37

Zurück auf ihrem Zimmer im Gutshaus, sperrte Olga Island die beiden Fenster auf und atmete tief durch. Die Mittagssonne schien auf den Rasen des englischen Landschaftsgartens, und die Schatten der Bäume gaben der gestalteten Landschaft ein bühnenbildhaftes Aussehen. Von der Terrasse drangen Stimmen herauf. Island lugte über die breite Fensterbank hinunter. Auf dem großen Holztisch standen wieder die Reste eines späten Frühstücks. Die jungen Leute, Island zählte drei Jungen und zwei Mädchen, fläzten sich in die Polster der Flechtsessel. Nur Thoralf Bruns saß aufrecht auf einem Stuhl an der Stirnseite des Tisches.

Island nahm auf dem Sofa unter den geöffneten Fensterflügeln Platz, legte die Füße auf die Armlehne und spitzte die Ohren.

»Wann haben Sie Cord Petersen das letzte Mal gesehen?« Bruns’ Stimme war klar und deutlich zu verstehen.

»Keine Ahnung.«

»Den kenn ich gar nicht.«

»Der Typ aus dem Stall, Mensch.«

»Ach so, der ist tot?«

»Hat er nicht gestern noch den Pool geschrubbt?«

»Das hat der doch jeden Abend gemacht.«

»Stimmt. Kann sein.«

»Wer achtet schon darauf, was das Personal macht?«

»Also, ich nicht.«

»Wer von Ihnen hat denn mit Cord Petersen gelegentlich doch mal ein paar Worte gewechselt?«

Stille.

»Also niemand?«

»Ganz selten«, sagte eine dünne, weibliche Stimme. »Wenn wir reiten wollten, hat er uns mit den Pferden geholfen.«

»Satteln und Auftrensen«, sagte das andere Mädchen.

»Und die Herren?«

Es entstand eine Pause.

Bruns räusperte sich ungeduldig.

»Und wie war das bei Jon Theissen?«

»Kenn ich auch nicht.«

»Doch, klar kennst du den.«

»War doch nur ein Feriengast.«

»Was sollen wir mit dem denn zu tun gehabt haben?«

»Haben Sie etwas im Zusammenhang mit diesem Feriengast beobachtet?«, wollte Bruns wissen. »Hatte er Streit?«

»Nein.« Island erkannte die Stimme von Tüx junior. »Wie kommen Sie denn darauf? Hier hat keiner Stress mit irgendwem.«

»Was können Sie mir zu Lissy Heinke sagen?«

»Oho, die süße Lissy.«

»Von uns hat die keiner vernascht.«

»Die hat sich abgesetzt.«

»Jon Theissen war hinter ihr her.«

»Was heißt das?«

»Na, dass er scharf war auf sie. Und da war er ja nicht der Einzige.«

»So, wer denn noch?«

»Halt die Klappe«, drohte Paul-Walter.

Nervöses Lachen erklang.

»Wieso, Lissy ist doch voll das Schnittchen.«

»Wo hält sie sich jetzt auf?«

»Hamburg, Straßenstrich.«

Wieder ein derbes Gelächter.

»Du bist echt ’ne Sau, Tom.«

»Nee, aber ich hab wirklich keine Ahnung, wo sie abgeblieben ist.«

»Könnten Sie dann bitte noch mal im Ernst sagen, wer von den Herren an Lissy interessiert war?«

»Cord Petersen!«

»Tatsächlich?«

»Dem lief der Sabber aus dem Mund, wenn er sie nur sah.«

»Haha.«

»Doch, so war’s.«

»Gibt es sonst etwas, was die Polizei wissen sollte?«

Schweigen.

»Sie müssen es nicht hier vor der Gruppe erzählen. Aber jedes Detail kann hilfreich sein.«

Wieder keine Antwort.

»Sollte es noch irgendetwas zu sagen geben, rufen Sie mich bitte an. Keiner möchte, dass hier noch mehr passiert.«

»Wir sind sowieso bald weg,« sagte eine der jungen Frauen. »Wenn meine Mutter hört, was hier abgeht, schickt sie sofort ihren Fahrer los und lässt mich abholen.«

»Was Sie nicht hindern sollte, mit mir in Kontakt zu treten, wenn Ihnen noch was einfällt«, sagte Bruns.

Stühle und Sessel wurden geschoben, die Tassen auf dem Holztisch klirrten. Für kurze Zeit wurde es still auf der Terrasse. Dann kam von unten leises Flüstern. Island richtete sich auf und sah hinunter. Zwei Jungen waren am Tisch sitzen geblieben, Paul-Walter und ein Junge mit blondem Wuschelkopf.

»Verdammt, Tom, was denkt dieser Bulle? Etwa, dass wir uns mit Petersen die Finger schmutzig gemacht haben?«, fragte Paul-Walter.

»Sollen wir das Projekt jetzt stoppen?«

»Quatsch.«

»Morgen ist Neumond.«

»Wir hätten es schon längst durchziehen sollen.«

»Aber wenn die Mädels jetzt abreisen …«

»Bleib einfach cool. Das schaffen wir auch ohne die.«

»Aber die Bullen rennen hier überall rum.«

»Genau deswegen warten wir nicht mehr länger.«

»Und wenn die schon alles wissen?«

»Sieht es etwa so aus?«

»Nein.«

»Na, also.«

»Aber jetzt, wo Cord … ich meine … voll krass, oder?«

»Don’t panic!«

»Dann bleibt es also dabei?«

»Klar, der Seeweg nach Indien.«

»Der Seeweg nach Indien.«

Wieder wurden Stühle gerückt, Turnschuhe tapsten über die Terrakottafliesen. Island beugte sich noch weiter vor. Paul-Walter Tüx und der schlaksige, blonde Tom liefen die Freitreppe hinab, gingen am Pool entlang und dann mit wiegenden Schritten über den Rasen in Richtung Mühlenhaus. Island überlegte, ob sie ihnen folgen sollte, verwarf den Gedanken aber. Der Seeweg nach Indien. Was meinten die denn damit?

Ein Codewort? Aber wofür? Ein Spiel? Die Stimmen der beiden hatten dafür zu ernst geklungen.

Island hielt sich den Bauch. Sie überlegte, ob es Sinn hatte, ins Verwalterhaus hinüberzugehen und auf ein Mittagessen zu hoffen. So fertig, wie Lena von Dünen am Morgen ausgesehen hatte, war es unwahrscheinlich, dass sie etwas gekocht hatte. Island tröstete sich mit der Aussicht auf ein fischreiches Abendessen zusammen mit Henna Franzen am Westensee. Trotzdem wäre ein kleiner Happen zwischendurch nicht schlecht gewesen. Sie beschloss, nach Frau Markowich zu suchen und sie um eine Kleinigkeit zu essen zu bitten.

Das Fenster am Ende des Ganges stand offen. Die Luft, die hereinströmte, war warm und roch aromatisch nach Holzfeuer und alten Zeiten. Eigentlich komisch, Feuer bei der Hitze, dachte Island und blickte nach draußen über den Hof, um die Quelle des Geruchs zu erspähen, konnte aber keinen Rauch entdecken. Leicht beunruhigt ging sie den Gang zurück, um die Räume zu überprüfen. Alle Türen waren verschlossen – bis auf die letzte am Ende des Ganges. Ein Gästezimmer, offenbar ungenutzt, der brenzlige Geruch war hier noch stärker. Eine Wendeltreppe innerhalb des Raums führte nach unten. Heizte jemand einen Ofen ein?

Leise ging Island die Treppe hinunter. Der Rauchgeruch wurde noch stärker. Sie gelangte in einen Salon mit apricotfarbenen Seidentapeten und einem Roulettetisch. In der einen Ecke des Zimmers stand ein alter Kachelofen, der bis zur Decke reichte. Island berührte ihn, aber er war kalt. Eine Tür führte in einen weiteren Raum mit Parkettboden und antiken Stühlen, die wie in einem Tanzsaal an den Seitenwänden aufgereiht standen. An der Längsseite befand sich ein offener Kamin. Unter dem Sims stieg eine dünne Rauchsäule empor, die sich träge unter der Stuckdecke verwirbelte. Wahrscheinlich gab es ein Problem mit dem Rauchabzug, weil irgendetwas den Schornstein verstopfte. Auf dem Rost im Kamin lagen ein paar glimmende Stücke Holz und verkohlte Papierstücke.

Island kniete nieder und betrachtete die schwarzen, verbrannten Fetzen. Ohne sie zu berühren, versuchte sie die Buchstaben zu entziffern. Die Handschrift war etwas ungelenk, aber deutlich zu lesen. »1 Million Euro«, las sie, und »bis morgen« und »sonst auf youtube«. Sie starrte auf die Schriftzeichen. War das ein Erpresserschreiben, oder konnte man den Text auch anders interpretieren? Vorsichtig zog sie ihr Handy aus der Tasche und machte, so gut es ging, ein paar Fotoaufnahmen. Dann kramte sie ein Taschentuch hervor, löschte damit die restlichen Glutfunken und bugsierte die verkohlten Papierreste in die Plastikhülle der Taschentuchverpackung. Das war sicher nicht die geschickteste Art, ein Beweisstück zu sichern, trotzdem verstaute sie das Ganze vorsichtig in ihrer Handtasche.

Plötzlich hörte sie Schritte.

Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island
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