18
Tobi Vingal ging auf unsicheren Füßen. Sein totenbleiches Gesicht sah aus wie ein schmutziges Taschentuch, das man zusammengeknüllt in die Ecke geworfen hatte. Seine Hände fuhren ziellos durch die Luft wie bei einem Blinden. Diese Hände waren leer, und die Scheide, in der der lohische Lynxter hätte stecken müssen, hing ebenfalls leer herab.
Im nächsten Augenblick erschienen ein paar Angehörige des Wachkorps hinter ihm. Es waren Kampeons, harte Männer mit eisernem Willen, die in ihren Feldzügen eine Menge von den fauligen Schattenseiten des Lebens gesehen hatten. Ihre gebräunten Gesichter waren zu Granit erstarrt. Sie hatten nicht zum erstenmal in die Tiefen der Hölle geblickt; weil sie waren, was sie waren, konnten sie das Schreckliche ertragen, das sie gerade gesehen hatten – gerade so eben.
Naghan Raerdu trat vor. »Tobi! Hast du das Phantom gesehen?«
Tobi schüttelte wie benommen den Kopf. »Nein.« Er flüsterte, durchlebte den Alptraum erneut, dessen Zeuge er geworden war. »Nein. Ein Schlachthaus. Leichen... Leichenteile ... überall verstreut. Blut ...«
»Wir sehen es uns an«, befahl ich energisch, ohne herumzukommandieren.
Die Szene, die sich im grellen Licht einer Mineralöllampe vor uns ausbreitete, war genauso, wie Tobi sie beschrieben hatte. Niemand sagte ein Wort. Es waren neun Meuchelmörder gewesen. Die Anzahl der Körperteile, die im Blut schwammen, war wesentlich höher.
Zufällig gehörte der Kopf, der mir am nächsten lag, dem Fristle mit dem Versehrten Ohr. Beim Gedanken an Palines Aufenthaltsort hob ich den Fuß. Ich wollte dem Katzenmann einen ordentlichen Tritt versetzen, um ein Versprechen zu erfüllen. Dann hielt ich inne und senkte den Fuß. So abstoßend die Verbrecher dieser Mörderbande auch gewesen waren, in diesem Schlachthaus sollte ich ihnen etwas Würde im Tod zugestehen.
Tobi war draußen geblieben, und neben einer offenen Tür an der linken Wand lag sein Lynxter am Boden. An der rechten Seite und der gegenüberliegenden Wand gab es ebenfalls Türen. Die Stikitche hatten es geschätzt, viele Fluchtwege zu haben. Als ich losging, um Tobis Schwert aufzusammeln, wobei ich darauf achtete, wo ich hintrat, erschien Yavnin in der rechten Tür. Wir ließen ihm und den Kampeons an seiner Seite schweigend Zeit, sich in aller Ruhe ein Bild zu machen.
Kurz darauf kam Nevko durch die Hintertür und blieb wie angewurzelt stehen. Er starrte auf den Boden, und die ihm folgenden Jurukker schlossen sich ihm an. Wieder sagte niemand ein Wort.
Als ich der Meinung war, daß genug Zeit verstrichen sei, sprach ich in beherrschtem, aber hartem Ton. »Brassud!« Bei dem Befehl nahmen alle Haltung. »Da gibt es ein junges Apim-Mädchen namens Paline. So dünn wie der Morgennebel. Man muß sie finden und sich um sie kümmern.« Beinahe – aber wirklich nur beinahe – hätte ich noch ein autoritäres ›Bratch!‹ hinzugefügt. Meine Jungs hätten sich auch so in Windeseile ans Werk gemacht, denn es war klar, wer den Befehl gegeben hatte.
Nevko sagte: »Ich wäre früher hiergewesen, aber der rückwärtige Teil ist ein wahres Labyrinth aus Anbauten. Bei Vox! Ist das hier zu glauben?«
»Es ist die Wirklichkeit, Nalgre.«
Die Jurukker, die sich in der Hintertür drängten, standen zuerst so stumm da wie ihre Kameraden. Dann beteiligten sie sich an der Suche nach einem einfachen, mißhandelten Mädchen. Es war Larghos der Dürre, ein Hikdar der 1SWH, der sie fand. Er trug sie auf den Armen und berichtete, sie hätte in einem stickigen Hinterzimmer hinter einem Bett gekauert. Sie vergoß nicht eine Träne, und ich fragte mich, welche Erklärung von vielen Möglichkeiten dafür wohl zutraf. Sie wurde mit dem strikten Befehl zum Palast getragen, daß die Dame Leonie die Küche ihr die größtmögliche Sorgfalt und Pflege zukommen lassen sollte.
Deldar Vamgal der Arm trat vor. »Jis, dieser Dieb ...«
Rampas der Ölige hörte auf, sich zu übergeben. Er hing in Vamgals Griff wie ein schlaffes Stück nasser Hanf. »Oh, ich glaube, er ist bloß ein Dieb. Wir können ihn laufen lassen, Vamgal.«
Der Deldar schüttelte den Och. »Dank deinem Diproo für diese Gnade.« Sein finsterer Blick hätte einem Leem Angst eingejagt. »Und dank allen anderen Namen, daß du mich nicht angekotzt hast!«
Das schlaffe Stück Hanf richtete sich wieder auf. Seine Lippen glänzten feucht. »Danke, danke ...«
Vamgal packte sein Ohr zwischen Daumen und Finger. Er schüttelte den Och sanft. »Danke, Majister, heißt das, du Onker.«
»Ja, ja«, stammelte Rampas. »Danke, Majister.«
»Soviel zu klugen Verkleidungen und Decknamen«, bemerkte Naghan der Unscheinbare. Erst jetzt fiel mir auf, daß ich längst wieder mein eigenes Gesicht zur Schau trug.
Dieses Intermezzo trug dazu bei, die Situation weiter zu entspannen, was mit der Suche und dem Auffinden Palines begonnen hatte. Oh, und kommen Sie nur nicht auf den Gedanken, daß ich Diebe so ohne weiteres dulde. Dem ist nicht so. Aber selbst in unserem schönen neuen Vallia haben einige der alten Übel überlebt.
Mir war klar, daß es jeder kaum erwarten konnte, diesen verfluchten Ort hinter sich zu lassen, aber zuerst mußte alles so erledigt werden, wie es sich gehörte. Man mußte das Aufsammeln und das Begräbnis der Toten organisieren. Der Lärm – von so kurzer Dauer er auch gewesen war – hatte Aufmerksamkeit erregt, und die Straße füllte sich mit den neugierigen und alarmierten Leuten der Nachbarschaft. Schließlich hatten wir alles erledigt und begaben uns in bedrückter Stimmung in die Wachunterkünfte und den Palast. Das war eine Nacht, an die wir uns noch lange erinnern würden – oder besser auch nicht, da die Erinnerung nur die abscheulichen Bilder des blutigen Zimmers heraufbeschworen hätte.
Als sich am nächsten Tag die Neuigkeiten in Gafarden verbreiteten, erhielt der Ort des Todes genau diesen Namen – das Kazzvew, das blutige Zimmer.
Die rasende Blutgier des Ungeheuers, das die Menschen nun mit gedämpften Stimmen als das Phantom bezeichneten, mußte gestillt worden sein – zumindest für den Augenblick. Den einzigen Mord, der sich in den nächsten Tagen ereignete, konnte man schönfärberisch als ›normales‹ Verbrechen bezeichnen. Weil Lart der Metzger seine Frau Jodie einmal zu oft schlug, ergriff sie sein Lieblingsmesser und jagte es ihm zwischen die Rippen. Das Phantom schlug nicht erneut zu.
Was die arme Jodie anging, die man auch unter dem Namen die Traiky kannte, so würde man sie vor den Ersten Pallan bringen. Falls nötig konnte sie sich mit einem Bittgesuch an Prinzessin Didi wenden – selbst in einem solch offensichtlichen Fall – und von dort aus weiter an den Herrscher und die Herrscherin. Die Frage bezüglich der offiziellen Stellung der Nazabni war noch immer ungeklärt.
Von Drak kam ein weiterer langer Brief, in dem er ausdrücklich festhielt, wie unzufrieden er mit der Situation in Gafarden sei. Er würde Rennel Lorving als neuen Nazab einsetzen, aber er konnte ihn noch nicht von seinen Pflichten in Vondium abziehen. Ich will die Teile des Briefes, in denen Drak sich ohne Zurückhaltung über die Morde und insbesondere über die hinterhältige Ermordung Nath Verunders ausließ, an dieser Stelle überspringen. Er fügte hinzu, er wolle Inch bitten, aus den Schwarzen Bergen herüberzufliegen und der Sache auf den Grund zu gehen.
Das munterte mich auf. Es würde großartig sein, Inch einmal wieder zu sehen, und zwar in seiner vollen Körpergröße. Die Zeiten, die Seg, Inch und ich zusammen verlebt hatten!
Doch bevor es soweit war, schaffte es Nath Swantram, der Erste Pallan, sich von seinem Krankenlager zu erheben, seine Richterrobe überzustreifen und über Jodie, die Frau des toten Metzgers, Gericht zu halten. Zwar vertrat ich durchaus die Meinung, daß die arme Frau auf unerträgliche Weise herausgefordert worden war, aber das war nicht meine Angelegenheit. Ich war und blieb der ehemalige Herrscher von Vallia.
Und so können Sie sich meine Überraschung vorstellen, als ein niederrangiger Pallan an meine Tür klopfte. »Majister. Hier ist ein junges Mädchen, das dich sprechen möchte. Es ist verzweifelt ...« Der Pallan hob die linke Hand, in der rechten hielt er das Zepter seines Amtes. »Es sagt, es sei sein Recht.«
Als ich noch Herrscher gewesen war, hatte ich Vorzimmer voller Leute gehabt, die mich in allen möglichen dringenden Angelegenheiten hatten sprechen wollen. Die Abdankung hatte mich von dieser beschwerlichen Last befreit. Dennoch – ihr Recht? Nun ja. Wenn das neue Vallia auch das in die Tat umsetzen wollte, was es predigte, dann hatte dieses Mädchen nicht nur das Recht, den ehemaligen Herrscher von Vallia zu sprechen, sondern auch den Herrscher von ganz Paz. Ich nickte. »Schick sie rein, Nath.« Sie hören richtig, dieser kleine Pallan war ein weiterer der unzähligen Naths Kregens.
Das Mädchen, das sich als Matty vorstellte, war kräftig gebaut. Es war sogar sehr kräftig gebaut. Nun, um die Wahrheit zu sagen, es war fett. Das runde rote Gesicht glänzte, und die Augen waren wie zwei schwarze Johannisbeeren, die man in einen Pudding gedrückt hatte. Ihre nackten Unterarme hätten einem Pikenträger gehören können, sie gingen in zierliche Handgelenke über, an denen ihre breiten Hände wie zwei Bananenstauden hingen, wie man in Clishdrin sagt. Sie war ordentlich in ein einfaches Kleid mit Blumenmuster gekleidet, und die Höflichkeit und das Mitgefühl für sie verbieten es mir, den Vergleich mit einem Zirkuszelt zu bemühen.
Sie berichtete mir, daß sie schon bei der Nazabni vorgesprochen habe, aber die habe einfach nur gesagt, ihre Stellung verleihe ihr keine Autorität mehr. Ulana hatte Matty den Vorschlag gemacht, zu mir zu kommen. »Die Nazabni sah richtig krank aus, Majister. Sie ist so schmal, daß ich befürchte, sie quest dahin.« Mit quest meinte Matty verflüchtigen, wie ein Ballon, der seine Luft verliert.
Mir fiel auf, daß das Mädchen trotz seiner Probleme die Zeit und das Mitgefühl fand, sich um andere Menschen zu sorgen.
Außerdem erkannte ich mit einem gewissen Schuldgefühl, daß ich mich in letzter Zeit nicht um Ulana gekümmert hatte. Ich nahm mir vor, ihr später sofort einen Besuch abzustatten.
Matty berichtete, ihr Vater sei schon immer sehr gewalttätig gewesen. Sie war das älteste von elf Kindern, und sie alle hatten ohne ersichtliche Gründe die kräftige Hand im Gesicht zu spüren bekommen. Was nun ihre Mutter anging – hier rollte Matty eine dicke Träne über die dicke rote Wange –, stellte sie nur noch eine Masse aus schwarzen und blauen Flecken sowie aus blutigen Schnitten dar, die von dem Messer stammten, das gerade in Reichweite gelegen hatte. »Darum, Majister, bitte ...«
»Also gut, Matty. Ich werde dem Ersten Pallan sofort einen Besuch abstatten.«
Als sie das hörte, wischte sie sich mit einem spitzenverzierten Taschentuch das Gesicht ab. Sie bedankte sich, nicht kokett, sondern dankbar. Ich warnte sie, sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen. »Ich herrsche nicht mehr über Vallia. Ich kann nur einen Rat geben.«
Als sie mein Arbeitsgemach verlassen hatte, kam es mir beträchtlich größer vor.
In gutes, widerstandsfähiges, vallianisches Leder gekleidet, machte ich mich auf den Weg zu Nath Swantram, um bei dem Mord an dem Metzger zu vermitteln.
Der Palast und die Festung, die man auf den alten Fundamenten errichtet hatte, verfügten über die üblichen Kerker, aber man hatte mir zu verstehen gegeben, daß sie seit Perioden nicht mehr benutzt worden waren. Didi hatte den Bau eines neuen Gefängnisses mit angemessenen Unterbringungsmöglichkeiten für Gesetzesbrecher angeordnet, wobei ihre humanitären Neigungen von der unerfreulichen Notwendigkeit gemäßigt wurden, daß solche Leute hinter Schloß und Riegel gehörten. Der Erste Pallan stattete dem Gefängnis, das den Namen Chundrognik trug, gerade einen Besuch ab, also konnte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Wie ich mir hätte denken können, rieb sich Nath der Clis nachdenklich die Narbe und breitete dann in jener bekannten Geste die Hände aus. Die Frau Jodie die Traiky habe ihren Mann umgebracht, daran bestehe kein Zweifel. Es handle sich um eine Angelegenheit, die nicht wichtig genug sei, um an höherer Stelle vorgebracht zu werden. Die Prinzessin liege krank in einem weit entfernten Land, und wenn man den Herrscher mit solchen Fällen belästige, nun, dann bleibe ihm keine Zeit mehr, das Reich zu regieren. »Nein, nein, Majister, die Frau muß hängen.«
Dieser Schurke war sich seiner Autorität sehr sicher. Ich war nur als Beobachter und Ratgeber für die Nazabni hier. Alles, was er sagte, entbehrte nicht einer gewissen Wahrheit, aber in solcherart gelegenen Fällen würde mein Junge Drak genauso handeln, wie ich es getan hatte, und einen Richter benennen, der die ganze Angelegenheit sorgfältig prüfte. Ich wies Swantram darauf hin. Er rieb sich die Narbe. Wir saßen in einem Raum des Gefängnisses, der dem Kommandanten als Arbeitsgemach überlassen war. Nalgre Avansur saß stumm da. Vermutlich hatte ihn Nath der Clis unter seinem Daumen – genau wie den Rest von Gafarden. Das rote und grüne Sonnenlicht zeichnete sich auf der gegenüberliegenden Wand ab.
Der Erste Pallan rechnete sich in seinem frettchenhaften Kopf aus, ob es besser war, den Fall selbst vor den Herrscher zu bringen oder es mich tun zu lassen, womit er eine Anklage wegen Unfähigkeit und Vernachlässigung seiner Pflichten hinsichtlich der Justiz und der Verwaltung der Provinz riskierte. Bei Krun, dachte ich, soll er doch schwitzen!
Schließlich nickte er brüsk und sagte, aus Respekt vor mir – diese Unehrlichkeit tat weh! – werde er dem Herrscher die Papiere schicken.
So hatte die arme Jodie die Traiky wenigstens einen Aufschub bis zur Hinrichtung bekommen.
Ich warf einen Blick auf die Clepshydra und sah, daß es fast Zeit für das Treffen mit meinen drei neuen Gefährten war. Ich erhob mich, wünschte allen ein Remberee und ging.
Als Didi die Befehle für den Bau der neuen Hauptstadt ihrer Provinz erteilt hatte, hatte sie darauf bestanden, daß man die neuesten Ideen der vallianischen Städteplanung miteinbeziehen sollte. Und so bot Gafarden mit Ausnahme der Altstadt einen sauberen und schmucken städtischen Eindruck. Der Treffpunkt befand sich ganz in der Nähe des Gefängnisses, und so spazierte ich in Richtung der Taverne Zur Silbernen Feder und freute mich auf ein gemütliches Mittagsmahl, wobei ich nicht ganz unzufrieden über den Ausgang meines Gesprächs mit Nath Swantram war.
Und so kam es, daß ich durch puren Zufall ganz in der Nähe war, als das Phantom wieder zuschlug. Beim Aufruhr in meinem Rücken fuhr ich herum; dabei erahnte ich bereits den Anlaß für die Schreie. Leute flohen wie verrückt von einer Kreuzung und stürmten in blindwütiger Panik die Straße entlang.
Ein Mytzerwagen voller Früchte stürzte krachend um, trampelnde Füße zertraten die reifen Früchte. Der durchdringende Duft nach Gregarinen hüllte die Menge ein und verlieh der Szene eine seltsame, beinahe unwirkliche Atmosphäre.
Es gab keinen Zweifel, was der Grund für diese panische Flucht war. Männer und Frauen brüllten: »Das Phantom! Das Phantom!« Die Straße brodelte vor verzweifelten Menschen, die allein von dem Gedanken beherrscht wurden, dem Schrecken zu entfliehen.
Nun mag ich ja Dray Prescot sein, Lord hiervon und davon, was ja auch alles sehr schön und romantisch klingt. Aber ich sah keinen Grund, warum ich mich auf so unschöne Weise in Stücke reißen lassen sollte. Ich hatte gesehen, was diese unheimliche Kreatur anrichten konnte. Also ergriff ich ebenfalls die Flucht – und zwar klugerweise, bei Krun!
Wenn Sie meine Abenteuer verfolgt haben, dann sollte es Sie nicht überraschen, daß ich mich so einfach umdrehte und die Flucht ergriff. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, nun, dann würde ich ausharren und bis zum Tod kämpfen. Ich war nicht mehr der Dray Prescot, der vor so vielen Perioden nach Kregen versetzt worden war. O ja, bei Djan, ich konnte noch immer zum Berserker werden. Aber ich beherrschte diesen Impuls, um ihn im Keim zu ersticken. Nun gut, zugegeben, manchmal war ich eben noch immer dieser junge und unbeherrschte Dray Prescot, der den Fluß Aph in dem aus einem Blatt konstruierten Boot hinauf segelte – vielleicht sogar öfter, als mir lieb war.
Und so blieb ich wie ein Grünschnabel stehen, wie der größte Onker von ganz Kregen, und wandte mich um.
Die entsetzt brüllenden Fliehenden hatten mich alle überholt, so daß ich ganz allein auf der Straße stand. Ich zog das Krozair-Schwert. Wenn dieser verfluchte Untote Männer und Frauen in Stücke riß – was dieses Monstrum ja bekanntlich tat –, dann mußte er stofflich sein. Er mußte einen Körper haben. Ergo war er für den Kuß einer kalten Klinge empfänglich.
Und so stand ich, Dray Prescot, dort in der menschenleeren Straße, die lange Krozair-Klinge kampfbereit erhoben, und kam mir wie ein echter Narr vor, der Narr aller Narren, der dümmste aller Onker diesseits der Eisgletscher von Sicce.
Eine funkelnde blaue Lichtsäule schälte sich vor mir aus der Luft.
Sie gewann an Dichte und verfestigte sich zu der Gestalt eines Mannes. Er hatte sich einen neuen Turban zugelegt, aus pastellfarbener Seide, verziert mit Perlen und silbernen Sternen. Der schöne neue Turban saß so gerade auf dem Kopf wie ein Kirchturm. Es war keine Frage, daß er sehr bald eher dem schiefen Turm von Pisa ähneln würde.
»Jak!« rief Deb-Lu-Quienyin aus. »Geht es dir gut?«
»Wie du siehst, Deb-Lu.« Ich mußte ein Lächeln unterdrücken. »Und dir?«
»Diese mächtige Macht des Bösen, vor der Khe-Hi gewarnt hat. Sie kommt und geht – sehr ärgerlich, das.« Hinter jedem seiner Worte schwang wieder einmal ein Ausrufezeichen mit. »Uns erwarten Tage des Unheils und böser Omen. Katastrophen.« Unwillkürlich hob er die Hand, um den Turban geradezurücken, der das gar nicht nötig hatte. »Oh, mir? Nie besser.« Dann fügte er noch etwas hinzu, das mich tief bewegte und den Grund für seinen Besuch enthüllte. »Drak hat mich gebeten, nach dir zu sehen, mich zu vergewissern, daß du dich nicht hast umbringen lassen.«
Der Zauberer aus Loh hatte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als ich an der Kreuzung eine verstohlene Bewegung sah. »Das ist nett. Deb-Lu – wenn du dich umdrehst, kannst du das personifizierte Böse sehen.«
»Was!« Er fuhr so schnell herum, daß sich sein Gewand aufblähte.
Das Phantom glitt auf die Kreuzung zu, modrige Stoffetzen und schleimig glänzende Stücke seines Fleisches fielen hinter ihm zu Boden. Es hielt genau auf mich zu.
In den schwarzen leeren Augenhöhlen flammte plötzlich das rote Feuer auf. Die Bestie schwenkte die skelettierten Arme. Schwarz verfärbte Finger, die mehr Ähnlichkeit mit Krallen hatten, durchteilten die Luft. Ich stählte mich, die Krozair-Klinge bereit.
Blaues Licht umzüngelte die knochige Gestalt. Das Phantom blieb abrupt stehen. Der Totenschädel zuckte in diese Richtung und dann in jene. Der grauenvolle Untote sonderte hellsprühende Funken ab. Sie bohrten sich in die blaue Strahlung. Flammen umtanzten einander und bekämpften sich. Der blaue Schein verblaßte immer mehr.
»Ich kann nicht ...«, stieß Deb-Lu hervor. »Dieses Ding ist stark!«
Dann richtete sich mein Kamerad zu seiner vollen Größe auf, eindrucksvoll, befehlend. Er streckte die Hand aus, zielte mit dem Finger. Grelles gelbes Licht blitzte hervor. Der Zauberer kanalisierte die seltsame Energie jener anderen Existenzebene und schleuderte sie dem Phantom entgegen, das in der blendenden Lichtflut verschwand.
Einen Herzschlag lang glaubte ich, Deb-Lu habe gesiegt. Dann bildete sich ein rotierendes Flammenrad, als aus dem Phantom Blitze schlugen, um sich Deb-Lus okkultem Angriff zu stellen. Dort, wo die Lichtlanzen der Macht aufeinandertrafen, trat die gefürchtete Königin von Gramarye in Erscheinung.
»Jak! Geh weg!« stieß Deb-Lu mühsam hervor.
Ich wußte, was er meinte. Sollte das Phantom das Kharma meines Kameraden überwinden, würde sich die Königin von Gramarye auf Deb-Lu stürzen und ihn und alles, was sich in ihrem Pfad befand, restlos vernichten.