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»Hätten wir einen Voller mitgenommen«, sagte Rollo ziemlich kritisch, »hätten wir diesen unangenehmen Kampf vermeiden können.«

Rollo der Läufer kam aus Loh, wo Flugboote noch ungewöhnlicher waren als die Aussicht auf den Anblick, wie sich die sieben Monde Kregens blau verfärbten. Er hatte gelernt, ein Flugboot mit einigem Geschick zu steuern, doch es war bemerkenswert zu beobachten, mit welcher Bedächtigkeit er noch immer das Wort Voller aussprach.

»Oh, aye«, erwiderte Seg auf die für ihn typische unbeschwerte Art, während er seine Zorca mit der Leichtigkeit lenkte, die aus langer Erfahrung im Umgang mit diesen Tieren erwächst. »Natürlich. Doch einmal ehrlich, Rollo, hättest du gewollt, daß uns diese kleine Rauferei entgangen wäre? Nachdem dir doch deine Bogenkünste so am Herzen liegen.«

Als Zauberer aus Loh hatte Rollo viel in den magischen Künsten dazugelernt, seit ihn die Zauberer aus Loh – unsere anderen lohischen Kameraden – darin geschult hatten. Dennoch verzehrte er sich danach, ein großer Bogenschütze zu werden, und so eiferte er Seg nach und übte das Schießen, wenn er Zauberbücher studieren, magische Formeln auswendig lernen oder die vorgeschrieben Übungen ausführen sollte, die Zauberer absolvieren müssen, wenn sie ihr magisches Handwerk ausüben wollen.

Unsere kleine Jagdgesellschaft galoppierte ohne Hast durch den Wald in nördliche Richtung, nach Zandikar. Die Lasttiere trugen die Lagerutensilien, denn wir hatten uns doch dazu entschieden, ein Stück weiterzureiten. Das war auch der Grund, warum wir jetzt nach einer guten Stelle Ausschau hielten, an der wir für die Nacht das Lager aufschlagen konnten.

Wie immer plauderten die beiden Prinzessinnen angeregt miteinander, sie hatten immer etwas, worüber sie sich unterhalten konnten. Obwohl sie Tante und Nichte waren, sahen sie sich herzzerreißend ähnlich, denn sie entstammten demselben Blut. Allerdings hatte Velia das hellbraune Haar Vallias, während Didis Haar einen dunkleren Farbton aufwies, das Vermächtnis der schwarzen Lockenmähne Gafards, ihres Vaters. Ach, ja! Gafard! Rog von Guamelga, Kämpfer des Königs, Prinz des Zentralmeeres, See-Zhantil – und der ganze Rest seiner prächtigen Titel, die nun nicht mehr wert waren als Asche auf einem Schlackehaufen. Er war ein echter Mann gewesen.

Nun gehörten diese prächtigen jungen Damen beide den Schwestern der Rose an und konnten mit Rapier und Main-Gauche, Peitsche und Klaue umgehen. O ja, die Zeit marschiert unerbittlich vorwärts, und aus Kindern werden Leute, während die Welt sich dreht, und dann nehmen sie ihren Platz ein, und weder die Savanti noch die Herren der Sterne können auch nur den Lauf einer einzigen Sekunde aufhalten.

Nun, um ehrlich zu sein, die Everoinye können sich wohl in den Ablauf der Zeit einmischen, allerdings war mir bekannt, daß sie dabei von Zeit zu Zeit Fehler begangen hatten. Ha! Dray Prescot versucht sich an Wortspielen! Beklagenswert, bei Krun!

Didi hatte ihre Pilgerfahrt zur Grabstätte ihrer Eltern hinter sich gebracht. Wir hatten diese Gelegenheit ergriffen, um einen kurzen Urlaub zu machen, bevor wir nach Vallia zurückflogen. Die Aufregungen waren nun vorbei, wir würden Zeg und Miam unsere Remberees sagen und dann aufbrechen.

Natürlich ließ mir dieser ach, so gelegen losbrechende Sandsturm keine Ruhe. Hatten die Herren der Sterne eingegriffen, um uns zu helfen? Ich schüttelte den Kopf und trieb meine Zorca an, um den Anschluß zu unserer kleinen Gruppe nicht zu verlieren. Falls die Everoinye tatsächlich eingegriffen hatten, dann war es vielleicht möglich, daß ich eine neue Ebene der Verständigung mit ihnen erreicht hatte – wie schon früher einmal. Der Gdoinye war urplötzlich verschwunden, hatte mit den Schwingen geschlagen und war in die blaue Unendlichkeit des Himmels geglitten. Ich hatte für die Herren der Sterne viele Missionen ausgeführt. Obwohl ihre Ziele unklar blieben, hatte man ihre Aufträge erfolgreich zu erledigen. Sonst ...! Als ich zu unserer Reisegruppe aufschloß, sah ich, daß eine neue Aufgabe auf mich wartete.

Von den Blättern über uns fielen gedämpfte smaragdgrüne und rosafarbene Lichtstrahlen in die Tiefe. Überall um uns herum duftete die süße Luft Kregens. Der Pfad führte auf eine Lichtung mit einem sprudelnden Bach. Für eine lebendige Seele kann die wunderbare Welt Kregens ein großartiger Ort sein, an dem sie sich jede aufregende Sekunde erfreuen kann.

Hikdar Frazan ti Reizana wandte sich an seinen Deldar Landi das Geschirr – es gab eine skurrile Anekdote, wie Landi zu diesem Beinamen gekommen war – und befahl ihm, ein paar Reiter auszusenden, um den Fluß zu erkunden. Zwei Jurukker trieben ihre Zorcas an und galoppierten den grasigen Abhang hinab. König Zeg hatte diese kleine Wachabteilung – eine acht Mann umfassende Audo, die von Landi kommandiert wurde – zur Verfügung gestellt und Hikdar Frazan mit dem Oberbefehl betraut; er war das Paradebeispiel eines schneidigen und gutaussehenden Kavallerieoffiziers. Sein martialisch nach oben gebürsteter Schnurrbart war der Neid aller seiner Kameraden, während er die jungen Damen reihenweise zur Verzweiflung und der Ohnmacht nahe brachte.

Er lenkte seine Zorca herum und wartete, bis ich herangekommen war. Sein strahlendes, offenes Gesicht mit den wunderbaren blauen Augen und diesem beeindruckenden Schnurrbart verriet herzlichen Humor und Lebensfreude.

»Majister. Möchtest du hier das Lager aufschlagen?«

»Sieht nach einer guten Stelle aus, Frazan.«

Er nickte respektvoll, trieb sein Reittier an und galoppierte los, um die Errichtung des Nachtlagers in die Wege zu leiten. Er war ein prächtiger, aufrichtiger Junge, dessen Großvater ein Roz war – der Begriff stand am Binnenmeer für Kov oder Herzog –, und eines Tages würde er sein Erbe antreten und das Roznat übernehmen.

Er passierte die beiden Prinzessinnen, winkte ihnen aus dem Sattel respektvoll zu und ritt zusammen mit Deldar Landi auf den Fluß zu. Prinzessin Velia lenkte ihre Zorca an Segs Seite.

Prinzessin Didi kam angeritten und leistete mir Gesellschaft.

Die untergehende Sonne Zim verlieh ihrem atemberaubend schönen Gesicht zusätzliche Farbe.

Wir plauderten angeregt, während wir nebeneinander herritten. Glücklicherweise spielte die Alters- und Generationenfrage für uns so gut wie keine Rolle. Diese beiden heiteren und zugleich temperamentvollen Prinzessinnen waren schließlich keine hohlköpfigen Mädchen, das dürfen Sie nie vergessen. Sie hatten in Lancival, dem geheimen Hauptquartier der SdR, eine gründliche Erziehung genossen. Sie waren völlig in der Lage, die ihnen anvertrauten Provinzen Urn und Thoth Vennar zu regieren. Natürlich zogen sie es vor, sich in der Welt herumzutreiben und Abenteuer zu erleben. Und so bestand unsere Unterhaltung keineswegs aus inhaltsleerem Geplauder, ganz im Gegenteil.

Ein Thema, das Didi zur Sprache brachte – und das weitreichende Konsequenzen haben sollte, bei Vox! –, betraf ihr Unbehagen über ihre neue Nazabni Ulana Farlan. »Sie will unbedingt wie ihr Vater sein. Ich weiß nicht ...«

»Ich kannte ihren Vater gut. Ein guter Mann. Die Tochter – ich weiß nur wenig über sie. Davon abgesehen ist das deine und Draks Angelegenheit.«

»Ja. Falls es soweit kommen sollte, werde ich im Sinne Urn Vennars handeln. Ulana wird eine großzügige Pension erhalten.«

Seg drehte sich im Sattel um und hob die Hand. »Eine Goldmünze, mein alter Dom. Wer als erster am Wasser ist! Hai!«

»Hai!« rief ich zurück und trieb meine Zorca an; wir stürmten los, und der Wind wehte an uns vorbei, während das Geschirr ächzte und die Hufe leise über den Boden trommelten.

Die beiden Prinzessinnen mußten sich selbstverständlich an dem Rennen beteiligen. Nun, das war unvermeidlich, nicht wahr? Schließlich kamen die Damen aus Vallia.

Welche der beiden das Ufer als erste erreichte, ließ sich schwer sagen, sogar verteufelt schwer, bei Krun! Seg und ich zügelten unsere Tiere. Die vier Zorca tranken, sie hatten sich ihre Erfrischung verdient. Alle stiegen ab. Velia ging auf Seg zu und streckte die Hand aus. Didi blieb bei mir stehen.

»Nun, Onkel Seg? Wo ist mein Goldstück?«

Mein Klingenkamerad lachte sein herzliches Lachen und zog eine Münze hervor, die im Licht der untergehenden Sonnen funkelte. Es handelte sich um einen Goldzo, benannt nach dem König, der vor so vielen Perioden in Sanurkazz geherrscht hatte. »Hier, du freche Göre.« Die Münze wirbelte in die Luft, und Velias rosige Hand schloß sich unfehlbar um sie.

Didi enthielt sich jeder Bemerkung.

Es dauerte nicht lange, und die Vorbereitungen zum Aufschlagen des Lagers waren im vollen Gange. Mit ihren Erfahrungen im Feld übernahmen die Prinzessinnen ihren Teil der Arbeit. Anscheinend fanden sie Aufgaben, die sie voneinander trennten. Hikdar Frazan ti Reizana führte die Oberaufsicht und faßte hier und dort an. Er schien ebenfalls Arbeit zu finden, die ihn aus der Nähe der Damen brachte.

Seg schlenderte heran, wobei er nicht damit innehielt, den neuen Bogenstab zu polieren, an dem er gerade arbeitete. Nun, wann war Seg Segutorio nicht damit beschäftigt, einen neuen Bogen herzustellen?

»Tja, mein alter Dom, man hat uns bei dem Wettrennen ganz schön abgehängt.«

»Aye.«

»Hast du das mit den Mädchen gemerkt?«

»Aye.«

Wir setzten uns gemütlich unter die Zweige eines Baums und schwiegen. Seg polierte seinen Bogenstab. Ich unterzog mein Krozair-Langschwert einer gründlichen Säuberung.

Schließlich sagte Seg: »Romantik.« Er schüttelte den Kopf. »Sie kann einem manchmal das Leben sehr schwermachen.«

»Aye.«

Er runzelte die Stirn und sah kurz zu mir herüber; in dem Blick der blauen Augen lag ein wissender und etwas entrückter Ausdruck. »Du kannst dem jungen Frazan keinen Vorwurf machen.«

»Nein.«

Wir verfielen wieder in Schweigen.

Ich bearbeitete die bemerkenswerte Klinge in meiner Hand gründlich mit dem Reinigungstuch. »Das wird ganz schön haarig, wenn die Mädchen nicht miteinander sprechen. Das hat sich alles recht schnell entwickelt.« Ich gebe es zu, bei Krun: Meine Stimme hatte einen gereizten Unterton.

»Ich bin bereit, eine Wette abzuschließen«, sagte Seg beiläufig und doch ernstgemeint. »Keine von beiden wird versuchen, mit Frazan anzubändeln.« Er drehte den Bogenstab herum und musterte ihn kritisch. »Wie dem auch sei, ich würde sowieso wetten, daß der junge Frazan ein Mädchen in Zandikar hat.«

»Vermutlich.«

Deldar Landi das Geschirr trat auf uns zu. »Jernus – wenn ihr so freundlich wärt, das Abendessen ist fertig.«

Seg packte den Bogenstab und sprang auf. »Ich bin so freundlich, Landi. Ich könnte drei wilde Leem verspeisen und noch nach drei Nachspeisen Ausschau halten.«

Und bei diesem Stand der Dinge verblieb die Angelegenheit mit den beiden Prinzessinnen und dem Hikdar aller Schnurrbärte erst einmal.

Das Essen war gut. Wir alle griffen herzhaft zu. Velia saß an einem Ende der Tafel, Didi am anderen, Frazan in der Mitte. Rollo, der neben mir saß, war so gescheit, den Mund zu halten. Seg sagte leutselig: »Wäre Inch jetzt hier, wäre das lange Elend glücklicher als dort, wo er im Augenblick ist.«

»Aye.« Wir vermißten ihn. Wir vermißten überhaupt alle die anderen Kameraden. Delia war irgendwo unterwegs, entweder im Auftrag der Schwestern der Rose oder der Herren der Sterne. Worauf sich diese göttliche Dame einließ, wenn sie sich nicht an meiner Seite befand, verursachte mir Alpträume. Allerdings gab es nichts, was sie nicht bewältigen konnte. Das war aber auch der einzige Trost, den ich aus ihrer Abwesenheit ziehen konnte.

Rollo hob seinen Weinbecher und stieß plötzlich ein Keuchen aus. Er fuhr aufrecht in die Höhe, stocksteif, starrte ins Leere. Roter Wein spritzte ihm auf das Gewand.

»Khe-Hi!«

Sofort starrten Seg und ich unseren jungen Zauberer aus Loh mit schmalen Augen an.

Rollo nickte. Er hatte sich wieder vollständig unter Kontrolle. »Ja, Khe-Hi. Ich verstehe.« Er nickte erneut. »Das werde ich, San. Sofort.«

Wir wußten, was da gerade geschehen war. Khe-Hi-Bjanching, Zauberer aus Loh und unser Kamerad, hatte sich gerade ins Lupu begeben, auf diese seltsame andere Bewußtseinsebene, auf der die Zauberer viel Zeit verbrachten, und mit Rollo Kontakt aufgenommen. Soweit ich wußte, hatte sich Khe-Hi zuletzt in Vondium aufgehalten, der Hauptstadt von Vallia, um Deb-Lu-Quienyin zu besuchen.

Rollo trank einen Schluck Wein. »Deb-Lu läßt grüßen. Er und Khe-Hi haben etwas gespürt, ein ...« Er hielt inne und suchte nach den richtigen Worten, um Leuten, die keine Zauberer waren, arkane Dinge zu erklären. »In Vallia hat es unerklärliche magische ... Schwingungen, Wellen gegeben. Sie haben mit der Untersuchung begonnen. Die Macht dieser Thaumaturgie ist sehr groß.«

Nun wurde mir auf erschreckende Weise klar, daß sich zwei Zauberer aus Loh, die so weit in die magischen Künste vorgedrungen waren wie unsere Kameraden, nicht die Mühe machen würden, uns im weitentfernten Zandikar zu warnen, wenn keine große Gefahr drohte. Immerhin war mittlerweile Drak der Herrscher von Vallia. Gut, ihn hätten sie zuerst gewarnt. Ling-Li-Lwingling, Khe-His Frau, war diese neue Situation mit Sicherheit nicht entgangen. Mir schauderte es, als mich eine plötzliche und unwillkommene Vorahnung einer Zukunft durchfuhr, in der das Böse herrschte.

Und als hätte Lexarm der Schwarze Bastard, der Geist des Bösen, der mit Begeisterung ein Unglück dem anderen folgen läßt, uns als Opfer für sein widerwärtiges Treiben ausgesucht, erscholl plötzlich von allen Seiten ein wildes Geschrei. Im Licht der letzten Sonnenstrahlen Zims und Genodras' stürzten geschmeidige Gestalten aus den Schatten. Schnarler. Schuppige, krötenartige Geschöpfe. Sie griffen unsere friedliche Abendgesellschaft an. Blanker Stahl funkelte. In der nächsten Sekunde waren sie über uns, wild entschlossen, uns alle zu töten.