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Zur Stunde des Mid wanderte für die Dauer einiger in der Sanduhr verrinnender Körnchen ein flüchtiger roter und grüner Lichtglanz über die oberste Eisenstange. Den Rest des Tages über blieb das vergitterte Fenster vom Schatten verhüllt. Man hatte ihm eine Lampe für die Zelle zugestanden und ihn sogar gefragt, ob er zu jenen Menschen gehöre, die es nicht ertrügen, mit nur einer Lichtquelle zu leben, sondern zwei Lampen brauchten, die Zim und Genodras nachahmten.
Das Bett war hart, am Boden lag kein Teppich, und die Toilettengelegenheiten waren primitiv. Steinwände und Gitterstäbe waren für Tralgan nichts Neues. Diese Zelle war bedeutend besser als das widerwärtige Loch, in das ihn diese opazverlassenen Drikinger gesteckt hatten, als er in Pandahem als Paktun in Kov Panrals Diensten stand.
Nach den ersten paar Tagen störte ihn der Gestank nicht mehr. Nicht, weil er abgenommen hätte, sondern nur deshalb, weil er sich daran gewöhnt hatte. Das Essen, einfach und nicht üppig, hielt ihn am Leben.
Kyr Tralgan Vorner, rechtmäßiger Elten von Culvensax, mußte leben, mußte überleben, wartete er doch auf Nachricht von Prinzessin Didi.
Tralgan war fest davon überzeugt, daß sie ihn nicht im Stich ließe, dennoch hatte er sich darauf eingestellt, daß es möglicherweise lange dauerte, und er war entschlossen, falls nötig seine Beschwerde bis zum Herrscher in Vondium zu tragen.
Der Gefängniswärter, ein verkrüppelter Fristle, der bei einem Brand fast sämtliche Haare der linken Körperhälfte verloren hatte, brachte das Essen. Er war wortkarg. Am nächsten Tag kündigte er Tralgan in seiner undeutlichen Singsang-Stimme an, daß Pallan Nath Swantram ihm morgen einen Besuch abstatten werde. Zwischen dieser Ankündigung und dem Erscheinen des Pallans schwankte Tralgans Stimmung zwischen glühender Hoffnung und finsterster Verzweiflung; sie schüttelte ihn wie ein Leem ein Ponsho.
Swantram trat mit einem parfümierten Taschentuch vor der Nase ein. Er spreizte die Finger. Er war höflich. Tralgans Notlage hatte sein ganzes Mitgefühl. Das Spreizen der Finger überzeugte Tralgan, daß der Mann versuchte, ehrlich zu sein, immerhin mußte er deswegen das parfümierte Taschentuch von der Nase nehmen. »Ich habe keine guten Neuigkeiten, Kyr Tralgan.«
»Sag es mir.«
»Prinzessin Didi weigert sich, zu deinen Gunsten in den Fall einzugreifen.«
Eine niederschmetternde Welle der Verzweiflung überwältigte Tralgan. Er sackte auf die Pritsche, schlug die Hände vors Gesicht und wiegte sich vor und zurück. Sämtliche Hoffnungen – zunichte gemacht!
»Nein!« Er sah auf. Die Verzweiflung mußte überwunden werden. »Der Herrscher!«
»Mein lieber Kyr, ich habe natürlich sofort an seine wohlwollende Eminenz, den Herrscher Drak, appelliert.«
In Tralgan wallte neue Hoffnung auf. »Der Herrscher muß erkennen, daß ich eine gerechte Sache vertrete! Er muß!«
»Ja. Dir gehört meine ganze Sympathie. Ich habe ...« Die Stimme Nath des Clis nahm einen vertraulichen Tonfall an. »Ich persönlich habe eine beträchtliche Summe ausgegeben, um deine Sache weiter voranzutreiben. In solchen Angelegenheiten zum Herrscher vorzudringen, ist selten einfach.«
Tralgans Erfahrungen in Übersee hatten ihm einen Einblick in das Wesen der Korruption verschafft. Er wußte, daß die Höhergestellten Kregens ihren Tribut verlangten, um Unglücklichen zu helfen. Zwar hatte er gehört, daß seit dem Vater des Herrschers Bestechung in Vallia aus der Mode gekommen war. Aber dieser Pallan verstand offensichtlich die Wege der Politik.
»Vielen Dank, Pallan.«
Nath Swantram sah sich in der Zelle um, das Taschentuch erneut vor der narbigen Nase. »Mein lieber Kyr, ich hatte ja keine Ahnung, daß man dich unter so mißlichen Umständen untergebracht hat. Ich werde dafür sorgen, daß man das sofort ändert. Eine Person deines Standes sollte hier nicht eingesperrt sein.«
»Du bist sehr zuvorkommend.« Tralgan hustete. »Was die Sache mit den ... äh ... Kosten in Zusammenhang mit dem Herrscher betrifft ...«
Swantram hob die Hand. »Über die Kosten können wir sprechen, wenn du deine Ländereien hast.« Nach ein paar weiteren höflichen Worten ging der Pallan. Am nächsten Tag verlegte man Tralgan in eine höhergelegte Zelle, durch deren vergittertes Fenster die Sonnen von Scorpio den größten Teil des Nachmittags in ihrer ganzen Pracht hereinschienen. Die Qualität des Essens verbesserte sich beträchtlich. Das Bett war weich und die Waschgelegenheit äußerst zufriedenstellend.
Jemanden in der Stellung und mit der Macht des Pallans auf seiner Seite zu wissen, hob Tralgans Stimmung beträchtlich. Swantram glaubte ihm! Also würde doch noch alles gut.
Eine Sennacht verging, in deren Verlauf der Pallan jeden zweiten Tag zu Besuch kam. Er war fast schon übertrieben fürsorglich. Seine Diener brachten einen großartigen Palinebusch in einem Keramiktopf. Allein schon die prallen gelben Beeren munterten den Gefangenen beträchtlich auf. Es gab noch keine Nachricht vom Herrscher. Swantram riet zur Geduld und verbreitete Zuversicht.
Er berichtete Tralgan, daß Nalgre Lodermair in Culvensax als Elten umherstolziere. »Mein lieber Kyr, ich kann beweisen, daß das Testament gefälscht wurde. Du wirst auf jeden Fall dein Erbe antreten.«
»Ich will diesen Cramph für seinen Verrat bestraft sehen.«
»Das wirst du auch, mein lieber Kyr, das wirst du.«
»Der Gedanke an ihn, daß er jetzt da ist, wo mein Vater ...« Tralgans Gesicht verfärbte sich, als das vorbelastete Blut der Vorner in Wallung geriet. »Ich werde dafür sorgen, daß man ihn bestraft, und wenn es das letzte ist, was ich in meinem Leben erreiche.«
Der Pallan hüstelte unbehaglich. »Äh ... hm ... sollten die Morde bewiesen werden, so betrifft das nicht notwendigerweise die Angelegenheit mit der Erbschaft.«
Tralgan wollte wissen, was der Pallan damit meine, bei Vox!
»Nur, mein lieber Kyr, daß du entschlossen sein solltest, Lodermair um die Früchte seines Verrats zu bringen, gleichgültig, was immer geschehen wird.«
Tralgan Vorner schwor bei Kurins Klinge, daß er, selbst wenn man ihn in die tiefste Hölle verdammen sollte, Lodermair aufhalten, ihn ruinieren und an den Bettelstab bringen werde.
»Selbst wenn ich in den Eisgletschern von Sicce durch die Nebel wandern muß, werde ich Lodermair aus Culvensax vertreiben! Bei Opaz, ich werde ihn erwischen!«
Nachdem der Pallan seinen großen Respekt vor Tralgans Entschlossenheit bekundet hatte, verließ er das Gefängnis. Sein narbiges Gesicht zeigte einen zufriedenen Ausdruck. Später, als sich Tralgan wieder etwas beruhigt hatte, wurde ihm erst bewußt, was der Pallan da eigentlich gesagt hatte. Er grübelte darüber nach. Nun denn! Bei Vox! Er würde es tun. Obwohl er zuversichtlich war, daß der Herrscher zu seinen Gunsten entschied, beschloß er, daß er den erbschleicherischen Bastard Elten Ornol Lodermair aus Culvensax verjagen würde, gleichgültig, wie sich die Dinge entwickelten!
Vorner war davon überzeugt, daß die Staatsbeamten nicht fahrlässig handeln würden. Herrscher Drak und sein Vater hatten den verschiedenen Offiziellen des neuen Vallia beigebracht, daß Gerechtigkeit, Wahrheit und Gnade das Land regieren mußten. Korruption war verpönt. Falls einer der Hochwohlgeborenen, die über Vallia herrschten, diesen Geboten zuwiderhandelte, würde Tralgan ihnen gegenüber ebenfalls keine Gnade walten lassen. Seine Rache würde alle treffen.
Die Besuche des Pallans in der komfortablen Zelle häuften sich. Er setzte sich auf einen der beiden Stühle, während Tralgan rastlos umherging und seinem Herzen Luft machte, alle Namen anrief und sich über das erlittene Unrecht ereiferte. Ein höflicher, beinahe abwesender Ausdruck machte das narbige Gesicht zu einer Maske, aber Tralgan war viel zu sehr mit seinen eigenen leidenschaftlichen Gefühlen beschäftigt, um auch nur einen Gedanken dafür zu erübrigen, dahinterblicken zu wollen.
Der seelische Druck, den Pallan Nath der Clis geschickt ausübte und verstärkte, säte Zwietracht in Tralgan. Er fühlte sich erniedrigt. Sicherlich, so stieß er von Zeit zu Zeit hervor, mußte der Herrscher doch mittlerweile etwas von sich hören lassen!
Als der Tag kam, an dem der Pallan, flankiert von sechs Fristle-Wächtern, die Zelle betrat, kam Tralgan Vorners Welt zu ihrem jähen Ende.
»Er weigert sich!« rief Tralgan. Seine Lippen bebten, sein Körper stand förmlich in Flammen, eine Schweißschicht überzog sein Gesicht. Er zitterte. Dann brach er auf dem Bett zusammen. Das war also das Ende.
»Ich habe beträchtliche Mittel investiert, um dir zu helfen«, sagte Nath der Clis. »Ich bin betrübt über dein Unglück. Aber du bist ein mutiger Mann, ein Adliger. Du wirst wissen, was zu tun ist.«
»Ihr werdet mich töten.« Tralgans Worte klangen wie trockener, unter Schritten knirschender Kies. »Wie?« Plötzlich war das zur wichtigsten Frage geworden. Er mußte es wissen.
»Schnell und leicht, das versichere ich dir, mein lieber Kyr.«
»Es wird keine Folter geben?«
»Diese Zeiten sind in Vallia schon lange vorbei. Nun möchte ich aber, daß du darüber nachdenkst, was du wegen deines großen Feindes Lodermair unternehmen willst.«
»Du weißt, was ich gesagt habe.«
»Ja. Aber er behält deine Ländereien ...«
»Dann muß man ihn eben enteignen. Du hast einen Plan?«
Nath Swantram erklärte es in einem glatten, sogar vernünftigen Tonfall. Der Plan war im Grunde genommen ganz einfach. Nath der Clis würde von Tralgans Testament profitieren, das falsche Testament sich als Fälschung erweisen und Nalgre Lodermair aus Culvensax vertrieben werden. Man würde die nötigen Vorbereitungen für sein vorzeitiges Ableben treffen. Und Tralgans Rache würde sich auf diese Weise erfüllen.
In Tralgans Körper brannte die Flamme der Wut, und seine Gedanken waren von einem solchen Haß erfüllt, daß er blindlings zustimmte. Die nötigen Papiere wurden gebracht, das Bokkertu vollzogen, Tralgan unterschrieb. Die Fristles dienten als Zeugen.
Die Wächter trugen die Insignien von Urn Vennar, die Bänder an ihren Ärmeln leuchteten in Didis neuen Farben. Ihre schnurrbartbewehrten pelzigen Katzengesichter blieben ausdruckslos. Sie wurden großzügig bezahlt.
Dann erklärte Nath Swantram, das Todesurteil sei von der Nazabni bereits vor längerer Zeit unterzeichnet worden, also müsse die Hinrichtung im geheimen stattfinden, da die strenge kleine Dame sonst den Grund für die Verzögerung wissen wolle. Tralgan sorgte sich, was mit seiner Leiche geschehen werde. Jetzt, da er die Reise zu den allesverhüllenden Nebeln antrat, um sich den Weg durch die Eisgletscher von Sicce in das darunterliegende sonnige Hochland zu erkämpfen, wurde er ganz ruhig. Entschlossenheit breitete sich in ihm aus. »Wirst du für ein anständiges Begräbnis sorgen?«
»Selbstverständlich.« Dabei vergaß der Pallan die Tatsache zu erwähnen, daß er nicht das geringste Risiko eingehen konnte, um sich um Tralgans Leichnam zu kümmern. Die gewöhnliche Methode, um hingerichtete Verbrecher loszuwerden, blieb ihm verwehrt. Die Nazabni würde sonst äußerst unangenehme Fragen stellen, soviel stand fest.
»Es gibt einen Geheimgang.« Der Pallan berührte die Lippen mit dem Taschentuch. »Du wirst schon sehen. Gehen wir.«
Die Wächter nahmen sie in die Mitte, und sie stiegen in die Tiefe.
Sie stiegen lange Zeit in die Tiefe.
»Das Schloß ist alt, doch es wurde auf einem noch älteren Bauwerk errichtet. Es gibt keine Aufzeichnungen. Die Erbauer müssen ein Volk gewesen sein, das alt war, bevor Delia, die Muttergöttin, in Erscheinung trat.«
Das, dachte Tralgan, muß vor verdammt langer Zeit gewesen sein.
Schließlich kamen sie in einen Korridor aus grob behauenem Gestein. Eine Nische, die die von den Fristles gehaltenen Fackeln und die Lampe in ein unheimliches Licht tauchten, enthüllte eine ebenfalls aus Stein bestehende Falltür. Die Wächter zerrten an dem Bronzering, und die Platte hob sich mit einem Ächzen, das für Tralgans Geschmack viel zu unheimlich klang.
Man ließ die Lampe an einem Seil in die Tiefe. Die Wächter brauchten einige Zeit, bis sie den Boden erreicht hatte. Sie blickten in die Tiefe. Es handelte sich um ein Verlies, ein kürbisförmiges Loch im Boden mit gemauerten Wänden. Der kleine Lichtkreis enthüllte herumliegende Knochen und einen undeutlichen Boden. Man ließ eine Strickleiter herab. »Dort hinab«, sagte Nath der Clis. »Du, Fenrio, kletterst hinunter. Nimm den Proviant mit und mach das Seil los.«
»Quidang, Herr«, stieß einer der Wächter hervor, der einen Binsenkorb trug. Er kletterte gewandt in die Tiefe, und das losgebundene Seilende kam einen Augenblick später wieder herauf. Der Fristle erschien am Rand der Falltür, und der Pallan gab Tralgan ein Zeichen.
Der junge Mann holte tief Luft. Wenn das der Weg war, der vor ihm lag, nun gut. Dann sollte es eben so sein, bei Vox! Er begab sich zur Leiter.
Auf der zweiten Sprosse verharrte er, starrte in die Höhe und sagte: »Pallan, du weißt, daß ich den Richter und den Cadade nicht ermordet habe.«
Nath der Clis machte eine unbestimmte Geste. Tralgan kletterte weiter.
Er erreichte den Boden und stieg von der Leiter, die augenblicklich eingeholt wurde. »Soll ich allein weitergehen?« rief Tralgan in die Höhe.
»Natürlich. Ich weiß, daß du die beiden nicht ermordet hast. Aber jetzt ist es zu spät.« Die Worte des Pallans hallten gespenstisch durch das Verlies. »Da hast du dein Begräbnis, wie ich es dir versprochen habe.« Mit dem ohrenbetäubenden Lärm der letzten Fanfare, die das Ende der Welt ankündigt, schlug die Falltür zu.
Erst in diesem Augenblick erkannte Tralgan Vorner, daß er hereingelegt worden war.
Die konturlosen grauen Wände des Verlieses schienen auf ihn einzustürzen. Das Licht der Lampe brachte Nitrat in ihren Ritzen zum Funkeln, in dunklen Bahnen rann Flüssigkeit hinab; er trat auf morsche Knochen, die mit der Endgültigkeit des Todes zerbarsten.
Auf ihn wartete keine schnelle, saubere Hinrichtung. Er würde den Proviant verbrauchen, den man ihm auf so höhnische Weise überlassen hatte, die Lampe würde flackern und erlöschen, und Tralgan Vorner, der rechtmäßige Elten von Culvensax, würde den schrecklichen Tod des Verhungerns und Verdurstens sterben.
In diesem Augenblick furchtbarer Erkenntnis war in seinem Bewußtsein nur noch Platz für Haß, ein abgrundtiefer und unbarmherziger Haß auf alle jene, die ihn in die Falle gelockt und verraten und ihn diesem Schicksal ausgeliefert hatten. Haß und der Gedanke an blindwütige Rache.