13
Es war noch dunkel, als sich gegen halb drei nachts das Handy auf dem Wohnzimmertisch meldete. Island schaffte es, die Melodie von »When I’m Sixty-Four« noch eine Weile in ihren Traum einzubauen. Sie fuhr auf einem Motorrad eine schmale, gewundene Straße entlang. Jan Dutzen saß hinter ihr, hatte die Arme um ihre Hüften gelegt und schmiegte sich an sie. Sie trugen beide keinen Helm, und sie fühlte die Wärme seines Atems an ihrem Hals. Als er ihren Nacken küsste, spürte sie seine Bartstoppeln auf der Haut. Sie wollte alles, nur nicht aufwachen.
»Was ist los?«, fragte sie schlaftrunken.
»Ich muss Ihnen etwas sagen.« Die Stimme klang verzweifelt.
»Mit wem spreche ich?« Island fuhr sich mit der Hand über Augen und Stirn, ihr Kopf funktionierte noch nicht richtig.
Am anderen Ende der Leitung war es totenstill.
»Worum geht es denn?«
»Es ist wegen dem Mann am See …« Es war eine Frauenstimme, undeutlich, verwaschen. Plötzlich war Island hellwach. Eine Vermutung schoss ihr durch den Kopf.
»Frau Marxen?«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Was ist mit dem Mann?«, fragte Island ungeduldig.
»Wir wollten uns treffen.«
»Mit wem wollten Sie sich treffen?«
Ein Schnaufen war zu hören. »Ich glaube, ihm ist was Schreckliches passiert.«
»Wem denn? Sagen Sie mir doch bitte, was ich für Sie tun kann.«
»Der Gutshof, ich meine, Kreihorst …«
»Was ist damit?«
»Er … er ist da nicht mehr.«
»Wer denn, verdammt noch mal?«
»Sie haben ihn umgebracht.«
Ein Schluchzen war zu hören, dann ein Klicken. Die Frau am anderen Ende der Leitung hatte aufgelegt.
Olga Island lag auf dem Sofa und starrte in die Morgendämmerung, die langsam durch den bunten Ikea-Vorhang vor dem Fenster zu sickern begann und die Nacht vertrieb. War die Anruferin betrunken gewesen? Wie war sie an ihre Nummer gelangt? Zurückrufen konnte sie sie nicht, die Nummer der Fremden war nicht angezeigt worden.
Island schloss die Augen und sah vor sich den See, die Spülfelder und den Kanal. Sie dachte an die Sache mit dem Öllager, an das Munitionsräumkommando – ein gefährlicher Job. Sie hatte das bohrende Gefühl, dass sie sich auf dem Gutshof einmal genau umsehen sollte. Denn sie konnte es nur schlecht ertragen, wenn jemand einfach so verschwand. Vielleicht lag das daran, dass auch ihre Mutter verschwunden war, als sie ein kleines Kind gewesen war. Anfang der Siebzigerjahre war Inga Island von einer Reise nach Südamerika nicht zurückgekehrt.
Olga Island lag wach und konnte nicht wieder einschlafen. Sie hörte ihre Tante im Schlafzimmer schnarchen. Wie lange wollte Thea eigentlich bleiben? Sie hoffte inständig, dass dieser Rudolf sich bald melden würde, dann hätte ihre Tante Gesellschaft und wäre beschäftigt.
Gegen halb fünf stand sie auf, schaltete ihren Laptop ein und las die Nachrichten der Nacht. In der Online-Ausgabe der Kieler Tageszeitung wurde über das Geschehen im Ostuferhafen berichtet, undramatisch und knapp. Island öffnete ihr Mailprogramm und schrieb ein paar Zeilen an Lorenz. Eigentlich war sie viel zu müde, und alles, was sie tippte, erschien ihr unpassend. Aber sie wollte nicht immer nur auf seine Anrufe warten.
Um kurz vor sechs duschte sie und zog sich an. Sie wusste, dass sie die Thrombosestrümpfe anziehen sollte, entschied dann aber, dass es auf einen Tag mehr oder weniger nun auch nicht ankam. Stattdessen schlüpfte sie ohne Strümpfe in ihre Flipflops mit der Sonnenblume zwischen den Zehen. Sie ging in die Küche und versuchte, so leise wie möglich einen Tee aufzubrühen. Aber schon wenig später stand Thea putzmunter im Türrahmen und verlangte nach Kaffee und Toastbrot. Ihre Nordic-Walking-Stöcke, die sich teleskopartig entfalten ließen und so in jeden Koffer passten, hatte sie schon im Flur bereitgestellt. Sie trug ein ärmelloses T-Shirt und kurze, enge Radlerhosen.
»Nach dem Frühstück werde ich erst mal eine Runde walken«, sagte sie und sah zu, wie Olga zwei Scheiben in den Toaster steckte und Kaffee aufgoss. »Ich will fit sein, wenn Rudolf am Wochenende kommt. Er wird im Maritim wohnen, das ist ja nicht weit.«
Olga nippte an ihrem Ingwertee. »Meinst du denn, er meldet sich?«
»Wenn nicht: Ich habe seine Handynummer!«
»Wie kannst du dir so sicher sein, dass er dich wiedersehen möchte?«
»Weibliche Intuition.« Thea grinste. »Wir waren beide im Speisewagen, und er hat immer so zu mir rübergeguckt. Aber er hat sich nicht getraut, mich anzusprechen. Da bin ich ihm zuvorgekommen. Seine Frau hat sich vor einem Jahr von ihm getrennt. Er ist total schüchtern.«
»Auf dem Schiff kann er doch schon gleich wieder jemanden kennenlernen.«
»In der Ferienzeit sind doch sowieso nur Familien an Bord. Und überhaupt. Wer hat dich denn mitten in der Nacht angerufen?«
»Das war dienstlich.«
»Aha. Aber sofort los musstest du offenbar nicht.«
»Es war ein merkwürdiger Anruf.« Olga schüttete Müsli in ein Schälchen, goss Milch dazu und rührte um. »Von einer Frau, die ihren Namen nicht sagen wollte. Hat wohl etwas mit einem Fall zu tun, der mich gerade beschäftigt. Aber bisher ist gar nicht klar, ob es überhaupt ein Fall ist.«
»Tatsächlich? Wie aufregend! Erzähl.«
»Ich möchte nicht über meine Arbeit sprechen.«
Thea schmierte sich ihre zweite Scheibe Toast. Sie bestrich sie mit Biohimbeermarmelade, die sie eigens aus Berlin mitgebracht hatte.
»Wenn es gar kein Fall ist, kannst du doch eine Ausnahme machen. Du weißt ja, reden hilft, die Gedanken zu sortieren.«
Island seufzte und begann zu erzählen. Als sie geendet hatte, wiegte Thea den Kopf.
»Gut Kreihorst am Flemhuder See«, sagte sie nachdenklich. »Du wirst lachen, aber da kannte ich mal jemanden.«
Olga schnaubte spöttisch. »Das wundert mich nicht. Du kennst ja Gott und die Welt.«
»In Berlin noch nicht. Aber auf Kreihorst, da wohnte früher Luise Lembke. Vor fünf Jahren habe ich das letzte Mal mit ihr gesprochen.«
»Lembke. Das hört sich ja nicht gerade nach altem Adel an.«
»Luises Mann war früher Verwalter auf dem Gutshof. Die Lembkes haben das alte Inspektorenhaus bewohnt und Zimmer an Feriengäste vermietet. So wie ich damals in Laboe. Wir haben uns bei einem Seminar der Touristinformation Kiel kennengelernt. Marketing für Privatvermieter der Region. Luise war immer sehr nett. Eigentlich schade, dass wir uns aus den Augen verloren haben.«
»Warst du denn mal bei ihr auf dem Hof?«
»Sie hat mich in Laboe besucht, und einmal habe ich sie abgeholt, um mit ihr zur Landesgartenschau nach Schleswig zu fahren. Bei der Gelegenheit hatte sie mir ihren eigenen Garten am Haus gezeigt. Ganz entzückend war der angelegt!«
Olga schob die leere Müslischale von sich.
»War das Anwesen damals auch schon so gesichert, mit hohen Zäunen und Natodraht?«
Thea musste nicht lange überlegen. »Überhaupt nicht. Bis auf Luises Garten hat damals alles eher verlottert ausgesehen. Die Wildschweine der Umgebung zogen in Rotten durch die Allee. Keiner hat sie bejagt. Alles wirkte ein bisschen verfallen.« Thea blickte versonnen aus dem Fenster. »Wenn dich das Ganze so brennend interessiert, dann sollte ich Luise vielleicht mal anrufen, ob du bei ihr vorbeikommen kannst. Da hat sie sicher nichts dagegen.«
Olga fingerte ein paar Rosinen aus der Müslipackung und steckte sie in den Mund. »Super, ich hätte große Lust, mir das Gut näher anzusehen.« Da kam ihr ein Gedanke. Er erschien ihr schon ein bisschen verrückt, aber warum eigentlich nicht? »Oder frag Luise doch mal, ob bei ihr zufällig gerade ein Zimmer frei ist.«
»Wieso? Für wen?«
Olga blickte ihrer Tante in die für die frühe Morgenstunde erstaunlich wachen Augen. Faszinierenderweise hatte der Rotwein vom Vorabend keine erkennbaren Spuren bei ihr hinterlassen. Wenn Thea ihr das nur vererbt hätte.
»Ich könnte so tun, als ob ich Urlaub mache, und mir die ganze merkwürdige Gegend mal ansehen. Die Spülfelder und das alte Öllager. Vielleicht ergibt sich ein Zusammenhang mit dem verschwundenen Mann. Würde es dir etwas ausmachen, ein paar Tage meine Wohnung zu hüten?«
Thea schüttelte den Kopf und lächelte breit. »Im Gegenteil. Wir hätten dann viel weniger Gelegenheit, uns gegenseitig auf den Wecker zu gehen. Und ich könnte während deiner Abwesenheit deine Blume gießen.«
Island musste lachen. Es gab in der ganzen Wohnung wirklich nur die einsame Dieffenbachie aus der Dienststelle. Ansonsten besaß sie nichts Grünes. Sie hatte alle Pflanzen in Berlin zurückgelassen, zusammen mit ihrem früheren Leben.
»Dann hoffe ich, dass Luise da noch wohnt«, sagte ihre Tante belustigt und suchte nach ihrem Adressbuch.