den Mund. »Dieser Hangrol hat mir gesagt, er könne den Kov und seine Familie in Sicherheit bringen. Er ist ein Apim. Es verhält sich wohl so: Sollten diese rebellierenden Apim die Numim-Notors umbringen, müßten sie mit der Vergeltung aller Diffs des Landes rechnen. Man würde alle Apim ergreifen und ohne Unterschied töten.« Surrey schüttelte den Kopf so heftig, daß der hohe Hut in Bewegung geriet. »Er will das nicht.«
Das erklärte es. Mir war schon klar, warum die Savanti, die sich zu der Absicht bekennen, Kregen zu einem Ort ausschließlich für Apim zu machen, das Leben der Diffs retten wollten. Diese Apim-Revolte liefe den Plänen der Savanti aus Aphrasöe, der Schwingenden Stadt, zuwider.
Hangrol stieg auf den Kutschbock und nahm die Peitsche. »Ich danke euch. Ich nehme an, ihr kommt nicht mit mir.«
Surrey schüttelte den Kopf und sagte: »Remberee.«
»Remberee«, erwiderte der Savapim und ließ die Peitsche knallen.
»Das war alles verdammt seltsam«, sagte ich.
Die Mytzer-Kutsche ratterte im rosafarbenen Mondlicht los. »Es gibt Dinge, die mit den Everoinye zu tun haben, von denen du nichts weißt, Jak. In diesem Fall haben unsere und seine Herren die gleichen Wünsche.«
Aha! sagte ich mir. Vielleicht hat der Bursche doch von den Savanti gehört. In diesem Fall war er außerordentlich mutig oder außerordentlich dumm, um sich einem mit einem Savanti-Schwert bewaffneten Savapim entgegenzustellen.
Unsere Aufgabe war erledigt. Zumindest ging ich davon aus. Wir konnten wieder getrennte Wege gehen. Mich erwartete eine Menge Arbeit, und je schneller ich den Staub von Larnydria von den Stiefeln schüttelte, um so besser, wie man in Clishdrin sagt. Die Herren der Sterne hatten uns geschickt, um in einen begrenzten Zwischenfall einzugreifen, der keine weitere Bedeutung für die Zukunft hatte. Nun, wie Sie noch hören werden, sollte das eine schreckliche Fehleinschätzung sein, bei Krun!
Die ganzen Anstrengungen hatten mir einen Durst verschafft, der dem Vater von Beng Dikkane selbst würdig gewesen wäre. Da ich mir die Kehle anfeuchten und diesem Surrey ein paar Hinweise entlocken wollte, wie groß sein Wissen über die Savanti war, machte ich den Vorschlag, uns eine noch geöffnete Taverne zu suchen, die weit von den Rebellen entfernt lag. Er willigte sofort ein, also sagte ich: »Dieses Schwert, das Hangrol trug. Verflucht seltsam.«
»Da stimme ich dir zu.« Wir gingen los und ließen den Palast hinter uns. »Es hat mich überrascht. Die Everoinye haben mir dieses Schwert gegeben. Hangrols Waffe sah ziemlich ähnlich aus, als wäre es ihm gelungen, davon eine Kopie anzufertigen.« Er lachte. »Das ist natürlich eine alberne Vorstellung. Wie sollte er über die unsterblichen Everoinye Bescheid wissen?«
Ich äußerte kein Wort. Nicht ein verdammtes Wort. Ich schritt durch das leuchtende rosige Mondlicht und kochte vor Wut. Vor Wut und vor Neid. Mein Val!
Wieder kannte Surrey den Weg. Ohne jeden Zweifel hatten ihn die Herren der Sterne gründlich instruiert, genauso wie sie ihm ein Schwert zur Verfügung gestellt hatten, das eine Kopie eines Savanti-Schwertes darstellte, die erst vor kurzer Zeit angefertigt worden sein konnte. Er warf mir einen fragenden Blick zu.
»Alles in Ordnung, Jak?«
»Ja«, stieß ich mühsam hervor. »Mir ging's noch nie besser.«
»Gut. Die Everoinye werden mir bald einen neuen Auftrag geben. Ich hebe die Herausforderung jedesmal aufs neue.«
Ich will an dieser Stelle nicht wiederholen, was ich dachte. Er erzählte weiter auf diese überschwengliche Art, und wir kamen an eine Stelle, wo die Lichter zeigten, daß das Nachtleben von Larnydlad langsam in Schwung kam. Meiner Einschätzung nach hatten die Wächter mittlerweile die Flucht ergriffen, und der Mob zerstörte den Palast und stahl alles, was ihm seiner Meinung nach auch zweifellos zustand. Ich wünschte den Leuten viel Glück!
Vielleicht vertraten die Herren der Sterne ja den Standpunkt, daß meine Krozair-Klinge ausreichte. Vielleicht hielten sie es deshalb für völlig unnötig, ein überlegenes Schwert – die Kopie eines Savanti-Schwertes! – zur Verfügung zu stellen. Nun, bei Kurins Klinge, da sie mich für gewöhnlich nackt und waffenlos absetzten, erhob sich die Frage erst gar nicht.
Wenn sie mich das nächste Mal zu sich hinaufholten, würde ich sie verdammt noch einmal danach fragen. Auf Kregen bedeuten Waffen Leben.
Und Tod. Natürlich.
Wir mußten schnell entdecken, daß die Lichter der Stadt kein ausgelassenes Nachtleben erhellten. An Häuserecken befestigte Fackeln enthüllten leere Gassen. Alle Tavernen waren geschlossen. Der Ort verbreitete einen toten Geruch.
»Damit hätten wir rechnen sollen«, meinte Surrey philosophisch.
Der Ärger über die schäbige Behandlung, die die Herren der Sterne mir zukommen ließen, was ihr neues Schwert anging, führte zusammen mit meiner trockenen Kehle dazu, daß meine Antwort etwas grob ausfiel. »Du kennst dich doch in dieser Stadt aus, Surrey. Die Everoinye haben dich eingewiesen. Wo finden wir hier etwas zu trinken?«
Er lachte hellauf; offenbar amüsierte ihn mein Tonfall. »Ja, Jak. Eine kleine Gefahr macht eine trockene Kehle.«
Bei Krun, das konnte man ihm wohl nicht zum Vorwurf machen, oder? Übrigens war diese Situation ein schönes Beispiel für die Hilflosigkeit, in die wir großen Kregoinye geraten, wenn man uns in eine fremde Umgebung versetzt, in der es weder Freunde noch Kontaktpersonen gibt. »Nicht so grimmig, Jak. Wir sind hier fertig. Der Skorpion wird bald eintreffen.«
Ich grollte etwas Unverständliches und blickte mich mißmutig um. Ein Hund bellte, es klang einsam und verloren und war das einzige Geräusch, das die Stille der Stadt störte. Also hielt sich der Mob im Palast auf und hatte dort seinen Spaß. Aus der Sicht der Savanti hatte ihr Agent eine Familie Numims gerettet, um die zahlenmäßig große Apim-Bevölkerung von Larnydlad vor Vergeltung zu schützen.
Vor dem verrammelten Eingang einer Taverne namens Die Behinderte Ente flackerte die blaue Strahlung auf. Die Umrisse des riesigen blauen Phantomskorpions schwebten über uns. Surrey flog mit ausgestreckten Armen in die Höhe. Seine Gestalt verlor sich in dem blauen Licht. Dieses erstaunliche Schauspiel konnten nur Kregoinye wahrnehmen, sonst niemand.
»Wurde auch Zeit!« sagte ich. In der nächsten Sekunde raste ich in die Höhe. Kopfüber schleuderte ich in den blauen Wirbelwind. »Und ich werde den Herren der Sterne etwas zu sagen haben!« Das hörte sich zugegeben kleinlich und bösartig an.
Kälte traf mich bis ins Mark. Erst ging es hoch, dann wieder im Sturzflug nach unten, ich wurde herumgewirbelt und schließlich mit einem heftigen Ruck aus Larnydlad hinauskatapultiert – aber wohin?
Gelbes Sonnenlicht hüllte mich ein. Tiefe Verzweiflung ergriff Besitz von mir, und meine Eingeweide zogen sich zusammen. Die dreimal verdammten Herren der Sterne hatten mich voller Verachtung zurück zur Erde geschleudert!
War dies die Bestrafung für mein unbotmäßiges Benehmen wegen ihres neuen Schwerts? Wie lange blieb ich dieses Mal von Kregen verbannt?
Wie Sie wissen, habe ich stets davon abgesehen, meinen Unternehmungen auf der Erde viel Platz in meinen Erzählungen einzuräumen. Tatsächlich wartete eine Aufgabe auf mich, und ich verbrachte eine ziemlich unerfreuliche Zeit auf dem Balkan. Als alles erledigt war und die zerlumpten Flüchtlinge wieder ein Dach über dem Kopf hatten, konnte ich meinen eigenen Neigungen nachgehen. Nun, das war wirklich der reinste Sarkasmus. Meine einzige Neigung bestand darin, sofort nach Kregen zurückzukehren.
Gut, es hatte hier eine Aufgabe für mich gegeben, aber ich war im Grunde davon überzeugt, daß die Everoinye mich an ihre Macht erinnern wollten. Ich hatte sie beleidigt, und das war die schreckliche Folge.
Die Reise zur Erde brachte eine erstaunliche Tatsache ans Licht.
Wie oft habe ich auf Kregen behauptet, daß der Planet meiner Geburt vierhundert Lichtjahre entfernt ist? Sehr, sehr oft. Zu meiner tiefen Verblüffung entdeckte ich, daß laut der neuesten astronomischen Forschung die Distanz zu Antares, Alpha Scorpii, fünfhundertzweiundzwanzig Lichtjahre beträgt.
Die Entfernung an sich macht natürlich wenig oder gar keinen Unterschied. Aber ich wurde den albernen Gedanken nicht los, daß ich, falls ich mich für die Reise mit Proviant eingedeckt hätte, für einhundertzweiundzwanzig Lichtjahre zu wenig mitgenommen hätte. Eine lächerliche Überlegung, sicher, trotzdem fröstelte ich bei der Vorstellung, daß ich viel weiter von der Erde entfernt gewesen war als gedacht.
Als der blaue Skorpion endlich – endlich! – auf mich zuraste, war ich wortlos glücklich, in die schreckliche und wunderbare Welt Kregens zurückgeholt zu werden – die fünfhundertzweiundzwanzig Lichtjahre vom Planeten meiner Geburt entfernt ist.