16
Gegen halb eins klopfte es an Islands Tür, und Jan Dutzen steckte den Kopf herein. Warum sah er eigentlich gerade so verdammt gut aus? Lag das an seiner leichten Sonnenbräune, oder ging es ihm einfach gerade so blendend, dass er vor Glück und Energie strahlte? Er schwenkte ein Blatt Papier.
»Das ist bei mir gelandet. Scheint so eine Art Drohbrief zu sein. Kannst du damit etwas anfangen?«
Island nahm das Fax, warf einen Blick darauf und stopfte es in die Aktenablage. »Das kommt von meinen neuen Freunden von der Landgendarmerie in Achterwehr.«
»Während wir uns hier unter höchster Gefahr abarbeiten, treibst du dich also draußen in der Sommerfrische herum.«
Sie funkelte ihn an. »Keine schlechte Idee. Vielleicht sollte ich das wirklich tun.«
»Was genau?«
»Urlaub auf dem Land machen.«
»Du eingefleischte Großstadtpflanze?« Er musterte sie mit echtem Erstaunen. »Wie wäre es, wenn wir erst mal was essen gingen? Oder hast du schon gegessen?«
»Ich dachte an Picknick am Schreibtisch.«
»Du brauchst was Richtiges! Oder besser gesagt: ihr beiden.«
»Da lassen wir uns doch nicht lange bitten.«
»Denn mal los.«
Die Pizzeria am Dreiecksplatz war noch fast leer. Ein paar Kollegen von der Polizeidirektion saßen hinten in einer Ecke und unterhielten sich leise. Island und Dutzen nahmen einen Tisch am Eingang und bestellten beide dasselbe: Steak, Kroketten und Salat vom Büfett.
Zuerst sprachen sie über den Fall am Ostuferhafen, dann unterhielten sie sich über die »landeskundliche Studienfahrt«, den jährlichen Betriebsausflug von Mordkommission und Spurensicherung, der im August stattfinden sollte. Bisher hatte sich die Belegschaft noch nicht auf ein Ziel geeinigt. Es gab interessante Möglichkeiten. Die Waffenfabrik von Sauer und Sohn in Eckernförde war im Gespräch oder der Munitionsräumdienst in Groß Nordsee.
»Das sind richtig toughe Jungs da«, sagte Dutzen.
»Bei dem Job weißt du morgens nicht, ob abends noch alle Körperteile dran sind«, meinte Island.
»Wissen wir aber auch nicht.«
»Die sind schon superfit, da passiert doch praktisch nie ein ernsthafter Zwischenfall.«
»Solche Nerven hätte ich auch gern.«
»Wahrscheinlich haben sie einfach keine«, bemerkte Island.
Dutzen lachte.
Als sich Island das zweite Mal Salat vom Büfett holte, klingelte ihr Handy. Es war Tante Thea.
»Olga, wo bist du?«
»Im San Remo, wenn du dich noch erinnern kannst, wo das ist.«
»Da bin ich ja ganz in deiner Nähe!«, rief Thea erfreut. »Ich komme gleich vorbei.« Sie legte auf.
Island schüttelte den Kopf und kehrte mit einem Teller Tomatensalat an ihren Platz zurück. Dutzen schob sich ein weiteres Stück Steak in den Mund und kaute vergnügt.
»Was machst du eigentlich nach Feierabend?«, fragte sie. »Du siehst so durchtrainiert aus.«
Er lächelte, sichtlich geschmeichelt. »Schwimmen, in Katzheide. Wir üben für den Fördetriathlon, Henna Franzen und ich.«
Island verschluckte sich an einem Stück Zwiebel und kämpfte mit dem Hustenreiz. Davon hatte ihre Kollegin gar nichts erzählt.
»Ach so«, sagte sie betont gleichgültig.
»Und was machst du so, wenn du abends freihast?«
Es war irgendwas in seinen Augen, die Art und Weise, wie er sie ansah, die sie manchmal irritierte. Es war ein aufrichtiges und für seine Verhältnisse viel zu spürbares Interesse an dem, was sie sagte. Wann hatte das angefangen? Sie hätte es nicht sagen können.
Es war so wie mit diesen Matratzen aus viskoelastischem Schaum. Wenn man sich drauflegte, fühlte man sich von ihnen angesaugt, angezogen, verschluckt. Nicht nur, wenn sie mit Jan Dutzen allein war, hatte sie das Gefühl, dass er über magnetische Kräfte verfügte. Gerade wenn er nicht da war, empfand sie manchmal beinahe etwas wie Sehnsucht. Aber sicher doch nicht nach dem wirklichen Jan, dachte sie verwirrt, wahrscheinlich eher nach einem männlichen Wesen im Allgemeinen. Wenn der dusselige Lorenz nicht bald nach Kiel kam, würde sie noch anfangen, Dummheiten zu machen – Schwangerschaft hin oder her. Mann, Mann, Mann, dachte sie, wann hatte ich eigentlich zuletzt so chaotische Gefühle?
»Ich geh auch gern mal ein bisschen planschen, aber lieber im Meer«, sagte sie jetzt leichthin. »Im Wasser hab ich ja Auftrieb. Ungefähr wie ein Walross.«
Sie grinsten sich an.
Dann sah er auf seinen Teller und schob die übrig gebliebenen Salatblätter zur Seite. »Wenn du Lust hast, könnten wir vielleicht mal zusammen an den Strand oder so …«
Sie nickte, aber dann dachte sie daran, wie toll es wohl aussah, wenn sie dort ihre Stützstrümpfe auszog und ihren Walrossbauch freilegte. »Zurzeit habe ich Besuch aus Berlin«, erklärte sie. Sie sah das Zucken seiner linken Augenbraue und fügte schnell hinzu: »Von meiner Tante. Sie ist ziemlich spontan, da weißt du nie, was du abends vorhast.«
»Klar.«
Wie auf Kommando wurde die Tür aufgerissen, und Tante Thea stürmte in das Lokal. Sie winkte wild mit den Armen, an denen jede Menge große Einkaufstüten hingen.
»Wenn man vom Teufel spricht.«
Thea stürzte auf Olga zu und küsste sie auf beide Wangen. Dann nickte sie zu Dutzen hinüber und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. »Guten Tag. Sehr erfreut!«
Sie hatte die sportliche Nordic-Walking-Garderobe gegen ein kurzes Sommerkleid getauscht und trug dazu ein seltsames Strohhütchen.
»Ich bin gerade die Holtenauer entlanggegangen«, schnatterte sie. »In den meisten Boutiquen ist schon Schlussverkauf.«
»Man sieht es. Wie willst du denn mit dem ganzen Kram nach Hause kommen?«, fragte Olga.
»Mit dem Taxi!«
Früher, bevor Tante Thea nach Berlin gezogen war, hätte sie sich den Luxus einer Taxifahrt nie und nimmer geleistet. Der Umzug hatte sie verändert, sie war geradezu mondän geworden.
Dutzen tupfte sich wohlerzogen den Mund mit einer Serviette ab, etwas, was man sehr selten bei ihm sah.
»Muss leider schon wieder«, sagte er entschuldigend. »Die Pflicht ruft.«
Er zwinkerte Olga zu und schenkte Thea ein liebenswürdiges Lächeln. Leicht verbittert dachte Olga daran, dass er mit Henna Franzen schwimmen ging und die es ihr gegenüber nicht ein Mal erwähnt hatte. Fördetriathlon, das war ja lächerlich.
Kaum war Dutzen verschwunden, beugte Thea sich auch schon neugierig über den Tisch.
»Wer war der junge Mann?«
Island nippte an ihrem Milchshake. »Mein Kollege Jan Dutzen.«
»Ach, der Jan?«
»Thea, lass den Quatsch«, sagte Island verstimmt. »Was hast du so Wichtiges auf dem Herzen, dass du hier in meiner Mittagspause aufkreuzt?«
»Erst mal brauche ich was zu essen.«
Thea durchforstete die Speisekarte. Nachdem
sie den Kellner ausführlich mit Nachfragen zu den einzelnen Speisen
beschäftigt und schließlich doch nur eine Pizza Margherita bestellt
hatte, sah sie ihre Nichte triumphierend
an.
»Ich war heute Vormittag nicht untätig. Ich habe alles erledigt, was du mir aufgetragen hast. Meine alte Bekannte Luise wohnt leider nicht mehr auf Kreihorst. Stell dir vor, der neue Eigentümer des Hofes, so ein stinkereicher Sack, hat Luises Mann einfach rausgeschmissen. Dabei hatte der über dreißig Jahre auf dem Hof als Verwalter gearbeitet. Herbert und Luise hätten nicht mehr auf den Hof gepasst, hat der arrogante Typ behauptet. Sie mussten auch sofort aus dem Haus ausziehen, in dem sie schon so viele Jahre gewohnt haben. Stattdessen hat jetzt ein Biolandwirt mit seiner Familie die Verwaltung von Gutshof und Ländereien übernommen. Luise kommt gar nicht darüber hinweg, so abgefertigt worden zu sein.«
»Nett ist das nicht.«
»Aber Luise hat mir erzählt, dass die neue Verwaltersfrau auch wieder privat Zimmer vermietet. Sie heißt Lena von Dünen und steht im Telefonbuch von Achterwehr. Man kann sie also anrufen.«
Olga holte sich einen Apfelstrudel mit Vanillesoße vom Büfett und überlegte, ob sie schon satt war. Ein kleines Sahnehäubchen hätte auch noch reingepasst.
Thea bekam die Pizza serviert und begann, sie in kleine Stücke zu zerschneiden.
»Genau das habe ich natürlich getan«, fuhr sie fort. »Und ich muss sagen, dass sie sich am Telefon ganz nett angehört hat. Und stell dir vor: Zufällig ist bei ihr gerade ein Ferienzimmer frei geworden!«
»Toll.«
»Nicht wahr? Ich habe ihr erzählt, dass du schwanger bist und dringend noch mal ausspannen musst vor der Niederkunft. Natürlich unbedingt auf einem Biohof! Dafür hatte sie größtes Verständnis. Die Zimmer sind übrigens für Allergiker geeignet, haben alle einen Internetanschluss und sind trotzdem frei von Elektrosmog.«
»Puh«, sagte Island.
»Man kann den Strom im Zimmer nachts komplett abschalten.«
»Super. Und was kostet der Spaß?«
Thea nannte den Preis für eine Woche. Olga pfiff durch die Zähne. Für das Geld fuhren andere Leute für drei Wochen nach Mallorca. Gehobene Preisklasse für Urlaub in der Region, dachte Island. Dafür ist die Anfahrt nicht so weit.
»Du bekommst Vollpension mit Bioessen, auf Wunsch ein Leihfahrrad, und wenn du möchtest, kannst du rudern oder dir ein Kajak ausleihen. Und übrigens, Frau von Dünen war Köchin in einem Nobelhotel in Hamburg, bevor sie mit ihrem Gatten und den drei Kindern aufs Land gezogen ist. Nun bereitet sie das Essen für die Herrschaften Tüx zu und für ihre eigenen, bescheidenen Feriengäste.«
»Da werde ich gleich noch mal fünf Kilo zulegen.«
»Wenn du so weiterfutterst, habe ich nicht den geringsten Zweifel daran.« Thea lachte schallend.
Nach dem Essen füllte Island einen Urlaubsantrag aus und begab sich damit zu ihrem Vorgesetzen. Thoralf Bruns las das Schreiben, sah auf und musterte sie leicht besorgt.
»Alles in Ordnung bei dir?«
»Bestens.«
»Eine Woche Urlaub?«
»Hab Besuch aus Berlin.«
Er nickte und unterschrieb ohne weitere Fragen.
»Viel Spaß und gute Erholung«, sagte er.
»Danke«, entgegnete Island. »Ich hätte aber noch eine Bitte. Wenn es Neuigkeiten aus Achterwehr geben sollte, lässt du es mich dann bitte trotzdem wissen?«
Er schien in Gedanken schon wieder ganz woanders zu sein.
»Sind dir die Kollegen da so ans Herz gewachsen?«, fragte er und reichte ihr den Urlaubszettel. »Spann noch mal richtig aus, das wird dir guttun.«