19
Vor dem Torhaus bogen Island und Frau Dormann auf die unbefestigte Straße ein, die weiter am See entlangführte. Ein Schwarm Krähen versammelte sich wild krächzend auf den knorrigen Weiden. Nach einem halben Kilometer Fußmarsch erreichten die beiden Spaziergängerinnen weitere Gebäude, die, versteckt hinter hohen Pappeln, in den blauen Himmel ragten. Olga Island staunte nicht schlecht, dass ihre Begleiterin auf ihren recht hohen Stöckelschuhen so gut vorankam.
»Das ist der neue Wirtschaftshof des Gutes«, erklärte Frau Dormann.
»Und was wirtschaftet man genau?«
»Frau Rubi-Tüx züchtet Pferde. Andalusier, wenn Ihnen das was sagt. Das Gestüt soll einen exzellenten Ruf haben. Ansonsten wird Obst angebaut: Äpfel, Quitten, Birnen, alles alte Sorten. Für besonders erlesene Biosäfte. Die kriegt man natürlich nur in ausgesuchten Feinkostgeschäften.«
Island deutete auf ein großes, offenbar neu errichtetes Gebäude aus hellem Holz.
»Die Reithalle«, erklärte ihre Begleiterin. »Ihr Boden ist nach den allerneuesten pferdephysiologischen Erkenntnissen zusammengesetzt.«
Die Halle hatte hohe Glasfenster und eine Solaranlage auf dem Dach.
»Sieht fast aus wie eine Kirche.«
»Ja, die Tiere werden hier sehr verehrt. Das dort drüben sind die Ställe.«
Hinter der Reithalle öffnete sich ein großzügiger Platz, der von weiteren Gebäuden umringt war. Auch die Stallungen waren ganz neu. Jedes Pferd hatte die Möglichkeit, einen großzügigen individuellen Auslauf draußen zu benutzen. Schimmel und Schecken standen friedlich in kleinen Gruppen beieinander und dösten in der Abendsonne. Es roch nach frischem Heu und den Ausdünstungen der Tiere. Vertrauter Pferdegeruch.
Zwei junge Frauen waren damit beschäftigt, in einem der Gebäude die Stallgasse zu fegen. Sonnenstrahlen fielen durch das Stalltor und ließen ihre Haare aufleuchten.
Pferdemädchen, dachte Island. Das war ich auch einmal. Es ist schon so viele Jahre her, fast ein halbes Leben. Tante Thea war jedes Mal froh gewesen, wenn ihre Nichte für die Sommerferien auf den Ponyhof zog. Sie hatte sich dann um ihre eigenen Feriengäste gekümmert. In manchen Jahren war es vorgekommen, dass ihre Tante wegen der großen Nachfrage an Ferienbetten Olgas Zimmer auch gleich noch mit vermietet hatte. Irgendwann war Olga aber die mädchenhafte Leidenschaft für Pferde und das Reiten abhandengekommen, sie wusste gar nicht mehr genau, warum eigentlich.
Hufgetrappel riss sie aus ihren Erinnerungen. Zwischen den Stallungen erschien ein weißes Tier, gut gebaut und mit kräftigem Hals. Schaum tropfte aus dem Maul. Im Sattel saß die schlanke, dunkelhaarige Frau, die Island bei ihrer Ankunft im Verwalterhaus gesehen hatte. Die Gutsherrin höchstpersönlich. Vor der Reithalle hielt sie das Pferd an und schwang sich vom Sattel. Sofort und ohne den leisesten Wink eilte eines der Mädchen herbei, nahm das Tier am Zügel und führte es zum Anbindeplatz vor einem der Ställe. Dort begann sie damit, die Hufe auszukratzen. Die Reiterin ging zu einem cremefarbenen Geländewagen, der seitlich der Reithalle stand, stieg ein und fuhr vom Platz.
»Wer war das?«, fragte Island.
»Stefanie Rubi-Tüx. Die Besitzerin.«
»Ihr gehört das alles? Bildhüsche Frau.«
»Sie ist Argentinierin mit deutschen Wurzeln. Übrigens ist sie genauso alt wie ich. Hätten Sie das gedacht?«
Island hütete sich, darauf zu antworten. Sie schätzte Frau Dormann trotz ihres alterslosen Gesichts und ihrer zierlichen Figur auf Mitte fünfzig.
»Wie alt ist Frau Rubi-Tüx denn?«
»Neunundvierzig.«
»Ach?«
Olga hatte die Frau nur flüchtig in der dunklen Diele gesehen. Sie hatte drahtig gewirkt, sportlich und forsch. Über ihr Alter hatte sie nicht weiter nachgedacht. Schwerreiche Frauen konnten schon mal jünger aussehen, als sie waren. Sie ernährten sich gut, pflegten Geist und Seele und konnten es sich leisten, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln nachzuhelfen.
»Sehen Sie, das hätten Sie jetzt nicht gedacht, stimmt’s?«
Island sah betreten zur Seite.
»Das da hinten«, fuhr Frau Dormann fort und deutete auf ein weiß gestrichenes Gebäude, »ist die Kühlhalle. Dort wird die Obsternte gelagert.«
»Konserviert«, rutschte es Island heraus.
»Sie sagen es.«
Frau Dormann kannte sich gut auf dem Hof aus. Sie redete und erzählte mit solchem Besitzerstolz, als besäße sie selbst Aktien an dem Betrieb.
»Sagen Sie mal«, unterbrach Island nach einer Weile den Redefluss ihrer Begleiterin. »Sagten Sie nicht, der andere Gast ist verschwunden?«
Lotti Dormann streifte Island mit einem nachdenklichen Blick. »Na ja. Plötzlich war er einfach weg. Abgereist, ohne sich zu verabschieden. Eigentlich passte das ganz und gar nicht zu ihm.«
»Wo kam er denn her?«
»Aus Hamburg, wie ich.«
»Ist denn etwas vorgefallen? Hatte er Streit?«
»Darüber habe ich auch schon nachgegrübelt.« Versonnen sah die Frau zum Reitplatz hinüber.
»Ich habe nämlich unter dem Bett ein Buch gefunden«, sagte Island. »Vielleicht ist es ja seines.« Es war eine glatte Lüge, aber sie kam ohne Zögern über ihre Lippen. »Dann sollte man ihm das nachschicken.«
»Was für ein Buch denn?«
Lotti Dormanns Augen waren neugierige Schlitze.
»Adelsfamilien in Norddeutschland oder so ähnlich.« Etwas Klügeres fiel Island auf die Schnelle nicht ein.
Frau Dormann zuckte mit den Achseln. »Geben Sie das Buch Frau von Dünen, die erledigt das bestimmt gern. Sie war ganz vernarrt in ihn.«
»Tatsächlich?«
»Sah ganz so aus. Aber ehrlich gesagt, wenn ich jünger wäre, hätte ich mich auch an ihn rangeschmissen. So ein bildhübscher Mann, auch wenn er ein halber Neger war.«
»Ach?«
»Ein paar seiner Vorfahren stammten aus Afrika.«
»Interessant.«
Das Stallmädchen hatte zu Ende gefegt und trat, den Besen geschultert, aus dem Stall. Ihr langes Haar war zu einem Zopf geflochten. Sie trug T-Shirt, Jeans und australische Farmerboots. Ihre Unterlippe schmückte ein Piercing, und unter dem kurzen Ärmel ihres T-Shirts lugte ein tätowierter Engelsflügel hervor. Frau Dormann grüßte freundlich, aber die junge Frau nickte nur und beeilte sich weiterzukommen.
»Die haben einfach kein Benehmen«, murmelte Frau Dormann.
Wie verstohlen die junge Frau sie angesehen hatte. Island kannte diesen Blick. Stolz und getreten zugleich, bedürftig nach Zuneigung und doch auf der Hut vor allem und jedem. Wahrscheinlich hatte das Mädchen längst die Polizistin in ihr erkannt.
»Straffällige Jugendliche?«
»Manchmal stellen sie welche ein.« Lotti Dormann klang verächtlich. »Zum Glück nur selten.«
»Wohnen die Mädchen denn hier auch?«
»Alle Angestellten wohnen in der Alten Mühle. Das Haus liegt drüben auf halbem Weg zum Verwalterhaus. Manche von denen sollte man lieber nicht frei herumlaufen lassen.«
Island runzelte die Stirn. »Sie halten wohl nichts davon, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient?«
»Wissen Sie eigentlich, wie oft bei mir in Blankenese schon eingebrochen worden ist?«, schnaubte Frau Dormann wütend. »Nur weil ich Fritzi habe, ist mir selbst noch nichts Schlimmes passiert.«
Der Hund hörte seinen Namen und kam angesprungen.
Island beugte sich zu ihm herunter und streichelte seinen Rücken, doch Frau Dormann pfiff das Tier zurück.
»Komm, Fritzi, wir gehen.« An Island gewandt, sagte sie: »Wenn Sie sich noch weiter umsehen wollen, tun Sie sich keinen Zwang an.«
Sie ergriff ihren Hund am Halsband, das mit Strasssteinchen verziert war, und befestigte daran eine schmale, vergoldete Lederleine. Viel schneller, als Island es ihr zugetraut hätte, lief sie mit trippelnden Schritten an der Reithalle entlang in Richtung See, bis sie mit beachtlichem Hüftschwung zwischen den Bäumen der Allee verschwand.