11
Als ich erwachte, war die schneidende Kälte verflogen, und Wärme lag über dem Land. Ein paar Herzschläge lang blieb ich einfach auf dem Rücken liegen und genoß das sanfte Schaukeln, dem ich unterworfen war. Es bestand kein Zweifel; ich befand mich in einem Boot.
Ich war nach Kregen zurückgekehrt; daran gab es auch keinen Zweifel.
Vom Himmel erscholl ein heiseres Krächzen. »Wach auf, Dray Prescot, Herrscher von Onkern! Du hast keine Zeit, wie ein Faulpelz auf dem Rücken zu liegen!« Ich riß die Augen auf. O ja, da war er, drehte direkt über mir seine engen Kreise, ein dunkler Umriß, der sich vom Licht abhob. Obwohl ich ihn nicht ganz genau sehen konnte und ein paarmal blinzeln mußte, bis sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, wußte ich einfach, daß er den Kopf schieflegte und seine runden schwarzen Vogelaugen mich mit der üblichen Mißbilligung betrachteten.
Ich setzte mich ruckartig auf und bemerkte, daß ich meine Kleidung und sämtliche Waffen trug; erstaunlicherweise spannte sich das überlegene Kettenhemd der Herren der Sterne über meine Schultern. Ich schluckte. »Nun, du gefiederter Unglücksbringer! Was willst du?«
»Die Everoinye haben Arbeit für dich!«
»Wann haben sie keine Arbeit für mich?« fauchte ich grob.
Der Gdoinye überhörte meine Worte. »Eine gewaltige Macht des Bösen ist auf das Land losgelassen worden. Dieses Böse existiert, denn die Herren der Sterne spüren es. Aber es kommt und geht, es ergibt keinen Sinn.«
»Wo denn, du dummer Vogel?«
»Urn Vennar.«
Ich wurde übergangslos todernst. Khe-Hi hatte vor Magie gewarnt. Urn Vennar ... Obwohl ich Kregen nur kurze Zeit den Rücken gekehrt hatte, war ich davon überzeugt, daß Didi in der Zwischenzeit genesen war. Sie wollte den Schwierigkeiten in ihrer Provinz auf den Grund gehen. Konnte diese Macht des Bösen mit der Nazabni Ulana Farlan zu tun haben?
»Du wirst sofort aufbrechen und dich nach ...«, kreischte der Vogel.
»Aye, aye, ich weiß Bescheid.«
Diesmal konnte ich ihn besser verstehen. Abrupt wirbelte er herum und flog mit wütenden, energischen Schwingenschlägen unter den Strahlen der Zwillingssonnen davon. Ich legte den Kopf in den Nacken, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Er hielt direkt auf einen weißen Fleck zu, der nichts anderes als die Taube der Savanti sein konnte. Dann stürzte er sich in dieser ehrfuchtsgebietenden Raubvogelmanier in die Tiefe.
Die weiße Taube wich ihm mit einer anmutigen Bewegung aus und gewann an Höhe. Als der Gdoinye den Sturzflug abgefangen hatte, war die Taube weggeflogen.
Im nächsten Augenblick verschwand der Gdoinye.
Ich ließ den angehaltenen Atem entweichen. Ein Blick in die Runde verriet mir, wo ich war.
In verschiedenen Höhen und Stilen errichtete Gebäude säumten beide Ufer des Kanals. Das eine Ende des mir gegenüber befindlichen vierstöckigen, aus hübschen rosafarbenen Ziegeln gebauten Hauses war mit dunkleren Ziegeln neu errichtet worden. Dieses Endstück war während der Zeit der Unruhe in tausend Stücke gesprengt worden, und es war uns trotz erheblicher Bemühungen nicht gelungen, Ziegel in der richtigen Farbe zu finden. Ich trieb auf der Laringen-Schleuse, die in den Großen Nordkanal mündete, wo das Lagerhaus von Nath die Häute stand.
Wenn ich von der Erde nach Kregen zurückkehre, kommt es mir manchmal so vor, als wären viele Perioden vergangen, dann aber wiederum habe ich den Eindruck, als handle es sich nur um eine Sennacht. Bei dieser Gelegenheit traf das letztere zu. Alles, was ich von den in Urn Vennar lauernden Gefahren wußte, trieb mich zur Eile an. Es galt keine Zeit zu verlieren. Trotzdem hoffte ich, daß der gute alte Seg die von dem verflixten Wirbelsturm verursachten Schäden beseitigt hatte – und daß König Zeg die Kaofarils unter Kontrolle hatte.
Hinter mir erscholl eine heisere Stimme. »He, Fambly! Paß auf, wo du herfährst!«
Ich drehte mich um. Ich hockte in einer kleinen Dory – einem Ruderboot –, das kurz davor stand, von dem stumpfen Bug eines Lastkahns getroffen zu werden, der von vier langen Rudern angetrieben wurde. Ich schnappte mir meine Ruder, warf sie polternd in die Dollbords und ruderte die Dory mit ein paar kräftigen Schlägen aus der Gefahr. Der Lastkahn glitt mit einer großen Bugwelle vorbei. »Entschuldige, Dom!« rief ich. Die langen Ruder tauchten ins Wasser ein, wurden durchgezogen, kamen mit einer geübten Bewegung wieder in die Höhe, und der Lastkahn schoß vorbei. Ein katastrophaler Zusammenstoß war im letzten Augenblick vermieden worden.
»Gebrauch die Augen, die Opaz der Gute dir gegeben hat!« Mit dieser letzten Ermahnung fuhr der Lastkahn davon.
Als Vondium damals während dieser schrecklichen Zeit in Flammen gestanden hatte und der alte Herrscher meuchlings ermordet worden war, hatte es dennoch Teile dieser stolzen Stadt gegeben, die alles praktisch unbeschadet überstanden. Nicht viele, das ist wahr, aber einige. Als ich nun den Kanal entlangruderte, nahm ich zufrieden die Fortschritte des Wiederaufbauprogramms zur Kenntnis. Drak machte seine Arbeit als Herrscher von Vallia gut. Ich würde ihm natürlich einen Besuch abstatten und alles in Erfahrung bringen, was er über den Stand der Dinge in Urn Vennar wußte. Dann würde ich mich schnellstens dorthin begeben; Drak müßte mir einen Voller leihen.
Doch ich bin sicher, daß Sie genau wissen, was mir wichtiger war als alles andere. Ich verzehrte mich nach Neuigkeiten über Delia. Was nun eine Zusammenkunft mit ihr betraf ... Tja!
Natürlich gehen selbst auf Kregen Träume nicht immer in Erfüllung, aber, bei Djan, immer noch häufiger als auf der Erde!
Diesmal erfüllte sich der Traum nicht. Delia von Delphond hielt sich nicht in Vondium auf. Entweder war sie im Auftrag der Everoinye oder der Schwestern der Rose unterwegs. Bei Vox, ich wußte nicht, welche der beiden Missionen mich mehr um ihre Sicherheit zittern ließ.
Der Herrscher Drak und die Herrscherin Silda befanden sich auf einer offiziellen Rundreise durch den Südwesten der Insel. Diese Reisen waren nötig, damit das Volk Vallias den Kontakt mit dem Zentrum der Macht nicht verlor. Also begab ich mich zu den ernsten Männern und Frauen des Presidios, die Vallia in Abwesenheit des Herrschers regierten. Sie residierten in einem brandneuen Gebäude, dem Presidium, keinesfalls einem vergoldeter Prunkbau, sondern einem Ort der Arbeit. Es war groß, da es die vielen Ministerien der Regierung beherbergte. Zu meiner Zeit als Herrscher hatte ich das Presidio als ausgesprochen nützlich empfunden, da es mir einen Teil der drückenden Arbeitslast abnahm.
Man überschlug sich vor Hilfsbereitschaft und erfüllte alle meine Wünsche.
Und so ging ich am folgenden Tag – nach einigen hervorragenden Mahlzeiten, Begegnungen mit alten Freunden und der Bearbeitung eines Berges von Korrespondenz – zu meinem neuen Voller, beachtete das Fantamyrh und begab mich an Bord. Es war ein schnelles Gefährt mit sieben Sitzplätzen und dem Namen Purpurrotes Veilchen, und es gefiel mir auf den ersten Blick.
Die Ältesten auf der Flugplattform des Presidios riefen ihre Remberees, ich erwiderte sie, und dann befanden wir uns in der Luft, der großartigen Luft Kregens, und schossen durch das strömende vermengte rubinrote und jadegrüne Licht Zims und Genodras'.
Es hatte auch gute Neuigkeiten gegeben: Drak hatte Seg sofort Helfer und Gerät geschickt, um ihm bei der Beseitigung der Wirbelsturmschäden zu helfen. Die wilde Wut des Himmels und der See war abgeflaut, und sie versuchten in Südpandahem, alles wieder aufzubauen und zur Tagesordnung überzugehen.
Zweifellos ist es eine wunderbare Sache, Herr eines reichen und mächtigen Reiches zu sein! Und ich hatte es kaum erwarten können, diese Last auf die breiten Schultern Draks zu legen, bei Krun. Ich flog nach Norden.
Die Neuigkeiten über die Jagdgesellschaft am Auge der Welt hatten mich gefreut. Didi hielt sich in Zandikar auf und genas langsam; Velia leistete ihr Gesellschaft. Rollo der Läufer war nach Whonban aufgebrochen, jenem geheimnisvollen Ort in Walfarg auf dem Kontinent Loh, wo die Zauberer aus Loh zur Welt kamen und ihre Ausbildung erhielten. In jungen Jahren war er mit seinen Lehrern in Streit geraten. Ich fragte mich, was den durchtriebenen Schurken bewegt hatte, dorthin zurückzukehren. Vielleicht ein Mädchen?
Was nun König Zeg anging – im Augenblick war er damit beschäftigt, dem Vordringen der Kaofaril einen Riegel vorzuschieben. Sie können sich meine Erleichterung vorstellen, als ich hörte, daß der Große Ruf zu den Waffen noch nicht erschollen war. Wäre der Azhurad während meines Aufenthalts auf der Erde ertönt und ich hätte nicht darauf reagiert, wäre ich wieder Apushniad. Das war ein Schicksal, wie es schlimmer nicht sein konnte.
Der Fahrtwind rannte gegen die niedrige Windschutzscheibe an, und ich saß behaglich eingemummt in Flugseide und -pelze da und aß eine Handvoll Palines. Die wohlschmeckenden gelben Beeren beleben das Verdauungssystem und sind eine der größten Freuden des Lebens auf Kregen. Purpurrotes Veilchen raste nach Norden in Richtung Urn Vennar, und das Dröhnen der an ihrem Rumpf entlangstreichenden Luft war Musik in meinen Ohren.
Solcherart im strahlenden grünen und roten Licht Zims und Genodras' über Vallia auf Kregen zu fliegen, war zweifellos eine idyllische Erfahrung. Trotzdem störte mich die simple Tatsache, daß es nicht Delia von Delphond, Delia von den Blauen Bergen gewesen war, die den Proviantkorb gepackt und all die anderen Notwendigkeiten erledigt hatte, die solch ein Flug erforderte. Und das war bei weitem nicht das einzige, weswegen ich diese großartige Frau vermißte!
Es war nicht zu ändern! Ein Pallan des Presidios war dazu abkommandiert worden, sich um meine Bedürfnisse zu kümmern. Er hatte seine Pflichten pedantisch genau erfüllt. Er war extrem dienstbeflissen. Extrem! Sein Name lautete Rango Nalgre na Voilarmin, und er wurde Nalgre der Pedant gerufen. Ein wohlverdienter Name, was das anging. Er hatte sich aus eigenem Antrieb die Mühe gemacht, Nazabni Farlan zu informieren, daß der Herrscher von ganz Paz ihre Provinz besuchen wollte. Er hatte ihr zu verstehen gegeben, daß in ihrem Herrschaftsgebiet besser alles in vorbildlicher Ordnung war, wenn eine solch wichtige Persönlichkeit zu Besuch kam.
Und so war die Möglichkeit, möglicherweise unerkannt in Urn Vennar einzutreffen, auf einen Schlag zunichte gemacht worden. Ich konnte nicht Jak oder Dak sein, auch nicht Chaadur oder Kadar, selbst Drajak schied aus. Wieder einmal zwangen mich Dinge, auf die ich keinen Einfluß hatte, auf starre Pfade. Ich mußte Dray Prescot sein, Herrscher aller Herrscher, Herrscher von ganz Paz, der Ex-Herrscher von Vallia!
Welch ein Unfug! Ich werde Ihnen das nicht enden wollende Hofieren ersparen, das sich ständig wiederholende ›Majister dies‹ und ›Majister das‹. Es reicht, wenn ich Ihnen sage, daß man mich vom Anbruch der Dämmerung bis zum Sonnenuntergang Majister nannte – und nachts auch noch, bei Krun!
Doch es war nicht alles verloren. Die wohlmeinenden Leute des Presidios und aus Urn Vennar wußten nichts von der Technik, die mir der Zauberer aus Loh und mein guter Kamerad Deb-Lu-Quienyin beigebracht hatte. Er hatte mir gezeigt, wie ich meine Gesichtszüge so verändern konnte, daß mich nicht einmal enge Freunde wiedererkannten. Allerdings muß ich hinzufügen, daß diese Kunst noch immer wie eine Million Bienen stach, die über meine abgenutzte Physiognomie herfielen, bei Krun.
Aber das war wirklich kein hoher Preis dafür, außerdem wurden die schmerzvollen Nebenwirkungen bei jeder erneuten Anwendung dieser Technik unbedeutender.
So konnte ich, wenn ich es wollte, trotzdem Drajak oder einer der anderen sein. Während Purpurrotes Veilchen durch das strömende Licht der Sonnen von Scorpio raste, bereitete ich mich schon einmal seelisch darauf vor, daß mich in absehbarer Zukunft ein paar Bienenstiche peinigen würden.
Während meines Zwangsaufenthaltes auf der Erde waren Drak, Silda und Delia nach Zandikar gereist und hatten Didi einen Besuch abgestattet. Dem Rest der Familie war es ebenfalls gelungen, sich von ihren zwingenden Pflichten freizumachen, um sie zu besuchen. Zeg war schrecklich besitzergreifend, was seine Nichte anging, und so hatten alle zugestimmt, daß es für Didi am besten war, wenn sie in Zandikar blieb und sich dort auskurierte. Ich muß zugeben, ich kam nicht um den flüchtigen, zugegebenermaßen gemeinen Gedanken herum, daß ich froh war, nicht in diese Diskussion verwickelt worden zu sein!
Ich erspare Ihnen auch die langweiligen Einzelheiten des Empfangs, den man mir in Urn Vennar bereitete. Man veranstaltete ein prächtiges Schauspiel, das stand außer Frage.
Während der lästigen Festlichkeiten mußte ich herausgeputzte Gewänder mit einer so hohen Mazilla tragen, daß ich schon Angst hatte, der juwelenbesetzte hohe Kragen werde gegen die Deckenleuchter stoßen. Das Essen war gut, der Wein annehmbar. Der Tanz ließ Erinnerungen an glückliche Zeiten aufkommen, und als der Gesang begann, wie es in Vallia auf Paz nun einmal Sitte ist, stimmte ich fröhlich ein.
Wir sangen viele der alten Lieblingslieder. In diesen Tagen ging in Vallia ein neues Lied um, eine lebendige kleine Melodie. Die dazugehörigen Worte waren Nonsens, den man so interpretieren konnte, wie man wollte. Es hieß das Ortla-Lied, da die Sänger ihren eigenen Sinn in diesem Unsinn entdecken mußten.
Auf der Erde gibt es den weitverbreiteten Brauch, Kinder nach den herrschenden Monarchen zu benennen. In Vallia ist das anders. Seg, der seinen Erstgeborenen Drayseg genannt hatte, hatte sich spöttisch über den vallianischen Brauch hinweggesetzt, da er kein Vallianer war, sondern aus Erthyrdrin im nördlichen Loh kam. Als wir dann das teuflisch zweideutige Lied ›Der alte Drak‹ sangen, wußte jeder ganz genau, von wem hier die Rede war. Natürlich war das Lied für einen vor langer Zeit verstorbenen vallianischen Herrscher geschrieben worden; jetzt war es auf meinen Sohn Drak gemünzt. Und so stimmte ich lauthals mit ein, bei Krun!
Das fröhliche Bankett gab mir ausreichend Gelegenheit, mir ein Bild von der Nazabni zu machen. Sie erinnerte mich an ein kleines graues Häschen, das sich mit angelegten Ohren zusammenkauerte. Der saubere Knoten, der ihr dunkles Haar zusammenhielt, war schmerzhaft straff gebunden; das feste runde Kinn erinnerte mich an ihren Vater. Man kann nur bis zu einem gewissen Punkt vom Aussehen auf den Charakter einer Person schließen. Sie schien mit entschiedener Entschlossenheit zu handeln. Während das Fest mit Wettspielen und Gesang seinen Lauf nahm, kam ich zu dem Schluß, daß sie sich viel zu sehr auf ihren Ersten Pallan verließ.
Was nun diesen Mann anging, Nath Swantram, Nath der Clis, so waren mir Männer seiner Sorte nur allzu vertraut. Er gehörte zu jenen Burschen, die es durch Geschick und Skrupellosigkeit weit gebracht hatten, und es kostete keine Mühe, sich vorzustellen, wie in der Brust unter dem prächtigen Gewand finstere Pläne brodelten. Ihn mußte man im Auge behalten. Er quoll über vor Aufmerksamkeit und Schmeicheleien. Doch mir entging keinesfalls, daß ihm wie auch der Nazabni eine unterschwellige, fiebrige Unruhe zu schaffen machte.
Schließlich erkundigten sie sich weitschweifig und mit übertriebenem Takt nach den Gründen meines Besuchs in Urn Vennar. Die entwaffnend ehrliche Antwort reichte aus. Prinzessin Didi sorgte sich um ihre Provinz und wollte, daß ich bis zu ihrer Genesung an ihrer Stelle half. Man würde Schwierigkeiten auf gerechte Weise aus der Welt schaffen.
»Schwierigkeiten!« rief Ulana Farlan mit einem schrillen Kichern, das eher zu einem Schulmädchen als zu einer Nazabni paßte. »O nein, Majister. Von den üblichen und erschöpfenden Pflichten abgesehen, haben wir keine Schwierigkeiten.«
»Genau«, fügte Nath der Clis hinzu.
Später am selben Abend veränderte ich mein Antlitz auf nur unbedeutende Weise, so daß die Bienenstiche kaum zu bemerken waren, und schlich mich in einfacher Kleidung in die Stadt. Ich ging bewaffnet – selbstverständlich, bei Vox!
Ein Becher Wein in der einen Taverne, einen in der nächsten ein paar Häuser weiter; ich hörte zu, beteiligte mich an den Gesprächen, machte mir ein Bild von der Stimmung der Leute und kam schließlich zu einem Schluß. Vorausgesetzt, Nath der Clis verstand seine Arbeit und die Nazabni hörte auf ihn, hatten die beiden mir frech ins Gesicht gelogen. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, daß sie nicht wußten, was vor sich ging.
Es war gemordet worden. Man hatte zwei Chuliks in einer Gasse tot aufgefunden, schrecklich verstümmelt. Beide hatten der Stadtwache angehört. Beide Gesichter waren zu verzerrten Grimassen unerträglichen Grauens erstarrt.
Einen Fristle hatte man an vier verschiedenen Orten aufgefunden, sauber gevierteilt. Auch er war Angehöriger der Stadtwache gewesen.
Die drei Jurukker hatten der persönlichen Wache von Nath dem Clis angehört. Sein Kapitän, ein kräftiger Rapa namens Ringald der Iarvin, trug bei der Arbeit einen äußerst besorgten Ausdruck zur Schau.
Bis jetzt hatten diese Ereignisse in Gafarden keine Panik ausgelöst – schließlich waren Mord und Gewalt für die Kreger viel alltäglicher als selbst den Bewohnern der gefährlichsten Städte der Erde. Die größte Besorgnis rief der Ausdruck fassungslosen Entsetzens – abgrundtiefen Grauens – hervor, der in die Gesichter der Opfer gestempelt war.
Nath der Clis mußte seine Untergebenen fest im Griff haben, denn im Palast war kein Sterbenswort über die Morde gefallen. Vielleicht maß ich der Angelegenheit auch zuviel Bedeutung bei. ›Ein paar Morde in den dunklen Gassen der Stadt, Majister‹, würde er sagen. ›Damit muß man rechnen.‹ Und unglücklicherweise war das sogar die Wahrheit. Trotzdem spürte ich die Unruhe, die sich über diesen Ort gesenkt hatte, eine lauernde Furcht, die es nicht gegeben hätte, hätte es sich bei diesen Morden um die üblichen Gewaltverbrechen gehandelt.
Als Nazabni Ulana am nächsten Morgen zum zweiten Frühstück herunterkam, war sie prächtiger gekleidet als sonst, und die sorgfältig aufgelegte Schminke war in dem kleinen Gesicht nicht zu übersehen. Unter den Teilnehmern an dieser Mahlzeit fiel mir besonders ein gutaussehender Mann auf. Mit der Uniform des vallianischen Luftdienstes bekleidet und mit vielen Quasten auf der Brust, strahlte er Selbstbewußtsein und unbekümmerten Charme aus. Sein Haar war einen oder zwei Ton heller als das gewöhnliche vallianische Braun, was ihm ein löwenhaftes Aussehen verlieh.
Ein schmächtiges Mädchen an seiner Seite labte sich förmlich am Charme des Fliegers. Es rührte sich nicht, während es ihm zuhörte, doch es vermittelte den Eindruck, als würde es auf Wolken tanzen. Das muntere Gesicht glühte, als sie zu ihm aufsah.
Nath der Clis stellte sie vor. »Die Dame Ahilya Vorona. Jiktar Yavnin Purvun.«
Nach den üblichen Lahals wechselten wir ein paar Worte. Die beiden würden ein hübsches Paar abgeben, davon war ich überzeugt. Ich leerte meinen Pokal und wandte mich höflich ab, als der alte und hinkende Ornol die Bücher mir zunickte. Mein Blick fiel auf Nazabni Ulana Farlan. Sie stand in verkrampfter Haltung da, eine Hand flach auf den Tisch gestützt, die andere vor die Brust gepreßt. Ihr Gesicht war wie in Wachs getaucht. Sie starrte den tapferen Kampeon Jiktar Yavnin Purvun mit weitaufgerissenen braunen Augen an.
Er bemerkte es nicht, denn er war damit beschäftigt, den Pokal der Dame Ahilya wieder aufzufüllen. Dann fing Ornol die Bücher an, mir von seinen Plänen zum Bau einer neuen Bibliothek zu erzählen, denn er wollte, daß ich Didi um die Erlaubnis bat, sie nach ihr zu benennen. Ich versicherte ihm, daß sie begeistert sei, und beglückwünschte ihn zu seiner vorbildlichen Arbeit, Gafarden aufgeklärte und fortschrittliche Kultur zu bringen.
Ulana wandte sich brüsk um. Sie verließ das Frühstücksgemach mit kurzen, abgehackten Schritten. Nun, das ging mich nichts an. Dennoch fühlte ich kurz so etwas wie Sympathie für die Nazabni. Zweifellos war der galante Flieger Jiktar Yavnin Purvun ein prächtiges Exemplar vallianischer Männlichkeit. Die Dame Ahilya mußte höchst zufrieden sein, daß ihr ein solcher Fang geglückt war.
Die Frühstücksgäste brachen auf, um den Geschäften des Tages nachzugehen. Ein Wächter trat ein, blickte sich um, fand Nath den Clis und trat zu ihm. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Dann verließen sie eilig das Gemach.
Ich brauchte keine Einladung, um ihnen zu folgen. Sie hasteten den Korridor entlang. Nach ein paar Abzweigungen zeigte der Wächter auf eine Tür. Nath Swantram klopfte. Er klopfte hochmütig. Unbemerkt beobachtete ich sie. Er klopfte erneut. Die Tür blieb verschlossen.
Der Wächter sagte: »Ich habe ihn hineingehen sehen, Jen. Er wird auf dem Exerzierplatz erwartet.«
»Nun, bei Vox, warum antwortet er dann nicht und öffnet die Tür?«
Nach weiterem fruchtlosen Klopfen befahl der Erste Pallan: »Brecht die Tür auf.«
Die Tür war aus widerstandsfähigem Lenkenholz. Der Wächter verschwand und kehrte mit drei Kameraden zurück, die mit Äxten bewaffnet waren. Meine Neugier gewann die Oberhand, also schloß ich mich der Gruppe an.
Als der Clis mich erblickte, wurde er sofort demütiger. »Ah, Majister.«
Ich nickte, und die Wächter gingen die Tür an. Nach einigen kräftigen Axtschwüngen und durch die Luft fliegenden Holzsplittern gab die Tür nach.
Wir traten ein und erstarrten, als wir sahen, was uns erwartete.
Der Rapa-Cadade, der zusammengesunken in der Ecke kauerte, war nicht mehr als ein blutiges Bündel. Seine Hände, die abwehrend über den Kopf erhoben waren, schimmerten an den Stellen, an denen die Knochen durch das zerfetzte Fleisch hervorschauten, gelblich-weiß. Vorhänge und Möbel waren blutbespritzt. Noch während wir fassungslos dastanden, kippte er langsam seitwärts und lag dann in seinem eigenen Blut. Der Ausdruck unaussprechlichen Grauens auf seinem Gesicht verriet, daß er in Angst gestorben war.
Eine Untersuchung des Raums ergab, daß die Fenster verriegelt und die Tür von innen verschlossen waren.
»Wie kann das sein?« Nath der Clis legte eine Hand an die Narbe.
Einer der Wächter sagte: »Niemand hätte hier hereinkommen können, Jen.«
»Und doch ist er tot«, stieß ich schroff hervor. Und fügte leise für mich hinzu: »Das klassische Geheimnis des Mordes im verschlossenen Zimmer.«