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Sie saß, das Netbook auf den Knien, im Sessel und klickte sich durch die Bilddateien. Die Stuten, der Hengst, die Einjährigen, die neuen Fohlen. Es war Zeit, ein wenig Ordnung in das Chaos auf der Festplatte zu bringen. Da, auf diesem Foto, war sie selbst zu sehen, wie sie Toledo, den Dreijährigen, longierte. Erst im Juni war das gewesen. Sie hatte vergnügt ausgesehen, jung, verliebt, glücklich. Jon hatte das Foto gemacht, er hatte am Rand des Reitplatzes gestanden und fotografiert. Hunderte Fotos vom Reitplatz, von den Koppeln, den Pferden, den Wolken, den Stallungen, von ihr. Er hatte ständig alles fotografiert und ihr die Fotos überspielt, als sie mit ihren Laptops nebeneinander im Archivraum gesessen hatten.

Die Sache mit seinen Vorfahren war eine schöne Geschichte gewesen, die sie der Welt hatten erzählen können. Eine perfekte Geschichte. Sie hatten die alten Kartons durchgesehen, vergilbte Register, zerbröselnde Papiere, angenagt vom Zahn der Zeit und vom Tintenfraß. Sie hatte ihm die Sachen vorlesen müssen, denn von der alten Schrift hatte er keine Ahnung gehabt. Er wollte die Schrift gar nicht lernen, hatte dafür angeblich kein Talent. Für andere Dinge hingegen umso mehr.

Sie lächelte. Das Archiv war eine gute Ausrede gewesen, um ihn für ein paar Wochen in ihrer Nähe zu haben. In diesen wenigen Wochen zu Beginn des Sommers hatte sie sich so gut gefühlt, so leicht und unbeschwert, auch wenn es reiner Nervenkitzel gewesen war, ihren Geliebten bei sich zu haben, während sich ihr Mann wenige Zimmer weiter nur für seine Geschäfte interessierte. Die Fotos waren der Beweis, wie gut es ihr gegangen war.

Wie hatte sie eigentlich ausgesehen, als sie sich zum ersten Mal trafen? Auf dem Empfang der Nordischen Botschaften in Berlin. Der dänische Honorarkonsul hatte sie miteinander bekannt gemacht. »Das Licht des Nordens«, eine kleine Ausstellung von Gemälden, die von den Künstlern der berühmten Skagener Malerkolonie stammten. Sie hatte den Dänen zwei Bilder aus der Sammlung ihres Vaters ausgeliehen, hatte sie aus Argentinien einfliegen lassen. Es war ein guter Grund gewesen, mal wieder ein paar Tage im Hotel Adlon zu verbringen. Dort gab es eine Kosmetikerin, die in all den Jahren, in denen sie dort verkehrte, so etwas wie eine liebe Freundin geworden war. Sie hatte ihr ein besonders dezentes Make-up gemacht an jenem Abend für den Empfang in der Botschaft, sodass sie ausgesehen hatte wie ungeschminkt.

Sie wusste noch genau, welches Kleid sie getragen hatte. Sie erinnerte sich an fast jedes Detail an dem Abend, vor allem daran, wie er sie die ganze Zeit angesehen hatte. Zuerst nur aus den Augenwinkeln. Aber als sich der Empfang dem Ende zuneigte, bot er ihr an, sie mit seinem Wagen ins Hotel zurückzufahren. Zwei Drinks an der Bar. Sie hatte Jon mit nach oben genommen, und am nächsten Morgen hatten sie im Tuchers am Brandenburger Tor zusammen gefrühstückt.

Könnte sie doch noch einmal zurück an diesen Anfang gehen! Zurück auf null. Zurück zu jenem Morgen, als er ihr sagte, er werde sich von seiner Frau Carolin trennen, denn mit ihr sei es schon lange aus. Zurück zu jenem Moment, als sie geantwortet hatte, dass sie ihren Mann niemals verlassen würde, das sei ihre unverrückbare Bedingung, wenn er sie wiedersehen wolle. Da hatte er sie einfach in den Arm genommen und ihren Mund mit seinen Lippen verschlossen. Nie hatte er sie angerufen, nie gedrängt, irgendetwas an ihrem Leben zu ändern. Wenn sie zusammen gewesen waren, in einem Hotel in Berlin, Hamburg oder München, hatten sie immer einen neuen Treffpunkt und eine genaue Uhrzeit für ihre nächste Zusammenkunft ausgemacht. Keine Anrufe, keine E-Mails, keine SMS. Und sie hatten sich tatsächlich beide immer daran gehalten, eine Tatsache, die ihr in Zeiten moderner Kommunikationsmittel schon wie ein romantisches Wunder vorkam.

Drei Monate war das so gegangen. Dann hatte er angefangen, vom Sommer zu sprechen und dass es sein größter Wunsch sei, mit ihr eine längere Zeit verbringen zu können. Schließlich hatte sie ihm von dem Gutshof im Holsteinischen erzählt, auf dem sie häufig mit Mann und Kind die Ferien verbrachte, und von den Gästezimmern, die man dort mieten konnte.

Beim nächsten Mal hatte er einen vergilbten Zeitungsausschnitt dabeigehabt. In dem Artikel war es um einen Mann namens Gordon Pickering gegangen, der einst als Sklavenkind genau auf diesen Hof gekommen war und ihn als armer, aber freier Mann verlassen hatte.

»Was hältst du davon, wenn ich mich als Historiker ausgebe?«, hatte er gefragt.

»Meinem Mann gefällt es immer, wenn sich jemand für seine Besitztümer interessiert. Du könntest sagen, du möchtest ein Buch darüber schreiben. Und behaupten, dass du ein Nachfahre von Gordon Pickering bist.«

»Würde er nicht Verdacht schöpfen?«

»Unsinn. Woher denn? Es wäre so schön, dich jeden Tag ein paar Stunden bei mir zu haben, während mein Mann wie immer in seinem Zimmer sitzt und arbeitet.«

»Du liebst das Risiko.«

»Es ist keines. Glaub mir.«

Es war eine gute Story gewesen, das fand sie noch immer. Sie hatten ungestört beieinander im Archivraum sitzen können. Im toten Winkel. Und Theo hatte es nicht bemerkt. Er war wie immer so darauf bedacht, die Grenzen seines Territoriums zu bewachen, dass er den Feind im Inneren seines Systems nicht erkannte.

Ein lautes Gelächter auf der Terrasse riss sie aus ihren Gedanken. Die Kinder saßen da unten und ließen es sich gut gehen. Es war schön, dass Paul-Walter jetzt so viele Freunde hatte. Das Internat war das Geld wert. Sie hatte gleich ein gutes Gefühl gehabt, als sie hörte, dass Grit, ihre Nichte, auch auf diese Schule gehen werde. Ihre Schwester hatte die allerbesten Kontakte und stets ein untrügliches Gespür für die richtigen Entscheidungen.

Nach ein paar Tagen und etlichen wunderbaren Stunden im Archiv hatten sie und Jon angefangen, sich sicher zu fühlen. Natürlich war es leichtsinnig gewesen, zusammen auszureiten, auch ihre Tauchexkursionen waren zumindest dem Personal nicht verborgen geblieben. Theo, der Trottel, hatte aber nichts davon gemerkt. Denn sie hatten ihre Tauchreviere immer außerhalb der Grenzen seines Überwachungsstaates gewählt. Bis auf die andere Seite des Sees reichten seine Kameras nicht. Das hatte sie jedenfalls geglaubt.

Dann war das Unfassbare geschehen. Das Grauen hatte sich in ihr ausgebreitet, bis sie an gar nichts mehr denken konnte. Und dann hatte dieser Umschlag auf ihrem Bett gelegen. Mit dem USB-Stick darin und dem kurzen, aber eindeutigen Brief. Dabei war ihr Auto doch ihr Refugium gewesen, der Raum, über den sie uneingeschränkt herrschte. Zumindest hatte sie das geglaubt, bis sie den Stick in ihren Rechner geschoben und die darauf gespeicherte Datei geöffnet hatte.

Wie hätte sie auch ahnen können, dass jemand den sogenannten Fohlenmelder für andere Überwachungsmaßnahmen verwendet hatte? Sie hatte das System damals gekauft, um die trächtigen Stuten im Stall überwachen zu können, denn manchmal dauerte es Stunden oder Tage, bis die Geburt einsetzte. Per Bildschirm konnte man von überall und jederzeit sehen, ob es Zeit war, in den Stall zu gehen oder den Tierarzt anzurufen. Irgendjemand hatte die winzig kleine Kamera, die man eigentlich in der Box oder in der Stallgasse anbrachte, direkt hinter dem Rücksitz in ihren Wagen montiert. Genau so, dass man alles, was sich im Wageninneren abspielte, sehen und hören konnte.

Bei dem Gedanken an die Aufnahmen begannen ihre Hände schon wieder unkontrolliert zu zittern. Auf dem USB-Stick war festgehalten worden, was nie jemand erfahren durfte.

Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island
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